Leben in vielen Rollen Und wie es sich organisieren lässt: Über Die Beunruhigung von Lothar Warneke und Helga Schubert
Einmal nur erwähnt Helga Schubert in ihrem autobiografischen Geschichtenband Vom Aufstehen Lothar Warnekes DEFA-Spielfilm Die Beunruhigung (1982), für den sie ihr erstes Drehbuch schrieb. Das Kapitel trägt den Titel «Das alles nicht, nichts davon» und verhandelt das Thema einer möglichen DDR-Schriftstellerinnen-Identität – eine Frage, die von einem deutschen Literaturprofessor an Schubert herangetragen und von ihr gemäß dem Bibelspruch «Deine Rede sei Ja Ja, Nein Nein» beantwortet wird:
«Ja. Notgedrungen, eine Zuordnung von außen, eine Etikettierung, schließlich wollten Germanisten eine Doktor- oder Habilarbeit schreiben, schließlich wollten Ideologen beweisen, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt: In der DDR unter diesen definierten Umständen leben, schreiben, in die Öffentlichkeit streben muss einfach eine DDR-Schriftstellerinnen-Identität gebären.
Ja. Im Sinne Tucholskys: Ich als … –
Ich lebte in vielen Rollen. Ich als Mitglied der Evangelischen Kirche …
[…]
Nein: Als ich von der Biennale-Leitung Venedig (mit meinem Spielfilm Die Beunruhigung 1982) extra in dem Hotel untergebracht wurde, in dem Der Tod in Venedig spielt, geschah das mit der Begründung, dass ich als deutsche Schriftstellerin das als Verbeugung vor Thomas Mann verstehen soll.»
«Ja Ja, Nein Nein» zum Antwortprinzip zu erheben, bricht mit der Perspektive, die Wahrnehmung auf einen Nenner zu bringen. Anhand von widersprüchlichen Beispielen verweigert sich der Text einer Eindeutigkeit und entwirft ein dynamisches Selbstverständnis, das durch konkrete Situationen bestimmt ist. Das Ich als komplexe Anordnung, als Vielfalt von Fremd- und Selbstwahrnehmung, aus verschiedenen Köpfen und Wahrnehmungsinteressen gedacht. Wie in anderen DEFA-Produktionen der Zeit ist es eine Frau – Christine Schorn in ihrer großen Rolle –, die in Die Beunruhigung um Autonomie ringt. Die Paartherapeutin Inge Herold lässt sich kaum auf einen Begriff bringen; auch sie lebt in vielen Rollen. Inge ist «glücklich geschieden», hat als alleinerziehende Mutter einen pubertierenden Sohn und eine Romanze mit einem verheirateten Mann. Trotz staatlich propagierter Emanzipation scheint es nicht ganz einfach, Erziehung, Berufstätigkeit und Liebesleben zu vereinbaren. Als sie mit der Möglichkeit konfrontiert wird, Brustkrebs zu haben, beunruhigt nicht nur die Angst vor Krankheit und Tod, sondern auch jene vor einem falschen Leben.
Bevor Inge Herold am nächsten Tag die Klinik aufsuchen wird, führt sie ihr Weg ins Palast-Hotel, ins Centrum-Warenhaus am Alex, ins Gerichtsgebäude in der Littenstraße, in die Kantine des Berliner Ensembles und schließlich in eine Altbauwohnung. Von einer Leichtigkeit des Flanierens kann angesichts der Diagnose keine Rede sein – wohl aber von einer geschärften Wahrnehmung. In der Handlungszeit von nur einem Tag trifft Inge Verwandte, Bekannte, alte, lange nicht mehr gesehene Schulfreunde. Trotz seiner episodenhaften Erzählstruktur folgt der Film einer zentripetalen Logik: Die Gespräche kreisen um die immer gleiche, banale und komplizierte Frage, wie sich ein Leben – auch ein Zusammenleben – organisieren lässt. Die vielen halbtotalen Einstellungen sind, insbesondere in den Dialogszenen, recht lang – die Kamera beobachtet, was sich entwickelt, und verortet Inge im sozialen Umfeld.
Nicht alle von Inges Begegnungen sind gleichermaßen konzentriert und dicht, manche Motive wiederholen sich, aber in ihren besten Momenten erreicht Christine Schorn eine schnodderige Grandezza und der Film eine beiläufige Dringlichkeit, die vor allem durch eine erfrischende, ungewohnt spontan wirkende Spiel- und Sprechweise erzeugt wird. Die ungeschliffenen Dialoge haben einen authentischen Tonfall – oft wird dezent berlinert und manches Wort ist undeutlich dahingenuschelt. In dem wirklichkeitsgebundenen, teilweise improvisierten Sprechen artikuliert sich eine Suchen nach dem, was man eigentlich sagen will und sagen muss, wobei man nicht weiß, ob das jetzt auch so geht und ob man es kann, ob es die richtige Zeit ist, das richtige Wort, der richtige Ort, der richtige Satz.
Niemandem erzählt Inge vom Grund ihres bevorstehenden Krankenhausaufenthalts. Der Zustand der Einsamkeit wird nicht nur figurenpsychologisch, sondern auch ästhetisch ausagiert: Programmatisch ist der Low-Budget-Film in Schwarzweiß gedreht, Ostberlin oftmals entleert, das Licht spärlich fahl, das Farbspektrum auf Grautöne geschrumpft. Der Verzicht auf die Leinwandattraktion des Farbfilms zugunsten einer unprätentiösen Schwarzweißästhetik hatte nicht nur ökonomische Gründe. Die Welt im Film schwarzweiß zu zeigen, ist eine bewusste Entscheidung für eine Ästhetik der Armut. Damit verbindet sich auch die Frage nach der Wirkungsweise, die dieser Bevorzugung der unbunten Farben zugrunde gelegen haben mag, die Anfang der 1980er Jahre einer rigorosen Farbbeschränkung entspricht. Die Wirklichkeit eigentlich verfremdend, erzeugte das Schwarzweiß lange einen realistischeren Anschein. An dieses Paradox knüpft Warneke mit seinem Film an.
Außerhalb der Studiokünstlichkeit wurde Die Beunruhigung an Straßenschauplätzen und in Originalinterieurs gedreht; so auch in Helga Schuberts Wohnung: einerseits die billigste Produktionsform, anderseits eine realbiografische Grundierung, da die Szenaristin selbst als Paartherapeutin arbeitete. Die Grenze zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem wird auch auf einer anderen Ebene suspendiert: Laiendarsteller:innen spielen sich selbst und bringen ihre beruflichen Erfahrungen in den Film ein, so wie der Inge routiniert behandelnde Arzt, auf dem Warneke bestand, um den Grad der Authentizität von Szenen im medizinischen Bereich zu erhöhen.
Seine Form begegnet dem Film unterwegs, Thomas Plenerts dokumentarisch anmutende Handkamera liest sie auf, nimmt sie mit, so wie Warneke seine Laiendarsteller:innen aufliest. Viele Einstellungen zeigen Inge symbolträchtig im Transit – weder hier noch da, sondern in Treppenhäusern, Fluren oder auf Fahrten. Sie ist permanent unterwegs, mit der Tram, in der S-Bahn, zu Fuß. Unterwegs ist sie einer Fremdwahrnehmung ausgesetzt, die asynchron neben ihrer Selbstwahrnehmung liegt. Beim Besuch ihrer Mutter, die die Lebens- und Berufswahl ihrer Tochter missbilligt, beharrt Inge auf Selbstbestimmung. Ihr Widerstand gegen soziale Standards zeigt sich gegenüber der Richterin Katharina, einer ehemaligen Klassenkameradin, die ein sozialistisches Modellleben mit «Auto, zwei Kindern, noch dem ersten Mann» führt, Inges Scheidung als Misserfolg wertet und im Gegensatz zu Inge den Kontakt zu einer «republikflüchtigen» Klassenkameradin aus beruflichen Gründen abgebrochen hat. Noch vor ihrer eigenen Brustkrebsdiagnose kritisiert Inge die systemkonforme Position eines Kollegen, der als Anhänger der hippokratischen Ethik ein paternalistisches Arzt/Patient-Verhältnis propagiert und den wahren Krankheitszustand von Patient:innen nicht offenlegt.
Bei mancher Szene könnte man sich wundern, was da alles die Zensur passierte. Doch von Beginn an ist Warnekes Film insofern determiniert, als Die Beunruhigung mit ihrem Schluss beginnt: Noch während des Vorspanns sehen wir, wie Inge räkelnd aufwacht, ins Bad geht und ihr beim Ankleiden eine Brust fehlt. Dann wird das Bild bald blurry und die große Rückblende beginnt. Der Anfang ist das Ende. Genauer lässt sich von einer Vorzeitigkeit in der Zeitform des Futur II sprechen, insofern ein in der Zukunft liegendes Fazit gezeigt wird: Eine Frau wird genesen sein. Als harmonisierende Rahmung wattiert diese dramaturgische Entscheidung eine existenzielle Melodramatik und entschärft gesellschaftskritische Töne.
Die Beunruhigung ist bei Icestorm Media auf DVD erschienen