essay

Gegen die Verwirrung Ein autobiografisches Journal zum Krieg gegen die Ukraine

Von Barbara Wurm

Mariupolis 2 (Mantas Kvedaravicius)

© imago

 

Dieser Krieg lähmt, friert ein, stellt still, wühlt auf, macht stumm, sprachlos, dann wütend. Zu viele melden sich zu Wort. Deutsche Kommentare: arrogant & ignorant. Keine Kraft dagegen zu halten. Von Diskurs- und Kriegsmaschinen überrollt. Übelkeit seit 92 Tagen, immer noch täglich Tränen. Statt Schlaf nur vorübergehendes Koma. Lesen unmöglich. Idee eines eigenen kleinen Kulturboykotts, this ain’t the time for cinema. Zumindest temporär. Den Wahnsinn suspendieren, sabotieren, den Zynismus und Faschismus stoppen. Etc. – Was kann die Kunst, soll die Kultur? Humanitäre Hilfe. Einbruch der Moral und des Politischen. Doch die Rückkehr in die eigene Bahn und damit auch zum Kino ist ebenso unausweichlich und plötzlich scheint alles (und zwar immer schon) nur ‹davon› zu handeln … Filme zu machen und sie zu lieben, sagt Mathieu Amalric da, bedeutet nicht, keine Betroffenheit zu kennen. Was sollen wir machen, sagt Regisseur und Reservist Taras Tomenko, keine Filme mehr? Der neue Charlie Chaplin muss her, fordert Präsident Zelenskij von der Spektakel-Industrie in Cannes, wo sich dann aber Kirill Serebrennikov artig bei seinem Oligarchen bedankt und weiter das liberale Feigenblatt Putins gibt. Wir sind alle in Geiselhaft. Kinder des Kalten Kriegs im europäischen Fleckenteppich. Jede*r gefangen im eigenen Interessenskorsett. – Ich versuche, die patriarchalen Stützen des Kapital- und Machtstroms zu durchbrechen, zumindest mental, höre lieber die weise Stimme der indigenen Kanadierin Alanis Obomsawin, die nach 89 Jahren Leben und Filmen in der Unterdrückung sagt, viel wichtiger seien die vielen guten Menschen, denen sie bei ihrem Kampf um Gerechtigkeit begegnet sei. Oder Lana Gogoberidze, 93, die den roten Terror am eigenen Leib erfuhr (Vater exekutiert, Mutter verbannt): Nicht von der Zensur, die ihr widerfuhr, erzählt sie, sondern von der tragischen Freude, die das Leben dennoch brachte. Zu diesem Krieg sagt sie, noch nie sei das Böse so offensichtlich und die Rollen so klar verteilt gewesen. Ihre Filme wiedersehen, oder zum ersten Mal. – Wie schon der Aufstand in Belarus ist auch der Widerstand der Ukraine für mich eine Sache des feministischen Antikolonialismus. Ihre Namen lernen auszusprechen, ihre Filme sehen und diskutieren, das scheint mir unsere Pflicht zu sein, der erste Schritt: hinzuhören, nicht über und für sie zu sprechen, sondern mit ihnen. Das kann die Kunst: uns die Welt mit anderen Augen sehen lassen. Dem copy-paste-Stumpfsinn der sozialen Netzwerk-Bubbles, den rhetorischen Überlegenheitsfantasien zu trotzen, den chauvinistischen Pseudoheroismus der in der Tat so oft männlichen Besserwisserei zu ächten. Vielleicht ist ja wirklich die Zeit gekommen, auch die Lenin-Denkmäler gleich mitzudemontieren. – Zeitenwende. Wir müssen uns verhalten. Brücken von Every Life Matters zu Every Film Matters bauen. – Das Auseinanderdriften der Wahrnehmungen, die irrationale Starre der Ideologien, die Linke und ihr Festhalten an Formeln, diese Realitätsverweigerung und Unmoral, einen halben Kontinent der Brachialität und der neu auferstandenen Banalität des Bösen ausgeliefert zu sehen. Es bestürzt mich. Hier ein erster Versuch, die eigene Biografie auf rewind und fast forward zu stellen und gelegentlich die Pausentaste zu drücken, um dem Getriebensein zumindest ansatzweise Sinn abzugewinnen. Aus allen von mir geschätzten Russland-Versteher*innen (den wahren) sind Ukraine-Versteher*innen geworden. Auch aus mir. Aus guten Russen werden Ukrainerinnen. Alles andere wäre unmoralisch.

Vor dem Film. Besondere Gründe: Keine.

Ich will Arabisch studieren, wähle aber Russisch. Ohne besonderen Grund. Ich habe keine ‹connections› oder gar ‹relations›. Nur einen Großvater, der im Krieg war und jajca und ruki verch erinnert. Mit meiner Mutter sehe ich fern und besuche den legendären Kurs «Russisch für alle», sage Zdravstvujte, sie Dobryj den’. Mein Vater stöbert mit mir bis heute durch seine ost-affine Devotionaliensammlung, er reist und heiratet ein zweites Mal, in der Noch-DDR. Ansonsten Brežnev mit Goldrandbrille (wie heute Lavrov), ein lahmer Greis mit zu coolem Namen. Dass er gar nicht Reagan geküsst hat, sondern Honecker (und das auf Soz-Pop-Art), wird mir erst später bewusst.

Die Vorstellungen vom angeblichen Reich des Bösen sind überlagert. Österreichs immerwährende Neutralität (so auch meine) ist gesetzt, wird aktuell als diplomatisches Top-Rezept vorgestellt. Immer schon lagen wohl für uns noch ein paar Staaten dazwischen, die herhalten würden, als östlich vom glücklichen Eiland Mitteleuropa gelegene Pufferzone, im Fall des Falles. Finnland und Schweden sind näher dran, wenig überraschend ihre Nato-Mitgliedschaftseilanträge. Die Notwendigkeit, sich geopolitischen Herausforderungen zu stellen, steht im diametralen Verhältnis zur tatsächlichen Geschichtsaufarbeitung. Die Neutralität hat Österreich von ihr befreit.

Unser Alltag bot Spielraum für angewandte Interkulturalität, oder zumindest die Illusion, ein bisschen näher dran zu sein am Osten. Der Balkan beginnt nach einem Sprichwort des Fürsten Metternich am (Wiener) Rennweg, in den Urlaub fahren wir über die ‹Gastarbeiterroute› auf Krk und Hvar und können es auch aussprechen, meine Klassenkamerad*innen heißen Hlavacek und Kwapil, Pawlitschek und Kovacs. Dass s, c und z Hatscheks haben können – klar. Mein Volleyball-Leben führt mich an den Wochenenden oft über den Eisernen Vorhang hinüber nach Ungarn oder in die Tschechoslowakei. Die Russ*innen des UdSSR-Teams entpuppen sich als Kasach*innen. Von diesen Ost-Reisen bleiben mir dennoch vor allem Farben als Erinnerungen. Häuserfassaden in bröckelndem Hellblau, Straßenlaternen in abblätterndem Pastell-Rosa, rostig und abgehalftert schön.

Vom großen November 1989 erfahre ich in Australien. «I have seen the wall come down», sagt die Austausch-Freundin, «Well, I haven’t», sage ich, und es gilt eigentlich bis heute, wo ich in einer ehemaligen Mauerstraße in Berlin lebe und Sozialisations- wie Mentalitätsgeschichten studiere. Doris Metz’ Schattenväter (2005) erzählt davon, als Spionagegeschichte, über die Söhne von Brandt und Guillaume.

Welches wäre der passende Film für mein aktuelles Mediationsprojekt, das seit dem 24.02.2022 in meinem Kopf stattfindet? Und vor allem: Zwischen wem müsste die Mediation zuallererst stattfinden?

Immer öfter Film. Besondere Vorzeichen: Keine

1991 studiere ich Russisch und Literatur. Ein Monat zuvor der August-Putsch, vier Monate später das Ende der UdSSR. Im Juni 1992 war ich erstmals da, «in Russland», seither fast dreißig Jahre, jedes Jahr. Moskau und St. Petersburg war die Norm, schon Ekaterinburg und Perm’ die Ausnahme. Nach meinem Jahr an der damals liberalsten Universität, RGGU, inklusive Warmwasserdefizit und Kakerlaken im Studi-Heim sowie true crime auf Moskaus Straßen, kenne ich vor allem das Kino besser, ich pendle zwischen Naum Klejmans Muzej kino und dem altehrwürdigen Dom Chanžonkova, wo gern sowjetische Kriegsfilme liefen und wir oft nur zu dritt im Saal waren, ich und ein Großvater mit Enkel. Bei Michail Romms celovek no. 217 fragt der Junge: «Opa, waren die Nazis wirklich so grausam.» «Ja, natürlich Kind, das sieht man doch!» – In wie vielen Parallelwelten ich damals schon lebte? Fiktion und Realität. Gegenströme und Missverständnisse. Die Unis etablierten neue Denk-und Redekulturen; das Filmerbe wurde gerettet, schwarze Flecken ausgeleuchtet. Die Kultur wollte nach Europa, wollte Europa sein, sie war auch Europa (nur von uns nicht als solches an/erkannt). Der «Sowok» (nachzulesen bei Svetlana Alekseevic) aber lebte weiter, und ein zentrales Instrument der Machterhaltung in diesem Land, in dem Russland (und keine andere ehemalige Republik) die Sowjetunion beerbte, war nun einmal die auch im Kino betriebene Aufrechterhaltung der ruhmreichen militärischen Vergangenheit. Ich hielt die Omis mit ihren Stalinporträts für postsozialistische Kitsch-Camp-Performancekunst, ich stand am Straßenrand der zum Roten Platz führenden Panzerkolonne und wunderte mich, wie viel Geld dafür ausgegeben wurde, den Himmel für die Siegesparade wolkenfrei zu halten und die Straßen jedes Jahr neu zu pflastern. Mit «Stop dem Faschismus» waren schon beim Putsch 1991 nicht die mehr die Nazis, sondern die altsowjetische Junta gemeint, in Sergej Loznitsas The Event zu sehen und verstehen. In seinem Den’ pobedy (Tag des Sieges) wird ein weiterer Annexionsversuch sichtbar: die ruhmreiche sowjetische Vergangenheit als russ(länd)ische Angelegenheit darzustellen. Auch Zhanna Maksymenko-Dovhychs Holiday (2018) handelt davon, hier bereits als Zweikampf zwischen Russen mit Georgs-Bändchen und Ukrainern mit Rotem Mohn. Ein sanfter Widerstand gegen die full-scale-Kaperung der Symbolik. Signs that matter. Frühlings-Blüte statt Retro-Patriotismus. Filmsehen-Lernen wird wieder hermeneutische Disziplin. Begleitlektüre: dekoder oder Geschichte der Gegenwart.

Der postsozialistische Kreislauf zwischen Sozialisation und Bildungschance findet in extremer Ost-West-Schieflage statt. The capital rules. Nur der Osten muss aufholen. Dieses Kapitel des innereuropäischen Kolonialchauvinismus ist ungeschrieben, die chemischen Reaktionen des Gemischs von Altherrenkommunismus und Neokapitalismus weitgehend unerforscht. Was mir damals nicht auffiel: der Hegemonieanspruch alles Russischen dabei, das Verschlucken der anderen ‹nationalen› Kulturen. Ich verstand nicht, warum sich ein Hans-Joachim Schlegel mit dieser «Kino-Folklore» beschäftigte, saß selbst den noch in der Sowjetunion geprägten Formeln des spalterischen Nationalismus auf (nachzulesen in den Tagebüchern Dovženkos). Was ich jedoch sah: Wie sich in jede Film-Biografie Emanzipationsversuche einschrieben, die quer zur sozialistischen Trajektorie lagen.

Einer meiner Russisch-Lehrer kam von Lenin, die andere von Dostoevskij. Mich begeisterte die Avantgarde, Dziga Vertov ging von Moskau nach Kiev, weil das VUFKU-Studio liberaler war. Ein Künstler-Nomadismus vom Zentrum in den internen Westen, der sich ein Jahrhundert später rund um den Maidan wiederholte. Damals folgte «die hingerichtete Wiedergeburt», Stalins Schlachten der ukrainisch-jüdischen Intellektuellen. Den Memorial-Stätten droht heute die Auslöschung. Nach den atomaren Infrastrukturanlagen und wahllosen zivilen Zielobjekten hat die russisch/russländische Invasion explizit ukrainische Kulturobjekte ins Visier gefasst. So viel zur Frage, was dieser Krieg mit der Kultur zu tun hat. Viel.

In den von Putin gern als «wild» bezeichneten 90er Jahren – als Rechtfertigung für seine eiserne Hand gegen die von Jelzin gezüchtete Kriminalität – reise ich ‹bewusst› nur einmal in die Ukraine, parallel zu Koepps Herr Zwilling und Frau Zuckermann, ins galizische Lemberg aka L’viv. Dass ich noch zwei weitere Male in diesem Land war, entzog sich damals irgendwie meiner Aufmerksamkeit, die Krim schien offenbar extraterritorial. Ein Abenteuer-Trip im Hochsommer endete desaströs. Nach 2014 wird der Alptraum wahr. Oleh Sencov, den wir bei goEast in Wiesbaden mit seinem Debütfilm Gamer zu Gast hatten, wird verhaftet und erst 2019, kurz vor dem fast tödlichen Hungerstreik freigelassen. Bei einer Veranstaltung in der Brotfabrik mit Wim Wenders und Sergej Loznitsa stellt jemand die Frage, ob Sencov nicht doch Terrorist sei, worauf Loznitsa zurückfragt, ob er denn nicht zur Waffe griffe, wenn sein Haus mit Waffengewalt erstürmt würde.– Der Fragesteller war nicht Lars Eidinger, aber ähnlich drauf. Loznitsa lässt sich nicht verwirren und hat meist klare Worte. Früh hat er mir nahegelegt, den «Donbass-Konflikt» nicht mit einem Bürgerkrieg zu verwechseln, sondern die Post-Maidan-Vorgänge als das zu sehen, was sie faktisch waren: Russlands erste Invasion, die ‹Verteidigung› des Imperiums.

Film und Krieg. Short Cut

Dok Leipzig (2000–2020). Perm’ – Flahertiana (2015) Zu Beginn des neuen Jahrtausends hält schon Putin, nicht mehr Jelzin, die Neujahrsansprache (in Vitalij Manskijs Filmen zu sehen). Ich ziehe nach Leipzig und mache ein Praktikum im Kino meiner Nachbarin. Paralleles Kino aus dem sowjetischen Untergrund. Ich präsentiere eines der persiflierten Objekte, Pyr’evs Traktoristy (1939 – ein Musical quasi über die bevorstehende deutsche Invasion). Im Publikum ist Fred Gehler, Direktor von Dok Leipzig. Zwanzig Jahre gehöre ich danach zum Team dieses Festivals, das seinen Ostcharme und sein enormes Kultur-Knowhow über die Jahre leider einbüßen wird. Ich lerne Tamara Trampe kennen, die mich mit allen wichtigen Filmemacher*innen ‚der Region‘ bekannt macht, mit Loznitsa, Manskij, Dvorcevoj, Chašcevackij, Asliuk & Co., und die mir vermittelt, dass Filme auch von (Bild-)Moral handeln. Später fahren wir gemeinsam zur Flahertiana nach Perm’ und zeigen ihren letzten Film, Meine Mutter, ein Krieg und ich. Russische Omas weinen im Kino über den Film der Deutschen mit Familie ‹dort›. Kehrseiten des Großen Vaterländischen Kriegs (Genderwende inklusive). Wir erkunden die Gegend. Das einzige Gulag-Museum des Landes (Perm’ 36) ist nicht mehr in der Hand von Memorial, Russland wird gedächtnislos, der Staat übernimmt die Vergangenheitsbewältigung, Strategie: totale Diskursverwirrung. Wieder ist Krieg. Memorial verboten. Telefonat mit Frido, ihrem Mann: Alle interessierten sich jetzt für die Frage, ob sie sich als Russin oder als Ukrainerin verstand. Sie dachte nicht in diesen Kategorien. Glück im Unglück, dass sie diesen Irrsinn nicht mehr erleben muss. Was sie sicher wusste: Es ist ein Privileg von Menschen mit Geld und EU-Pass, sich über Identitäten keine großen Gedanken machen zu müssen. 

Dok.Leipzig 2014. Maidan (Loznitsa), All things ablaze (Techcinskij), varja (Polunina). Skandal einer Podiumsdiskussion. varja war ein Täuschungsmanöver, P. nennt die Ukrainer ausfällig «bydlo» (Dreckspack), T. bleibt die Spucke weg, L. beißt zurück. P. entschuldigt sich, aber nur bei mir. Ihren nächsten Film Svoja respublika von 2018 lehne ich dennoch ab, pro-russische Propaganda. Politische Zensur, fragt mein Freund Boris, gegen eine der besten in Russland? Ja, sage ich. 

Belye Stolby, bei Moskau (2015–2017) Das Archivfestival des Gosfil’mofond blüht unter Petr Bagrov noch einmal auf. Er wird demontiert (von seinem Chef, dem Depardieu-Freund) und denunziert (von wem, bis heute ein Rätsel). Auch uns Festivalgäste quält der Chef. Hängt ein riesiges Plakat vor den Aufzug. Konterfei und Zitat Miloševics, sinngemäß: «Russisch-ukrainisch-belarussische Brüder, legt Europa, diese wild gewordenen Hunde, an die Kette». Den mutigen Protestbrief der Kolleg*innen dürfen wir Ausländer*innen nicht unterschreiben. Sie verlieren dennoch ihre Akkreditierung. Der ukrainische Delegierte, seit der ersten Festival-Edition an Board, kommt freiwillig nicht mehr. 

Docu Days, Kiev (2018) Ab 2018 mehr litauische und ukrainische Festivals. Docu Days laden mich in die Jury des nationalen Wettbewerbs. Das Festival leiten toughe, junge, mehrsprachige Frauen, die den Westen besser als ihren östlichen Nachbarn kennen, und die Filmindustry-Netzwerke besser als ich. Heraus ragt Darya Bassel, heute eine der wichtigsten Produzentinnen im ukrainischen Kino, ihr Film Butterfly Vision (Regie: Maksim Nakonechny) läuft im Kriegsjahr 2022 in Cannes. Gleich nach Kriegsbeginn gründete sie einen Hilfsfond zur Unterstützung von Kameraleuten, die sich entschieden haben, zu bleiben und über den Krieg zu berichten. Darya gibt dem angeblichen «Irrsinn» der Forderungen nach einer Suspendierung russischer ­Kultur während des Krieges ein sachliches Gesicht und sie ist dabei nicht die einzige. Mir wird die Relevanz immer klarer. Solange russisches Steuergeld in die Kriegs­maschinerie fließt, darf es von uns nicht mitproduziert werden. – Auch Alina Gorlova lerne ich 2018 beim Festival kennen. Ihr Film No Obvious Signs ist das Porträt einer traumatisierten Soldatin, die sich der Scham stellt – zu sagen, welche psychischen Folgen dieser Krieg hat, eine Therapie zu beginnen. Er bleibt die Ausnahme in einem Dokumentarfilm-Jahrgang, der nur ein Thema hat: den Krieg im Donbass, der von den meisten im Combat-Stil abgehandelt wird. Die Freilassung Oleh Sencovs wird gefordert, vor jedem Screening. Danach der Ruf «Ruhm der Ukraine» – «Den Helden Ruhm». Ich stehe irgendwann mit auf, aber mitschreien kann ich nicht. Vier Jahre später klappt der erste Teil der Formel. Bei «Ruhm den Helden» aber assoziiere ich immer noch Vladimir Sorokins Obelisk, mein Intertextualitäts-­Beispiel im Grundkurs. Bei Ruhm denke ich an Heil und mir wird unwohl, und Helden waren immer schon ein Konzept von Gestern. Doch alle Pointen unserer Konzepte und Theorien werden von der banalen Realität brutal überholt. Vorbei auch die Idee, dass der Post-Kommunismus Zukunft war. 

Odessa (2019) / Sochi (2019) Odessa, ein Festival mit internationalem Format. Industry-Plattform für alle Länder «der Region», nur nicht für Russland. Blinder Fleck. Open Air auf der Potemkin-Treppe. Das Schwarze Meer ist ebenso verdreckt und voller Quallen wie in Sochi, wo beim nationalen russischen Festival Kinotavr (unter der Leitung des Ukrainers Aleksandr Rodnjanskij, dessen Sohn heute Wirtschaftsberater Zelenskijs ist) weiterhin kräftig der Spagat geübt wird – zwischen liberalem Arthouse im Wettbewerb und Auftrags-Blockbuster auf dem Hauptplatz, zwischen den staatlichen MinKult- und den privat-oligarchischen Filmförderbandagen also. 

Venedig (2020) Special-Jury-Award für Koncalovskij (Dear Comrades!). Unter tosendem Applaus widmet er den Preis seinem Mäzen. Niemand scheint zu wissen: Dies ist Oligarch Usmanov, der öffentlich Naval’nyjs Tod forderte. Noch niemand weiß, dass N. tatsächlich vergiftet wurde. 

Odessa (2021) Beachparty mit Stop-Zemlia-Regisseurin Kateryna Gornostai und Produzentin Natalia Libet. Katya bleibt nach Kriegsbeginn «zu Hause» in Kiev und versorgt die Soldaten der territorialen Selbstverteidigung, sie sendet mir Nachrichten aus dem Bunker. Natalia hält ihre in alle Richtungen verstreute Filmcrew zusammen und schickt am 24.02.2022 noch fünf Projektanträge ab. Zwei Heldinnen des Alltags. Ruhm den Heldinnen. 

St. Petersburg (2021) Einladung in die Jury des «New Holland» Debüt-Festivals, mit Zara Abdullaeva, deren Bücher, und kazakh maverick Adilkhan Yerzhanov, dessen Filme ich liebe. Dass Roman Abramovic bezahlt, weiß ich. Zu einem Dinner fliegt er ein, flankiert von Bodyguards und Renata Litvinova. Diese tritt nach Kriegsbeginn mit ihrer Freundin Zemfira gegen den Krieg auf. Nikita Michalkov, immer noch Zar am Hofe des Moskauer Internationalen Filmfestivals (das zunächst schweigt, dann verschiebt), veröffentlicht ein Video, in dem er alle Vaterlandsverräter*innen vorführt, darunter Renata – und Kirill Serebrennikov. Ich besuche – vielleicht ein allerletztes Mal – Aleksandr Sokurov. Das persönliche Duell mit Putin hat er längst verloren. Ich ahne, dass er es weiß: Der Krieg ist unvermeidlich. 

Februar 2022 Zwei Tage vor Kriegsausbruch nimmt sich meine Freundin Christine Gölz das Leben. Wie ich filmaffine Slawistin, sie hilft mir bei der goEast-Retro Reluctant Feminism. Ihre Heldin: Lana Gogoberidze. Christine war hypersensibel und glasklar im Verstand, über sie begann auch ich die tektonischen Verschiebungen im Minenfeld der Kultur wahrzunehmen, ab 2012ff erfasste uns eine veritable Polit-Depression. Dieses surreale Ende unserer Wahlheimat mitzuerleben, blieb ihr erspart. R. I. P. 

Tag 28 (ein nicht abgeschickter Brief) Nach Tagen des eskalierenden Streits rund um die Forderungen nach einem Boykott russischer Kultur und den Ausschluss Sergej Loznitsas aus der ukrainischen Filmakademie verkneife ich mir ein öffentliches Statement. Ich bin mit beiden Seiten befreundet, versuche beide zu verstehen. Ich sehe nur eines: Ihr Streit ist Wasser auf die Mühlen unseres Zauderns bei Konsolidierung und Solidarisierung. Ich schreibe einen Brief an meine ukrainischen Film-Kolleg*innen, schicke ihn dann aber nur an Katya ab. Ich schildere meine Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit und versuche die hier stattfindenden Debatten, inklusive den Zusammenhang mit den zuerst verweigerten, dann zögerlichen Waffenlieferungen zu erklären. Ich erzähle von den Bannern am Gebäude der Akademie der Künste vor dem Brandenburger Tor und wie aus «Stand with Ukraine» in blau-gelb bald «Stop the War, Start Negotiations» in schwarz-weiß wurde. Meine Welt auch hier vor Ort ist voller kleiner Erschütterungen, für die Worte zu finden immer schwieriger wird. Meine Freund*innen aus ‹dem Osten› verstehen nur eines nicht: Wie ein Nato-Mitglied so gegen die Nato sein kann. 

Tag 48 (ein nicht veröffentlichter Text) Ich quäle mich mit der Fortsetzung des Textes «Und plötzlich ist Krieg», der in der epd 4/22 erschienen war. Sachlichkeit scheint keinen Sinn mehr zu haben, angesichts des nationwide ausgetragenen Meinungsäußerungswettbewerbs, in den sich unsere zahlreichen «Stand-With-Ukraine»-Kampagnen längst verwandelt haben. Für die Zeitschrift schreibe ich einen Nachruf auf Mantas K., unveröffentlicht bleibt:

Das Schreiben über den Krieg in der Ukraine und die (Film)Kultur bedarf einer Fortsetzung. Weil es einfach nicht aufhört, immer weiter geht, die Kriegsverbrechen immer gewalttätiger, die unschuldigen Opfer immer mehr werden, der russländisch-imperialistische Großchauvinismus längst seine russisch-patriotische Z-Faschismus-Fratze öffentlich und zur Speerspitze seiner niederträchtigen Propagandaschlacht gemacht hat, die lauffeuerartig über und in die oppositionsgesäuberte Augen-Ohren-Hirn-Masse zieht, und weil mich Anfragen erreichen, bitte über Nacht zu erklären: ab wann dieser Irrsinn los ging; ob er überhaupt je ein Ende gefunden hatte; wie er sich im Blockbuster-Kino der letzten Jahrzehnte abbildet und ob er an Regie-Namen und Film-Titeln festgemacht werden kann etc. – und nicht zuletzt, weil mit dem noch so jungen Regisseur Mantas Kvedaravicius ein erster Prominenter unserer Zunft hingerichtet wurde beim Versuch, Menschenleben zu retten und das Unvorstellbare dieses Kriegs festzuhalten – weil business as usual immer unwahrscheinlicher und vor allem unmöglicher wird und sich darüber, was das für uns heißt, für das Land, in dem Gedichte nach 1945 unmöglich geworden waren, nun jeder Mensch und jede Kultureinrichtung mit einem Gewissen sich Gedanken machen muss, besonders darüber, welche Filme zeigbar und welche Worte überhaupt noch sagbar sind, während die Bomben und Raketen immer weiter fliegen, sich die Panzer stets neu formieren und wir nach den Gräuel-Szenarien von Mariupol, Charkiw, Tschernihiw, Butscha oder Irpin nun gleichsam darauf warten, dass auch noch über die im Kino erst berühmt gewordenen Treppen von Odessa Blut fließen wird und sich die Filmwissenschaft mit Kamera und Schnitt nicht mehr im Zeichen der kanonisch gewordenen Analyse attraktiver, assoziativer oder kontrastiver Montage-Techniken beschäftigen wird, sondern sie als Instrumente braucht für die Auswertung von Verbrechen historischen Ausmaßes … weil sich mittlerweile alle Anführungszeichen erübrigen, die einst Sinn ergaben, und Begriffe wie Propaganda (die wir der Medienwissenschaft überlassen hatten in der Annahme, sie würden sich erschöpfend klären) als unsere Wahrnehmung unterwandernde Realien wiederkehren; weil selbst die erkenntnisreichsten Diskurstheorie-Seminare sich als unwirksam erweisen, wenn es darum geht, allen, wirklich allen verständlich zu machen, dass das, was sich Anti-Faschismus nennt, selbst Faschismus sein kann; weil lange eingeübte Haltungen nur allmählich erodieren; weil Ideologien wieder aus den verstaubten Regalen geholt und revidiert werden müssen; weil keine politische Kategorie mehr zu stimmen scheint; weil Kolleg*innen beim Meinungsbilden und Meinungsmachen endlich ins Wanken geraten (die sozial kompatibleren unter ihnen); weil intellektuelle Unsicherheit von einer kulturanthropologischen Konstante zur notwendigen menschlichen Qualität geworden ist (Stichwort: Empathie, Affekt, Immersion) und dennoch stündlich das Bedürfnis wächst, die sich körperlich manifestierende Sprachlosigkeit exorzistisch auszutreiben und endlich wieder aufzutauen, anzuhalten und stehen zu bleiben, Halt zu finden, den Boden unter den Füßen zu spüren, Distanz zu gewinnen, Nähe zuzulassen (Dinge, die wir für unser tägliches Brot, das Schauen von Filmen, so notwendig brauchen); weil mich selbst immer öfter das Gefühl überkommt in all den gegenstandslos-weil-inadäquat-gewordenen Pazifismus-Debatten der linken Film-und-Kultur-Community, dass Kenntnis und Verständnis im Moment oft mehr schadet als es hilft (weil es betroffen macht und mit-traumatisiert); weil unsere Empörungskultur Erschütterungen erfährt, wir aber dennoch nicht müde werden, uns reflexartig den Mund über diese jetzt offenbar «verrückt» gewordenen Menschen zu zerreißen, die zu Boykotts aufrufen und anderen die Zugehörigkeit zu ihrer Schicksalsgemeinschaft absprechen (was nehmen wir uns eigentlich heraus?!); weil unsere cine-philen Träume und cine-affinen Lebensweisen überflüssig, luxuriös, pervers, zynisch, despektierlich oder zumindest anstandslos scheinen angesichts der realen Alpträume und Todesarten; weil unser Metier der Wahrnehmungslehren zu kollabieren droht, indem es sich die Frage stellen muss, wie es sein kann, dass das Nicht-Hinschauen für den (klaren) Blick, dass das Nichts-Sagen für die (klare) Haltung im Moment naheliegender ist als das, was wir kennen und können, weil wir es gelernt haben: sehen, denken, analysieren, kritisieren, interpretieren, vermitteln – weil kein Stein auf dem anderen bleibt zur Zeit, weil uns die Angst in die Hose rutscht und die Scham ganzkörperlich erfasst; weil wir mit unseren anmaßenden (ihrerseits empörenden) Forderungen («Verhandlungen jetzt») und dem teils ignoranten, teils arroganten Westplaining aufhören müssen und die Betroffenen endlich hören sollten, lesen, ihre Filme sehen und mit ihnen über ihre Filme sprechen, über ihre Not also, über unsere Blindheit, über den Schmerz, den sehen bereiten kann, und über unsere gemeinsame Hoffnung, dass Befreiung möglich ist.

Tag 56 – Tag 61 (goEast, Wiesbaden) Nach intensiver Diskussion und einigen für die Festivalleitung harten Wochen beschließt goEast als eines der wenigen Festivals, keine vom russischen Kulturministerium bzw. von oligarchischen Filmfunds geförderten Filme zu zeigen. Die Entscheidung fiel als Reaktion auf den Aufruf der ukrainischen Filmcommunity, nicht unter Druck. Das zweistündige sehr gut besuchte Panel, auf dem alle wesentlichen Argumente rund um kulturpolitisches Handeln während des Kriegs diskutiert wurden, kann man auf der Webseite des Festivals finden. Loznitsas Babyn Jar sehen mehr Leute als die beiden ukrainischen Filme zusammengenommen, Klondike von Maryna Er Gorbach und Terykony von Taras Tomenko. 

Tag 76 – Tag 80 (Comer See) In der Villa Vigoni wird über die Transnationalität der wichtigsten europäischen Filmhochschulen nachgedacht. Ich erzähle von den Ukrainer*innen am Moskauer VGIK. Das Ergebnis ist ernüchternd. Unsere Kategorien und Methoden passen nicht, wenn es um den inner-sowjetischen Kolonialismus geht. Dass es um diesen geht, belegen die Studien Serhii Trymbachs zu Oleksandr Dovženko, der noch bis vor wenigen Jahren Aleksandr war. Trymbach hat Dovženkos Tagebücher veröffentlicht. Man sollte sie alsbald übersetzen. 

Tag 83 – Tag 91 (Cannes) Das Schedule gibt die Diskussions-Trajektorien vor. Zu Beginn – und bis zum Schluss das vorherrschende Thema: Serebrennikovs Film über die Frau des Komponisten Tschaikowski. Sie versteht (zu) lange nicht, dass er schwul ist, kämpft vergeblich und verhärtet um seine Liebe. Unterschwellige Misogynie in einem historischen Film, der keinen rechten Sinn macht. Nach der Premiere dankt der Regisseur Publikum und Festival für die Unterstützung in «schweren Zeiten» und sagt noch «die Worte, die jetzt alle hören wollen: Nein zum Krieg». Hätte er sie auch ohne implizite Aufforderung gesagt? Wollte er seinen Auftritt bei der Pressekonferenz austarieren, wo er für den Stopp des «unerträglichen» Boykotts der russischen Kultur warb, und um Gnade für Abramovic, den ‹guten Oligarchen› und Förderer der russischen liberalen Filmkultur – was für Reaktionen und Spekulationen aller Art sorgte. Über seinen anderen Mentor Vladislav Surkov sprach er jedenfalls nicht, was auch besser ist, denn dessen ideologische Fantasien sind sehr viel «unerträglicher» als alle ukrainischen «Forderungen» zusammengenommen. Dieser Meinung ist wohl auch Agnieszka Holland, die der Festivalleitung mitteilt, dass Cannes besser ohne Serebrennikov hätte stattfinden sollen. Erfolgreich zwar, aber nur in der zweiten Reihe laufen die beiden ukrainischen Debüt-Spielfilme Pamfir von Dmytro Sukholytkyy-Sobchuk und Butterfly Vision – junges Kino über das Trauma des Krieges. Zu Loznitsas Footage-Film über die Bombardierung der deutschen Städte durch die Alliierten mit dem Sebald-Titel The Natural History of Destruction kommen viele. In seiner Einleitung verurteilt er die Bomben der russischen Armee, bekräftigt das Durchhaltevermögen der Ukraine und endet – erstmals, soviel ich weiß – mit den Worten «Ruhm der Ukraine». Das ist viel, steht er doch gleichzeitig auf der Seite der Boykott-Gegner und scheint mich für leicht verrückt zu halten, als ich ihm von meinem persönlichen Dekolonialisierungsprojekt erzähle, das mit dem Erkunden der ukrainischen Sprache und Filmlandschaft beginnt. Langsam, aber sicher. Beim Eisessen mit einem Filmredakteur – wir besprechen, welche Themen angesichts des Kriegs von Relevanz sind – kracht es am Himmel, ein Sound-Strahl bahnt sich über unsere Köpfe, die Ohren werden taub. Zittern. Die Fliegerstaffel hinterlässt eine Spur in Rot-Weiß-Blau. Da war doch was. Ergibt die Formation ein Z? … Wessen Trikolore ist das? … Die Simulation eines Luftkriegs, unsensibel und pervers, sündteure Werbung für Top Gun. Maverick, so sinnlos wie die Fliegerschau auf dem Roten Platz, der ich einmal bewohnte. Dabei ist es einer von drei Lieblingsfilmen im Kriegs-Cannes-Jahr 2022, neben Skolimowskis Esel-Film Eo und Serras irrem politics-as-disco-Trip Pacifiction. Wie vielen Cannes-Reisende des Film-Circuits gilt meine Aufmerksamkeit am Samstag ganz den kommenden ukrainischen Projekten, der ungewissen Zukunft also einer ungewissen Branche eines ungewissen Landes. Existenzbedrohungen aller Art. Auf dem Spiel steht: Leben, Überleben. Mariupolis 2 von Mantas Kvedaravicius macht das so deutlich wie kein anderer Film. Jeder Walk-Out der Kolleg*innen macht mich wütend. Was haben sie sich erwartet? Mehr battlefield-action? – Von einer ukrainischen Produzentin lasse ich mir die letzten Stunden im Leben des litauischen Anthropologen mit der Kamera schildern. Es ist, wie könnte es anders sein, unfassbar. «Unerträglich».

PS: Je länger dieser Krieg dauert, umso sagbarer werden die Worte, umso schwerer aber wiegen sie. Wir alle müssen lernen, mit diesem Krieg umzugehen, müssen verstehen lernen, was er bedeutet, für uns und die anderen, welcher Worte und Verhaltensweisen es bedarf. Wider die Verwirrung gilt für mich: Ruhm der Ukraine – und allen Held*innen.