Nichts unternommen Über Cem Kayas Liebe, D-Mark und Tod
Nach der Premiere seines Dokumentarfilms Liebe, D-Mark und Tod (Aşk, Mark ve Ölüm) im Berlinale-Panorama wurde Regisseur Cem Kaya die Frage gestellt, warum sich noch niemand dieses naheliegenden Themas angenommen habe – von der Almanci-Popkultur in Deutschland zu erzählen. Und Kaya antwortete, weil das Arbeit macht. Also in Archive zu gehen und nach Bildern zu suchen, von denen die Archive unter Umständen selbst nichts wissen.
Cem Kaya macht sich diese Arbeit, und das schon länger. Liebe, D-Mark und Tod ist nach Arabeks (2010) und Remake, Remix, Rip-off (2014) der dritte Beitrag zu einer Geschichte der türkischen Populärkultur, an der der 1976 in Franken geborene Filmemacher arbeitet. Das ist zuerst ein sentimentales Projekt, weil damit im nachhinein Ordnung in jene unvermittelten Erfahrungen gebracht wird, die am Beginn jeder kulturellen Sozialisation durch Popsongs und Filme in Kindheit und Jugend stehen. Politisch werden diese Rekonstruktionen dann unweigerlich, weil sie im Transitraum der Migration spielen und schon deshalb gar nicht anders denn als Erweiterungen einer national beschränkten Idee von Kanonisierung gedacht sein können. Zuletzt oder ganz fundamental ließe sich dieser freudvolle Enzyklopädismus durchaus romantisch nennen – man sieht in Kayas Filmen halt immer auch, wie schön und erfüllend es sein kann, sich durch Kunst auszudrücken, weil man Menschen sieht, die Spaß daran haben, die Langhalslaute zu spielen oder sich an wahnwitzige Filme zu erinnern, in denen sie ihrer Vorstellungskraft freien Lauf gelassen haben.
Die Bezüge innerhalb dieses Werkes sind vielfältig. Wenn der Regisseur Ezal Akay am Beginn von Arabeks über diese Form der Amalgamierung von türkischem und arabischem Folk mit westlichem Pop sagt, dass damit Geschichten vom Verlust in der Vergangenheit erzählt würden, in denen sich nichts zum Besseren ändere, dann passt diese Idee eines Ausbleibens von Fortschritt und Wachstum auf gewisse Weise auch zum Ende von Liebe, D-Mark und Tod. An dem hängt die Kamera nach einer Zeitreise mit gut gelaunten, älteren Herren der ‹Gastarbeiter›-Generation in der Berliner Hasenheide ab, für die das Musikmachen wieder da angekommen ist, wo es am Beginn des Films seinen Ausgang nahm – bei einem persönlichen Ding, das die Kommunikation übers gemeinsame Leben variiert.
Dazu gehört die Migrationserfahrung, die in Arabeks schon da als grundlegend für die Musikrichtung beschrieben wird, wo es sich noch um innertürkische Bewegungen handelt – eine der Arbeit wegen in die Stadt gezogene Landbevölkerung bearbeitet in diesem Genre musikalisch ihren Trennungsschmerz vom Gewesenen. Der wird durch die Einwanderung nach Deutschland als Schock einer spezifischen Ausgrenzung charakterisiert. Die in Liebe, D-Mark und Tod erzählte Musikgeschichte von Metin Türköz bis Haftbefehl ist, sagt gegen Ende des Films Imran Ayata, Mitherausgeber der Songs of Gastarbeiter-Kompilationen, verbunden durch die Erfahrung des Rassismus – die Musiken haben gemein, dass man widerständig werden, sich auflehnen muss.
Kayas Film komprimiert die Geschichte der türkischen Popmusik in Deutschland in 90 Minuten, auf atemberaubende Weise. Der titelgebende Song von Ideal nach einem Aras Ören-Text funktioniert als grobe Kapitelstruktur, durch die in kurzen Strichen eine mehr als 60-jährige Kultur verhandelt werden kann. Erzählt wird ausgehend von Interviews mit frühen Stars wie Türköz, Hatay Engin, Yüksel Özkasap, der «Nachtigall von Köln», oder Cavidan Ünal, der «Diva von Europa», deren Auftritte zugleich Cameos einer Prominenz sind, die sie lange Zeit nur in der Community hatten (der glamouröse, 2004 verstorbene Cem Karaca wird durch eine Schwarzblende gewürdigt, der ebenfalls schon tote Berliner Rapper und Anreger Boe B durch ein Insert) – von den Goldenen Schallplatten, millionenfach verkauften Tonträgern, zumeist Kassetten, wollte die herkunftsdeutsche Öffentlichkeit nichts wissen. Wie in Remake, Remix, Rip-off denkt dieser Film Populärkultur im Spannungsfeld von Kunst, Politik und Ökonomie, interessiert sich für Distributionswege und Geschäftsmodelle, zu denen ab den 80er Jahren etwa die ausschweifenden Hochzeitsfeiern werden; im Grunde Konzerte für Tausende Menschen.
Die Ignoranz der weißen deutschen Gesellschaft markiert ziemlich genau in der Mitte von Liebe, D-Mark und Tod der RIAS-Moderator Barry Graves (1942–1994, eigentlich Hans-Jürgen Deutschmann) in einem bemerkenswerten Interviewschnipsel präzise, wenn er das Ausblenden dieser so reichhaltigen Popkultur beklagt: «Und da haben die Medien ganz stark versagt, da ist nichts unternommen worden in all den Jahren zu sagen: Das ist dein türkischer Nachbar, so lebt er, das mag er, diese Freizeitbeschäftigung hat er.» Der Integration der türkeistämmigen Musiker in die großen Unterhaltungsshows und Hitparaden hat sich das deutsche Fernsehen verweigert – und es ist vielleicht kein Zufall, dass als einer von zwei herkunftsdeutschen Showmastern im Film der 2021 verstorbene Alfred Biolek zu sehen ist, dessen Begriff von Kultur sicherlich am durchlässigsten und welthaltigsten war.
Der andere ist Rudi Carrell, der in einem Sketch die Gurbetçi besingt: «Man kommt nur weiter/durch Gastarbeiter/so emsig, so fleißig, so gut.» Die weißen Männer auf dem Baugerüst der Studiokulisse sind mit Schnauzbärten und schwarzen Perücken auf «Ausländer» geschminkt, und sie müssen sich, anders als der wohlwollend-lustig gemeinte Text sagt, dämlich anstellen (beim Ruf «Pause» wird der gerade nach oben transportierte Backstein wieder fallen gelassen), damit die Herrschaftsverhältnisse scheinbar gewahrt bleiben. Der Clip ist ein ziemlich irres Dokument, in dem der darin ausgestellte Rassismus immer wieder auch über die eigenen Füße stolpert. Etwa wenn Carrell indifferent lächelnd ökonomische Realitäten besingt, in denen Abhängigkeiten erkennbar werden, die nicht einseitig sind: «Man braucht einen Türken aus Konstantinopel/sonst gäb’ es bestimmt kein VW oder Opel.» Letztlich wird selbst in diesem Lied sichtbar, was jeder noch so abwertend-strengen weißen deutschen Stimme beim drastisch-wollüstigen Reden über die anderen anzuhören ist – wer die Ignoranz gegenüber der türkischen Kultur in Deutschland aufgibt und sich auseinandersetzt, kann selbst in der Ablehnung nicht unbeeindruckt davon bleiben.
Für Kayas Arbeit an einer selbstbestimmten Almanci-Kulturgeschichte stellen solche Fundstücke eine Herausforderung dar, weil sie den weißen deutschen Blick verlängern und damit Rassismus transportieren. Liebe, D-Mark und Tod entschlägt sich diesem Problem mit subversivem Witz, wenn der Carrell-Clip übergeblendet wird in die Aufnahmen von wilden, weil gewerkschaftlich nicht unterstützten Streiks bei Ford und anderswo – was im ersten Moment wie das cheering zum Song wirkt, erweist sich als Protest. Ein andermal würgt der Film einen bemühten Moderator einfach ab, der einen Cem Karaca-Auftritt benutzen will, um seine Meinung zu «Ausländerfeindlichkeit» loszuwerden.
Vor allem aber hat die fast zweijährige Archivrecherche von Kaya und seinem Team Material zutage gefördert, das eine eigenständige Erzählung gestattet. In dem etwa Karaca auf deutsch interviewt oder bei einem Auftritt beim Festival des politischen Liedes in Ost-Berlin vor FDJ-Fahne gezeigt wird, um elegant zu dokumentieren, wo dessen komplexer und doch eingängiger Pop überall gewesen ist; zu dem ein noch in Schwarzweiß auf einem Kölner Bahnsteig gedrehtes Musikvideo avant la lettre von Metin Türköz gehört; oder durch das die Geschichte tödlicher, rassistischer Gewalt, die ab 1980 von deutschen Neonazis ausgeht, über den häufig unterbelichteten Widerstand der Community erzählt wird, was sich musikalisch dann im Rap äußert.
Manchmal greift Kaya, der außer für Regie, das Buch (gemeinsam mit Mehmet Akif Büyükatalay), das Titeldesign, Kamera, Recherche und Set-Fotografie auch für die Montage verantwortlich zeichnet, in das Archivmaterial schließlich ein und kompiliert wie schon in Remake, Remix, Rip-off sprechende Schnittfolgen. Da werden etwa die Tagesschau-Nachrichten über die rechtsextremen Anschläge so eng getaktet, dass die wiederkehrende Einzelmeldung die Kontinuität der gewaltsamen Struktur offenlegt. Der Dank an den Found Footage-Filmemacher Matthias Müller im Abspann ist da wenig überraschend – und illustriert hübsch, wie vielschichtig Cem Kayas Arbeit an der Archivmaterialbeherrschung ist.