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Ephraim Asili «Black Anarchy ist das Endgame»

Von Bert Rebhandl

Mit seinem Film The Inheritance schließt Ephraim Asili an Godards La chinoise und an die revolutionäre Politik von 1968 an, adaptiert sie aber für die Belange des afroamerikanischen Aktivismus. Ein Gespräch über postkoloniale Sozialismen, Jazz und die Frage, ob es sich lohnt, für Joe Biden zu stimmen

 

© Mike Bello (courtesy of Ephraim Asili)

 

Ephraim, wir sprechen via Zoom. Ich sehe im Hintergrund eine beachtliche Plattensammlung. Auch in The Inheritance spielen Schallplatten eine große Rolle. Aus eigenen Beständen? Wäre das auch ein Aspekt der Erbschaft, von dem der Filmtitel spricht?

Hinter mir sieht man definitiv, dass ich ein Sammler bin. Mich haben immer materielle Dinge beschäftigt, historische Materialien, ephemere Dinge, alte Bücher, Poesie. The Inheritance sollte auch ein Film dieser Gegenstände sein, die mir so viel bedeuten. Und so habe ich nach einer erzählerischen Idee gesucht, an der ich das aufhängen konnte. So ergab sich der Titel: Ein Mann erbt ein Haus von seiner Großmutter, in dem sich dieses ganze Zeug findet. Das ist der buchstäbliche Sinn des Titels. In einem weiteren Sinn interessiere ich mich dafür, was dieses Zeug so faszinierend macht. Für mich stellt es die Verbindung zu einer früheren Generation von Künstlern, Denkern, Aktivisten dar. Damals gab es einen Appetit für Aktivismus. Wie kann eine heutige Generation so etwas «erben»? Über diese Themen habe ich die ganze Zeit nachgedacht. The Inheritance war die ganze Zeit mein Arbeitstitel, und am Ende sah ich keinen Grund, einen anderen zu suchen.

Ist das revolutionäre Kino rund um 1968 auch Teil dieser Erbschaft?

Klar. Das war eine Ära der Kunst, in der zwar offen Agitprop gemacht wurde – was aber nicht heißt, dass das keinen ästhetischen Wert hatte. Oft wurde dieses Kino wegen der politischen Absichten dahinter abgetan als zu didaktisch. Heute aber liest man das, glaube ich, wieder anders. Manches erscheint mir auch filmisch deutlich weiter zu sein, als man das damals sehen wollte. Ich sehe das alles als eine verbundene Erbschaft.

In Godards La chinoise, auf den Sie sich offensichtlich beziehen, war es eine großbürgerliche Wohnung. In The Inheritance ist es ein Haus in Philadelphia, in dem sich ein Schwarzes Kollektiv gründet.

In der Zeit, in der die Geschichte spielt, war ich Anfang zwanzig. Damals gab es diesen alten Hippie Land Trust, der in West-Philadelphia einige Immobilien besaß, und bei dem die Leute darauf Wert legten, diese Immobilien an Aktivisten weiterzugeben. Da konnte man sich für ein Haus qualifizieren, und so bekam auch ich eines, gemeinsam mit meiner damaligen Frau und einer anderen Person. Ich war damals stark mit der MOVE Organisation verbunden, die auch gleich nebenan war. Unser Haus wandte sich ganz ausdrücklich an Aktivisten of color. In unserem Kollektiv schwirrten alle möglichen Philosophien herum. Es gab da richtiggehend Bewerbungsgespräche, und wir wollten von allen wissen: Wie verstehen Sie Ihren Aktivismus?

Interessant, ich hatte gar nicht bemerkt, dass der Film nicht ganz in der Gegenwart spielt.

Als ich das Drehbuch schrieb, war es eine Art Autobiografie über die Jahre in etwa 2000 bis 2006. Der Film soll aber in keiner genau definierten Zeit spielen. Ich habe im Grunde einige Mühe auf mich genommen, um Zeitangaben draußen zu halten.

Man sieht einmal ein Mural aus den 90ern, dessen Restaurierung mit 2006 datiert ist. Das ist, soweit ich mich erinnere, das einzige konkrete Datum.

Es gibt auch eine Szene, in der ich meine Regel breche, denn einmal gibt es drei Aufnahmen von Protesten aus den letzten paar Jahren. Da wird es für einen Moment gegenwärtig. Insgesamt aber sollte es zeitlich mehrdeutig bleiben.

Zu Beginn packt Julian, der Erbe, Kisten aus, voller Bücher und Platten. Das sind also Ihre Sachen im wesentlichen?

Ausschließlich. Das kommt alles von mir. Für das Set Design habe ich meine Wohnung ausgeräumt und ins Studio gebracht. Alles Dinge, mit denen ich schon lange gelebt habe, und die ich auf Flohmärkten und in Plattenläden über die Jahre gekauft habe.

Was die Bücher anlangt, gewinnt man den Eindruck einer sehr umfangreichen und sorgfältig kuratierten Bibliothek afroamerikanischer Literatur und politischer Theorie aus vielen Jahrzehnten.

In den späten 90er Jahren habe ich mit dem Sammeln begonnen. In den letzten fünf oder zehn Jahren hat das eine neue Dimension angenommen. Es hat sich beschleunigt, seit ich das in meine Filme einbringe. Bevor ich als Filmemacher meine ersten Erfolge hatte, war ich vorwiegend ein DJ, das bin ich auch bis heute. Ich war dauernd in Plattenläden. Die meistgesuchten Platten in Philly sind immer noch Sun Ra-Platten. Ich konnte sie mir damals nicht leisten, fühlte mich damit aber stark verbunden, auch im Sinn eines Erbes. Aber die Objekte waren unerreichbar. Das war noch die Zeit vor dem Internet, da konnte man sich das nicht einfach irgendwo im Netz anhören, vieles gab es nicht auf CD. Ich war immer schon von der Idee eingenommen, ein persönliches Archiv zu haben. Für einzelne Stücke habe ich Hunderte, manchmal sogar mehr als tausend Dollar bezahlt. Heute ist das alles ganz leicht erreichbar.

Einmal sieht man ein Album von Max Roach und daneben ein Tonband: eine medienhistorische Collage beinahe.

Das gehört zu diesem Fokus auf materiale Kultur. Ich sage mir immer: In einem Film ist kein Bild, das ohne Bedeutung ist. Wenn ich einen Kassettenrekorder filme, ist das fast wie eine Figur. Medien wurden im Lauf der Geschichte moduliert und kommen wieder an die Oberfläche. Der Film gibt ihnen einen weiteren Zyklus.

Inwiefern könnten wir Julian als Ihr Alter ego im Film sehen, oder wäre das zu simpel?

Wow, große Frage. Es ist ziemlich gespalten. Was den Aktivismus anlangt, ist er eher ein Kommentar dazu, wie ich diese afroamerikanischen Communities in Philadelphia damals wahrgenommen habe. Ich traf viele junge Männer mit guten Absichten, die vielleicht nicht ganz arm waren, sie verfügten über Mittel und wollten damit etwas Sinnvolles tun, hatten aber keinen Plan. Das ist nicht böse gemeint, aber oft war es eben auch so, dass gleichzeitig Liebe oder Liebeswerben im Spiel war. Oft sind es die Frauen in der Welt des Aktivismus, die die tägliche Arbeit machen, die Ideen einbringen. Julian hat das Haus, er hat eine Idee, er will etwas tun, aber es sind die anderen Leute, die seine Idee auf eine andere Ebene heben. Bei den Kundgebungen sind oft acht von zehn Sprechern männlich, wenn man dann zu diesen Leuten geht und schaut, wer alles am Laufen hält, wer die Treffen organisiert, wer das Protokoll führt, dann sind die Frauen oft das Rückgrat. Was mich selbst anlangt: Der Spaß beim Schreiben des Films war gar nicht so sehr, zurückzugehen zu der Person, die ich damals war. Ich habe fast mehr von dem, der ich jetzt bin, in die Figur gelegt. Was ich jetzt über das Kino weiß und die Welt, wollte ich in eine frühere Situation versetzen. Ich habe damals beispielsweise keine Tarkowski-Filme geschaut oder nicht einmal Godard, ich war nicht so tief in diesem Kino drin. Es hat mich interessiert, eine Figur zu schaffen, die das hätte gewesen sein können. Auch eine Figur, die strenger ist, wenn es um die Ordnung im Haus geht, um Sauberkeit. Ich war nicht so gut organisiert. Der Schauspieler Eric spielt da auch hinein, er ist ein bisschen ein neatfreak, so hat sich das auch noch verstärkt.

 

© Mike Bello (courtesy of Ephraim Asili)

 

Julian ist zu Beginn eigentlich unbedarft. Er beginnt fast bei Null, indem er die Bücher der Großmutter auspackt. Durch Gwen, die er liebt und die er einlädt, in das Haus zu ziehen, erschließen sich ihm die Stücke erst allmählich. Und er lernt Dinge über die Communities in Philadelphia.

Genau. Ich wollte zeigen, wie sich Menschen politisieren. Das passiert oft sehr nebenbei oder zufällig, zum Beispiel im Verlauf einer Liebe, die sich entwickelt. Auch in einer Beziehung möchte man gemeinsam etwas tun.

Eines der ersten prominenten visuellen Motive ist ein Plakat von Shirley Chisholm, das Gwen an eine der leuchtend monochromen Wände hängt.

Shirley Chisholm hat 1972 als Schwarze für das Präsidentenamt kandidiert. Sie war sehr bekannt unter afroamerikanischen Kindern in den 80er und 90er Jahren, und für einen Zehnjährigen wie mich war das etwas sehr Kühnes und Intelligentes. Sie gilt sicher als links, war aber nicht radikal. Als ich den Film geschrieben habe, habe ich auch viel darüber nachgedacht, wie sehr sich der Diskurs in der amerikanischen Politik verflacht hat, sodass er eigentlich gar kein Diskurs mehr ist. Nur noch verbale Kämpfe. Mein jüngeres Selbst hätte Shirley Chisholm vielleicht als nicht revolutionär genug zurückgewiesen. Ich hatte ein Sweatshirt von ihr, das ich für die Figur von Gwen gedacht hatte. Und dann kam jemand zu mir und präsentierte mir dieses Material aus dem Wahlkampf, das ich in den Film aufgenommen haben: private Schwarzweißaufnahmen von Begegnungen während des Wahlkampfes mit Shirley Chisholm, das einem Media Center gespendet worden war. Und da war dann plötzlich eine Frau zu sehen, die ziemlich feurig wirkt und sehr pragmatisch, auch sehr bestimmt, wenn sie über das ego tripping in der Politik spricht. Da wurde mir klar, dass sie mehr war als eine moderate Linke, dass sie sich sehr bewusst positioniert hat, um zumindest etwas umsetzen zu können. The Inheritance soll ein Spektrum der Politik zeigen, nicht einfach ein Sprachrohr für das, was man als radikales Denken sehen könnte, von eher gemäßigten Positionen bis zu Amiri Baraka.

Chisholm folgte 1972 auf Eugene McCarthy, der 1968 der Hoffnungsträger der Progressiven gewesen war.

Ja, und vielleicht ging es bei ihr gar nicht so sehr darum, progressiv zu sein. Zum ersten Mal gab es mit ihr eine ausdrückliche Position zu race und gender in der Politik.

Das Material mit ihr ist für den Film sehr wichtig. Es verdankt sich einem Zufall.

Ich war zum richtigen Moment am richtigen Ort. In meiner Praxis bin ich für solche Dinge immer offen, ich lasse Raum für Dinge, die diesen dann füllen, das ist manchmal ein wenig geheimnisvoll, wie das dann geschieht. In diesem Fall war es definitiv ein Glücksfall (serendipitous), aber ich habe gute Grundlagen dafür gelegt.

Von Chisholm aus fällt deutlich auf, dass Barack Obama in The Inheritance keine Rolle spielt. Er ist für die erzählte Zeit des Films natürlich noch in der Zukunft …

Ich weiß auch gar nicht, was die Afroamerikaner gerade in Hinsicht auf ihre eigene Geschichte einmal von Barack Obama denken werden. Er war in vielerlei Hinsicht großartig, aber er hat mehr zu tun mit liberaler Politik als mit afroamerikanischer Kultur. In meinem Pantheon großer Schwarzer Denker ist er eigentlich nicht drin. Das wären Martin Luther King, Frederick Douglass, Malcom X, W.E.B. Du Bois. Obama hat sicher sehr viel erreicht. Er könnte nur in kritischer Form in meinem Film sein. Ich habe mich während der Jahre, in denen er Präsident war, oft mit ihm künstlerisch beschäftigt. Aber schon seine African-Americanness ist ja sehr speziell. Eine Mutter aus dem Mittleren Westen, dem weißesten Teil der USA, und sein Vater ein kontinentaler Afrikaner. Also ganz anders als bei mir, wo die Familie seit Hunderten Jahren ein Teil von Amerika ist. Er steht für eine Diaspora in der Diaspora. Ich würde mir aber sehr wünschen, dass er den Film sieht.

Das Haus und das Kollektiv stellt sich dann unter einen spezifischen Begriff: House of Ubuntu.

Das Haus brauchte natürlich einen Namen. Welchen, das habe ich dem Cast überlassen und den Meetings. Nozipho Mclean, die Darstellerin von Gwen, ist aus Südafrika, sie ist dort geboren und aufgewachsen, sie kam mit der Idee Ubuntu. Wir haben das lang diskutiert. Die Relevanz im Film liegt möglicherweise nur darin, dass ein junger Mann sich für so ein Label erwärmen hätte können. Ubuntu ist vielleicht gar nicht der beste Begriff für so ein radikales Kollektiv, da steckt vielleicht eine gewisse Naivität drin. Ubuntu betont einige Kreuzungspunkte, wir haben da auch wieder die Ambiguität von Sprache. Leute nehmen einen Begriff und machen daraus ihre eigene Agenda.

Auf jeden Fall aber ist Ubuntu ein spezifisch afrikanisches Konzept, bei dem man nach Entsprechungen im westlichen Denken suchen kann.

Historisch ist Ubuntu sicher spezifisch afrikanisch. Das Konzept steht für Koexistenz oder kollektives Leben. das könnten aber auch andere Begriffe sein. In einem Text von Nyerere, den wir im Film zitieren, heißt es, dass wir eine lange Geschichte von Sozialismus und Kommunalismus haben in Afrika. In Südafrika selbst ist es heikel, denn wörtlich übersetzt heißt es ja so etwas wie Ich bin du oder Ich existiere, weil du existierst. Das ist ein komplizierter Begriff in einer Gesellschaft, die durch Rassimus geprägt war, aber die Betonung des Tau­schens, des gemeinsam Habens, das ist ein afrikanischer sozialistischer Kontext für das Kollektiv gegenüber einem strikt marxistischen Sozialismus. Die Führer in der Entkolonialisierung hatten ihre eigene Lingo für ihre Konzepte von Kommunismus oder Sozialismus. Kwame Nkrumah hat andere Begriffe gehabt.

Inwiefern ist The Inheritance ein kollektives Projekt? Oder ist das Wesentliche doch von Ihnen?

Ich hatte ein ziemlich wörtlich ausformuliertes Drehbuch, vielleicht abgesehen von dem Teil über die Bewegung MOVE, da wusste ich nicht ganz genau, was sie sagen würden. Aber der Bogen der Geschichte war ziemlich klar. Das Schreiben war nicht das schwierigste, wichtig war mir nur: es sollte sich nicht geschrieben anhören, es sollte locker wirken. Deswegen vielleicht ein gewisser Eindruck von Improvisiertheit. Ich habe sechs, sieben Monate am Drehbuch gearbeitet und bin dann damit in einen Workshop mit den Schauspielern gegangen, habe ihnen Backstorys präsentiert, und sie haben sich die Figuren zu eigen gemacht. Während dieser Phase habe ich mir sehr detaillierte Notizen gemacht. Schließlich habe ich alle Teilnehmer am Workshop auch tatsächlich besetzt. Dann habe ich weitere sechs Monate geschrieben und hatte da schon im Kopf, für wen ich schrieb, für wen welcher Witz funktionieren würde und so weiter. Manche Schauspieler hatten auch andere Dinge zu tun, die mussten beim Drehen immer wieder mal weg. Sie mussten genau wissen, was sie sagen sollten und wo sie stehen oder sitzen oder gehen sollten. Da war viel Arbeit erforderlich, um an diesen Punkt zu kommen. Als wir schon fast fertig waren, habe ich manchmal nachts noch neue Szenen geschrieben. Aber so ein ‹Probieren wir etwas Verrücktes, vielleicht wird es im Film sein›: so war es nie. So wirkt es vielleicht, aber es war deutlich genauer geplant. 85 Prozent war geschriebener Dialog.

Der Workshop, von dem Sie sprechen, zielte schon auf den Film? Ich frage auch, weil The Inheritance ja Ihr erster Langfilm ist.

Ja, das lief schon auf den Film hinaus. Ich hatte meine kurzen Experimentalfilme in einem Performing Arts Center gezeigt, in der Nähe von mir. Es gibt einen Ort namens Ampact in New York, von diesen Leuten wurde ich zu einer Artist’s Residency eingeladen, so bekam ich ein bisschen Geld, um für einen Sommer nach Philadelphia zu gehen. Sie schlugen vor, das Drehbuch mit einer Gruppe von Schauspielern weiterzuentwickeln. Der Workshop bestand im wesentlich darin, dass wir den Text lasen, am Tisch sitzend. Am letzten Tag machten wir eine öffentliche Vorführung – mit der Szene, in der das Kollektiv diskutiert, ob die Dichterin Sonya Sanchez eingeladen werden soll. Diese Szene zeigten wir auch in einer öffentlichen Vorführung. Danach wurde ich gefragt: Möchtest du den Film in unserem Studio drehen? Ich sagte nein, ich wollte lieber on location drehen. Dann bekam ich aber kein Geld. So kam ich schließlich zu Ampact zurück, und habe The Inheritance in einem Studio in Troy, Upstate New York gedreht. Es waren ungefähr zwei Jahre, die dieser Prozess dauerte.

Sie leben also nicht mehr in Philadelphia.

Ich lebe in New York. Der Film ist vollständig in einem Blackbox Studio gedreht, also sehr weit entfernt, und dann bin ich nach Philadelphia gefahren, um dort die Außenaufnahmen zu drehen. Ich hatte nie zuvor in einem Filmstudio gearbeitet, hatte davor eigentlich große Angst und wollte deswegen auch zuerst nicht.

Von wo kommen die Darsteller?

Es gab ein Casting. Julian Rozzell jr, der Old Head spielt, kenne ich schon lange, er war in meinem ersten 16mm-Film. Die Darstellerinnen von Janet und Stephanie waren Studentinnen von mir am Bard College, die waren alle perfekt. Der Schauspieler von Jamal heißt tatsächlich Timmy Trumpet, auch er ist vom Bard College, er musste schon wegen seines Namens dabei sein. Er driftete wie ein Engel in meinen Film. Nyabel Lual, die Patricia spielt, die eine Sprachstunde gibt, kam einfach zu einem offenen Casting, sie wollte immer schon in einem Film sein. Sie war toll. Andere sind professionelle Schauspieler, gewerkschaftlich organisiert, da war das Casting konventioneller. Ich bekam auch einmal aufgrund eines Gefallens eine lange, lange Liste von einer professionellen Casting-Agentin. Da fand ich weitere drei Leute. Ich wollte total unerfahrene Leute neben erfahrenen Leuten. Das war fast so etwas wie ein Rohmaterial, das ich noch nie erforscht hatte. Ich interessierte mich für die Fähigkeit, Emotion zu modulieren. Für einen Dokumentaristen ist das eigentlich tabu. Man manipuliert die Gefühle von Menschen nicht. Ich wollte diese Stile aufeinanderprallen lassen. Auf der einen Seite Leute, die eine Woche brauchen, um sich eine Figur anzueignen, und dann nur ein paar Szenen haben, und ihnen gegenüber Menschen, die für acht Stunden an den Set kommen und sofort in der Figur sind. Ich fand das sehr spannend, das einmal auszuprobieren, so etwas in einer Szene wetteifern zu lassen und diese Energien aufeinanderprallen zu lassen.

Historisch sehr konkret wird der Film in den Szenen, in denen es um die MOVE Bewegung geht. Damit ist eines der größten Verbrechen in der Geschichte von Philadelphia verbunden: 1985 wurde ein ganzes Viertel mit einer Bombe in Brand gesetzt.

Das war anfangs noch nicht Teil des Films. MOVE ist eine ganz eigene Geschichte. Als ich selbst in diesen aktivistischen Kreisen lebte, stand ich MOVE sehr nahe. Deswegen habe ich intensiv darüber nachgedacht, ob es die Geschichte nicht zu sehr dominieren würde. Das war meine Sorge. In meinen Zwanzigern war ich MOVE tief verbunden. Dann war ich in New York und nicht mehr so viel da. Als die Eltern von Mike Africa aus dem Gefängnis entlassen wurden, nach 40 Jahren, nahm ich wieder Kontakt auf mit ihm. Nun erst wurde mir klar, dass dieser Heilungsprozess, diese intergenerationelle Geschichte, genau zur richtigen Zeit kam, dass es die Aufgabe meines Films sein könnte, das alles zu dokumentieren. Die Africas kamen auch zu den Dreharbeiten und wurden für die Arbeit am Film bezahlt, sie brauchten ja dringend Geld, nach der langen Zeit im Gefängnis. Im Drehbuch gab es Lücken in der Erzählung, auch zeitliche Ellipsen, und da habe ich an einer Stelle auch die MOVE Geschichte eingefügt.

John Africa war die zentrale Figur von MOVE, Mitglieder seiner Familie sind in Ihrem Film, er selbst nicht.

Er starb in dem Haus, auf das 1985 die Bombe geworfen wurde. Er war einer der elf Toten. Aktuell gibt es eine große Kontroverse, weil man kürzlich herausfand, dass die sterblichen Überreste von zwei der Opfer über die Jahre in Forensik-Klassen verwendet wurden, an der University of Pennsylvania. Der Schädel von John Africa und wichtige Knochen wurden nie gefunden. Es hatte immer schon die urbane Legende gegeben, dass seine Überreste im Besitz einer Ivy League-Universität sein sollten, die nicht Penn war. Nun liest man diese verstörenden Neuigkeiten.

 

© Mike Bello (courtesy of Ephraim Asili)

 

Die Bezüge zu La chinoise von Godard sind schon vorher deutlich, schließlich taucht aber auch ein Plakat auf, damit ist die Referenz ausdrücklich. Wie haben Sie Godard für sich entdeckt?

Ich stieß in der Filmschule auf Godard, da war ich Mitte zwanzig. Ich war davor beiläufig an Kino interessiert. Als Teenager war ich eine Art Film Buff, studierte dann aber eher spontan Film nach einem Jahr Philosophie und nach einer Zeit als DJ und Musiker. An der Filmschule war ein Seminar über die Geschichte des Dokumentarfilms angekündigt, der Professor erkrankte aber schwer. Sein Vertreter kam und sagte, wir machen stattdessen European New Wave Cinema. Da dachte ich zuerst an New Wave Musik und erwartete Filme aus den 80er Jahren. Und dann stand am ersten Tag natürlich Außer Atem auf dem Programm. Ich hatte mehr oder weniger nur einen Mainstream-Begriff von Film. Da sah ich sofort und verstand: Dieser Mann greift dauernd in den Film ein, macht mich dauernd darauf aufmerksam, was er tut, es ist unmöglich, das passiv zu schauen. Es erinnerte mich an Musik Sampling und schien mir einfach sehr modern. Ich hatte nie davor einen Film gesehen, der so operiert. Die Jump Cuts, also diese zwischendurch entfernten Kader, waren mir gar nicht so wichtig. Ich schaute also mehrere seiner Filme – und nun, flash forward, Jahre später interessierte ich mich für radikale Kunst der 60er und 70er Jahre und stieß dabei wieder auf Godard. Ich weiß noch, dass ich damals regelmäßig in die Videothek ging. Es schien fast jeden Monat einen neuen Titel von Godard zu geben. Bei La chinoise dachte ich mir: He, das ist wild, das ist ja mein Lebensstil. Mir waren klarerweise auch die Unterschiede deutlich. Ich recherchierte aber mehr zu dieser Phase seiner Karriere und war überrascht, dass La chinoise so verrissen wurde. Das hat mich schockiert. Außer Atem war sicher sehr wichtig, aber ich würde nicht sagen, dass er besser oder wichtiger ist als La chinoise. Und so habe ich eine Hommage gemacht. Ich finde, man sollte seine Einflüsse deutlich offenlegen. Das kann durchaus didaktisch klar sein, wie Godards Filme ja auch didaktisch sind. Und Godard ist ja selber jemand, der ständig rearrangiert. Ich finde es also angebracht, auch einen seiner Texte neu zu arrangieren.

Godard steckte damals tief in den kleinteiligen Debatten der Linken. Er verstand sich als Maoist. Gibt es für Sie eine Selbstbezeichnung, die passen würde?

Harte Debatten waren das damals auch bei uns. Wir waren Schwarze Anarchisten ohne Wenn und Aber. Wäre aber gar nicht so leicht, zu definieren, was das ist, abgesehen von der Suche nach einem afrikanischen Sozialismus auf Grundlage eines afrikanischen Interkommunalismus. Afroamerikanische Kultur war für uns im Kern sowieso eine Ansammlung von anarchistischen Kollektiven, also dachten wir: Sagen wir einfach, wie es ist, und machen wir da weiter. Wir waren der radikale Flügel, dessen Mitglieder bei Protesten verprügelt wurden. Verschiedene Lager im modernen Aktivismus sind heute stärker spirituell, in Philadelphia gab es viele Marxisten, Sozialisten, Anhänger von Marcus Garveys Ideen. Im Grunde würde ich das bis heute von mir sagen: Black Anarchy ist der einzige Weg vorwärts, das ist das Endgame. Ich sehe nicht, wie Big Government ewig bestehen sollte.

Wie gehen Sie dann als Schwarzer Anarchist mit einem konkreten Ereignis wie der Präsidentschaftswahl zwischen Trump und Biden um, bei der man ja auch von Beginn an wusste, dass Pennsylvania eine große Bedeutung haben würde?

Mein Denken hat sich da auch entwickelt. Der Amiri Baraka von 1969/70 ist auch ein anderer als der von 2000. Ich habe ihn in meiner Zeit mit MOVE mehrfach gehört. Er verwendete den Vergleich mit dem Boxen, wenn er von Mainstream-Politik sprach, also von der Politik, um die es bei Wahlen geht. Er sprach von jabs, es ging nicht darum, den Kampf zu gewinnen, aber zumindest ein paar Treffer zu landen, besonders in einer so polarisierten politischen Landschaft. Meine erste Wahl war Bush gegen Gore 2000. Ein großer Unterschied! Sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Der Kontrast dann zwischen Obama und Trump hätte größer nicht sein können, es ist also nicht leicht zu argumentieren, wie es für Black Anarchy im Grunde naheliegen würde, dass der Unterschied keine Rolle spielt. Biden hat sicher ein paar Treffer gelandet. Das Problem mit Politik des Mainstreams ist, dass die Demokratische Partei jetzt alles für sich reklamiert. Es sind aber die kleinen Communities, die sich da auch einbringen, und wir sind sicher keine Demokraten im Sinne der Partei. Ich kann aber Anarchist sein und trotzdem an Wahlen lokal und national teilnehmen, denke ich inzwischen.

Revolutionäres Bewusstsein steht im Zentrum von The Inheritance.

Ja, das muss man aber auch erst wieder mit der Politik zusammenbringen. Junge Anarchisten glauben oft, sie hätten die Lösungen, und die Communities müssten nur noch dazu gebracht werden, diese Lösungen zu verstehen und zu übernehmen. Das ist dieses Konzept der Avantgarde. So habe ich das damals auch gesehen. Heute würde ich sagen, es ist umgekehrt, es ist wahrscheinlich wichtiger, dass man Teil einer Community wird, und dann kann man kleine Schritte setzen oder radikalere Gesten. Konsens zu bilden ist ein langsamer Prozess, zuerst einmal müssen wir eine Masse werden. Die Massen können nicht in Summe bekehrt werden. Ich finde heute, es ist besser, nicht als der große Unterbrecher aufzutreten, also alles sofort verändern zu wollen, sondern praktischere Vorgehensweisen zu finden.

Das Konzept von Afrocentricity, das in The Inheritance deutlich nach links gewendet wird, habe ich in Mitteleuropa über HipHop kennengelernt. Im Film ist Jazz die wichtigere Musik: Sun Ra, Max Roach.

Ich komme aus der HipHop-Generation. Und durch HipHop kam ich zu Jazz. Zu Freddie Hubbard kam ich durch ein Sample bei A Tribe Called Quest. Inzwischen weiß ich, dass eine Jazz-Trompete das gleiche machen kann wie der MC in einer Rap-Gruppe. Einer der großen Momente in der populären Kultur, auf den sich eine jüngere Generation sehr einlässt, bringt viel Dissonanz in der heutigen Musik. Das wäre bei uns noch nicht populär gewesen. Sie nennen das gar nicht Jazz, für sie ist das HipHop. Im Film mache ich eher HipHop, als dass ich ihn verwende. Ich wollte diese Musik nicht wie eine Ware ausstellen, sondern selbst die Konzepte von HipHop zu filmischen machen. Die alten Platten sind das Ausgangsmaterial für diese Prozesse. Max Roach und Sun Ra sind große Beispiele. Max Roach gar nicht so sehr als Schlagzeuger, sondern als jemand, der spricht. Sun Ra hat immer Poesie in seiner Musik gehabt.

Die Dichterin Sonya Sanchez wird im Film schließlich durch Ursula Rucker vertreten, von der ich 2001 einmal eine Platte besaß. Damals war mir nicht ganz klar, ob das jetzt eher Spoken Word ist oder richtiger Rap? Wahrscheinlich ein bloß theoretischer Unterschied.

Sie ist Royalty in Philly. Eine ganz offene und bescheidene Frau, alle kennen sie, sie spricht zu einer Community. Sonya sollte kommen, sie musste aber für den Dreh absagen, also haben wir Ursula angerufen, sie ist auch ein Protegé von Sonya. Sie hat bei ihr an der Temple University studiert. Ich wollte diese Beziehung vor die Kamera bekommen. Philly kommt nach Troy. Spoken Word hatte ein wichtiges Zentrum, an einem Ort namens Black Lillie Willie, organisiert von The Roots, die damals noch etwas anderes bedeutet haben, das war Cutting Edge-HipHop. Da war ich als Teenager und in meinen Zwanzigern dauernd. Ursula kam sehr kurzfristig und gab eine amazing Performance für unseren Film. Es war übrigens der erste Abend der Dreharbeiten.

Können Sie kurz Ihre Lebensgeschichte skizzieren?

Ich komme aus Roslyn, Pennsylvania, das ist eine Kleinstadt ungefähr 15 Minuten außerhalb von Philadelphia. In den 1930er bis 60ern war dort einer der größten Amusement Parks in Amerika, die Leute kamen von weither. Als ich klein war, wurde er abgerissen und in eine gigantische Shopping Mall umgewandelt. Für mich war das eine ganz selbstverständliche Umgebung, ich war dort sehr oft Pizza essen oder in einer Arcade. Ich hing einfach ab in der Mall. Es war eine Arbeiterwelt, der Vater war Fabrikarbeiter, die Mutter war Predigerin in einer Baptisten-Gemeinde. Ich ging jeden Sonntag in die Kirche, da gab es Chorgesang und flamboyante Prediger. In der High School war ich Captain meines Football-Teams. Einmal habe ich Pilze genommen und festgestellt, dass das für mich Zeitverschwendung war, das war meine Offenbarung in Sachen psychedelische Substanzen. Ich interessierte mich für Philosophie, habe das aber nur kurz studiert. Eine Weile habe ich als Gärtner gearbeitet, war verheiratet, und die Offenbarung für mich war dann, dass ich Film studierte. Mein Vater hat sich sehr für Film interessiert, ihn hat vieles nicht interessiert, aber Kino sehr. Vor allem Spike Lee. Bei Do the Right Thing hat mein Vater gesagt: Den sehen wir uns an. Das war für ihn sehr wichtig, ich würde das vielleicht einem neunjährigen Kind nicht zeigen. Als Jungle Fever herauskam, sahen wir darin ein Mädchen, sie spielt die Tochter von Wesley Snipes. Da gab es große Aufregung, denn die Darstellerin kam von unserer Schule. Das hatte es vorher noch nie gegeben, dass wir in Kontakt kamen mit dem Kino: ein menschliches Wesen, das ich kenne, in einem Film! Das waren doch eigentlich ganz andere Wesen. Es gab auch ein Kino, ein schönes altes Kino in einer besseren Gegend der Stadt. Die Viertel waren ganz klassisch durch eine Eisenbahn getrennt. Jedenfalls zeigte dieses Kino einmal Psycho, und Janet Leigh war da. Ich kannte den Film aus dem Fernsehen, hatte ihn aber nie als «Film» gesehen. Das war ein starkes Erlebnis. Hey, warte, das ist also tatsächliche die Person, die in Psycho mitspielt! Später fand ich noch mehr über Janet Leigh heraus. Aber das war das erste Mal, dass ich von einem Film richtig geplättet war. Das ging wirklich über Raum und Zeit hinaus, und war zugleich sehr sehr real.

Sie danken im Abspann Peggie Ahwesh und Charles Burnett. Wie stehen Sie zu ihnen?

Wir kennen einander aus der Filmwelt. Charles Burnett unterrichtet auch am Bard. Peggie Ahwesh war Professorin, ich hatte dort zuerst einen Job als Technical Director, konnte damals ein bisschen Geld zur Seite legen und Kurzfilme machen. Sie war dabei immer sehr hilfsbereit. Alle paar Jahre verändert sie ihre Arbeit ziemlich, wechselt die Interessenslagen immer wieder, bleibt also experimentell und lässt sich nicht von einer einmal gefundenen Formel fesseln. Das ist ein gutes Vorbild, wie ich finde.

Der Tod von George Floyd war für viele Menschen ein Wendepunkt. Andere wiederum legen Wert darauf, dass es schon davor viele vergleichbare Fälle gegeben hatte.

Trayvon Martin, der von George Zimmerman getötet wird, der dann von einer Mordanklage freigesprochen wird: Da fing es für mich an, also 2012/2013. In mir brach da etwas, das sich wahrscheinlich nie reparieren lassen wird. Es gibt ein konsistentes Muster mit diesen Todesfällen. Und dann geht diese Geschichte ja insgesamt Jahrhunderte zurück. Bei George Floyd gab es Unterschiede im Detail, aber im Grunde war das eine weitere sinnlose, brutale Exekution. Politisch gesehen hat die lokale Community marxistischen, anarchistischen Zuschnitts sofort reagiert, sie brannten diese Polizeistation nieder, sie gingen das Problem also an der Wurzel an und hatten sofort ein Ergebnis. Das ging von lokalen Aktivisten aus und wurde eine globale Bewegung. Ich habe mich nur mit der Einwerbung von Spenden beteiligt. Für viele Menschen war das ein Wendepunkt, für mich nicht so sehr.

Was halten Sie von den offenkundig veränderten Bedingungen in der populären Kultur, in der Schwarze und diverse Repräsentation inzwischen sehr wichtig ist?

Ich verspüre eine große Ambivalenz bei diesem Thema. Finanziell ist es klarerweise gut, dass Menschen, die historisch immer so am Rande der Industrie hingehalten wurden, jetzt beschäftigt werden. Das ist sehr gut. Da bin ich auch dafür. Politisch-sozial bleibt die Frage, was radikales Filmemachen bewirken könnte. Da würde ich sagen: nicht viel. Kino hat wenig Auswirkungen auf die Mainstreampolitik. Das ist sogar durch Forschungen bewiesen. Wenn ein Film so viel Geld verdienen soll, wie das bei einem Mainstream-Film der Fall ist, muss das natürlich auf einer sehr allgemeinen Ebene bleiben, das geht auf Kosten der Tiefe. Es gibt ein paar kleinere Filme wie Moonlight oder Get Out, die kosteten fünf oder zehn Millionen Dollar – und werden bleiben, denke ich. Ich bin eher besorgt, dass der Profisport bestimmte aktivistische Bewegungen kooptiert. Persönlich habe ich schon Ideen, die ich mit einem größeren Budget realisieren könnte. Mir ging es aber nie darum, berühmt zu werden. Disney-Filme würde ich nicht machen, ich sehe mich vielleicht idealerweise in einem System, in dem jemand wie Robert Altman gearbeitet hat, er hat Hollywood-Ressourcen genommen und damit etwas so Spannendes wie MacCabe & Mrs. Miller gemacht. Werde ich mit meinen Filmen die Welt retten? Vermutlich nicht. Deswegen bin ich vielleicht nicht besonders enthusiastisch, aber auch nicht desillusioniert.

Barry Jenkins hat gerade die Serie Underground Railroad gedreht, nach dem Roman von Colson Whitehead. Das ist in jeder Hinsicht ein großes Projekt. So etwas würde Sie nicht reizen?

Ich habe auch gerade einen Roman adaptiert, möchte darüber aber noch nicht sprechen. Barry Jenkins ist ein tolles Beispiel. Bei Beale Street war ich eher neutral, Moonlight mochte ich hingegen sehr. Aber macht er nicht als nächstes einen Lion King? Möchte ich das sehen, dass der Regisseur von einem Lion King-Prequel etwas über Sklaverei macht? Na ja, vielleicht mag ich den Film dann ja sogar. Steve McQueen hat diese Situation für meine Begriffe am besten hingekriegt, er macht immer noch herausfordernde Sachen.

12 Years a Slave fand ich ziemlich problematisch.

Das ist sicher sein am wenigsten interessanter Film. Warum wollte er den überhaupt machen? So ein amerikanischer Stoff, was interessiert ihn daran als Europäer? Django Unchained kam damals auch heraus, den fand ich eine deutlich interessantere Lesart dieser amerikanischen Geschichte. Tarantino ist sicher auch verstörender, aber er sprach mutiger bestimmte schwierige Sachen an. Steve McQueens Stil hat da für meine Begriffe nicht gepasst. Der Film davor war aber sehr gut: Shame, das war auch ein spannendes Thema. Ich finde Steve McQueen gut. Filmemachen ist eine schwierige Angelegenheit, und er geht damit gut um.

The Color Purple kannte ich bisher als Film von Steven Spielberg. In The Inheritance wird das gewissermaßen zurückerstattet, denn zuerst einmal war das natürlich ein Buch von Alice Walker und würde wahrscheinlich eine neue, bessere Verfilmung verdienen.

Das klingt super. Ich unterrichte eine Klasse über Blackness in Filmen, in der ich darauf eingehe. Das war ein sehr populärer, aber auch sehr problematischer Film. Eine neuer The Color Purple, das wäre wirklich ein Blitzableiter. Das wäre ein Film, der die Welt ändern könnte. Den müsste aber eine Frau machen.

Sind Sie in solchen Fragen auch standpunkttheoretisch streng?

In diesem speziellen Fall ja. Dee Rees wäre dafür vielleicht gut. Ihr Porträt von schwarzer Männlichkeit würde mich interessieren. Ich bin im Grunde sehr gegen diese Idee, dass nur Schwarze Frauen von Schwarzen Frauen erzählen dürfen und so weiter. Aber es gibt auch Aspekte, zu denen ich mich schwer verhalten kann. Vergewaltigung zum Beispiel, dazu habe ich nichts zu sagen. Spielberg aber auch nicht.

 

Das Gespräch führte Bert Rebhandl

Dank an Cristina Nord und Sebastian Sury vom Internationalen Forum des Jungen Films, wo The Inheritance dieses Jahr gezeigt wurde, für Unterstützung bei der Organisation des Gesprächs

 

Revolutionary People’s Reading Room

13. Mai 1985, 6221 Osage Avenue: Das sind die Koordinaten für das Ereignis, das in Ephraim Asilis The Inheritance eine zentrale Rolle spielt. In der Osage Avenue in West-Philadelphia hatte damals die Bewegung MOVE ihr Hauptquartier. Am 13. Mai 1985 eskalierten die Bemühungen von Polizei und Feuerwehr um eine Räumung so dramatisch, dass eine Bombe auf das Haus abgeworfen wurde. Die Explosion führte zu weiträumigen Zerstörungen, insgesamt waren 61 Häuser im Block betroffen. Elf Mitglieder von MOVE, darunter der Gründer John Africa und fünf Kinder, wurden getötet. Das Schwarze Kollektiv, von dem Asili in seinem Film erzählt, ist mit MOVE nicht direkt zu vergleichen, es lässt sich eher als ein Versuch begreifen, sich in eine Geschichte afroamerikanischer Aktivismen einzuschreiben. Die vielen Bücher, Schallplatten, Zeitschriften und anderen Dokumente, die den buchstäblichen Teil einer «Erbschaft» ausmachen, durchziehen den Film wie ein Archiv: Soul and Soledad von Angela Davies, Ausgaben des Magazins Ebony, Texte von Audre Lorde, Julius Nyerere, Kwame Krumah, ein Album von Max Roach, ein Foto von Muhammad Ali mit einer Filmkamera.

Ein Plakat von dem Film La chinoise von Godard wirkt im Vergleich wie eine Appropriation, die diesen spezifischen Rahmen (Philadelphia, afrozentristische Linksintellektualität, Schwarze revolutionäre Politik) erweitert. Der Gruppe junger Leute, die damals eine großbürgerliche Pariser Wohnung in ein Labor linksradikaler Politik verwandelten, entspricht bei Asili das Kollektiv, das von einem jungen Mann namens Julian ins Lebens gerufen wird, nachdem er von seiner Großmutter ein Haus plus Archiv geerbt hat. Gwen, in die Julian verliebt ist, schließt sich als erste an, ein Freund namens Rich erweist sich als schwieriger Mitbewohner, auch angesichts von Regeln, die nicht unmittelbar politisch sind: «We are a shoeless house».

Das Kollektiv richtet einen RPRR ein (einen Revolutionary People’s Reading Room), und lädt Gäste ein, die zum Teil einen konkreten Bezug zu MOVE herstellen: Mitglieder der Familie von John Africa, die 40 Jahre im Gefängnis gewesen waren, aber auch die Dichterinnen Sonya Sanchez und Ursula Rucker. «We be what we were meant to be», heißt es bei Rucker, deren Poetry Performance einen Höhepunkt des Films ausmacht. «We be, aha, we be, ok.» Die «transformative nature of art» tritt bei Asili an die Stelle eines Naturbegriffs, der bei MOVEwohl eher noch ökofundamentalistisch geprägt war («MOVE does not believe in technology», für John Africa war Jesus, der Zimmermann, ein Vorbild).

Das House of Ubuntu, zu dem das Haus von Julians Großmutter wird, verweist auf (im konkreten Fall süd)afrikanische Konzeptionen von Gemeinschaftlichkeit, steht aber auch in der Tradition von Sozialismen, wie sie von einflussreichen Befreiungspolitikern im Zuge der Entkolonisierung als Alternativen zu der Systemkonkurrenz im Kalten Krieg entworfen wurden. The Inheritance ist im besten Sinn zugleich lokal und universal. reb