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Heilende Gegenträume Ein Lehrgang in zeitgenössischer Awareness: Zur Berlin Biennale Still Present

Von Michaela Ott

© Berlin Biennale

 

So groß und gewichtig war sie noch nie. Unter dem Titel «Still Present» behauptet die Berlin Biennale zunächst nur ihre Wiederkehr. Und doch bespielt sie diesmal keine Hinterhöfe und Brachen, sondern die eingeführtesten Kunsttempel der Hauptstadt samt Stasi-Zentrale auf dem Campus für Demokratie.

Damit zeigt sie bereits an, dass es nach den verspielten Kunstexperimenten der letzten Biennalen nun ernst wird, da es um künstlerische Erforschung vielfältiger Formen von Weltbeschädigung geht: Kader Attia, Künstler und Hauptkurator mit weiblich-fünfköpfig-diversem Team, zielt auf die Reflexion neuralgischer Zonen und Zeiten, auf Arten der Rückgewinnung und fordert nicht nur symbolische Reparatur. Für ihn als Auch-Algerier ist Frantz Fanon einer der Gewährsmänner, der zu heilenden Gegenträumen ermuntern soll.
Rund um die Themenschwerpunkte zu dekolonialer Ökologie, feministischer Wiederaneignung von Geschichte, Erinnerung und Emotion werden Ausstellungsarrangements, diskursive Formate und Rundgänge angeboten, die gelegentlich nur für von Rassismus betroffene Personen vorgesehen sind. Einige der leitenden Fragen lauten: Wie kann navigiert werden zwischen BIPoC-Künstler:innen und Angehörigen ehemaliger Kolonien, zwischen dem verblassenden Erbe Indigener Praktiken und dem Versprechen forensischer Untersuchung alter und neuer Formen von Unterdrückung – und dem Anspruch auf symbolische Kompensation?

Entsprechend dem Vorwurf verschiedener Vortragender im Begleitprogramm, dass die Interdependenz von Moderne, ökologischen und rassistischen Verwerfungen bis heute nicht ausreichend reflektiert worden ist, widmen sich die künstlerischen Arbeiten verschieden lokalisierten Varianten dieses Themas – was die Ausstellung zunächst erfreulich informativ, auf die Dauer dann aber doch zu einem ermüdenden Lehrgang in zeitgenössischer Awareness werden lässt. Zwar unterscheiden sich die Ausstellungsorte in ihrer Schwerpunktsetzung und doch kommen sie, aufgrund der informationellen Bürde, in Form und Gestaltung aufmerksamkeitsmindernd überein.

Die Akademie der Künste am Hanseatenweg widmet sich bevorzugt dem Thema ökologischer Sorge. Sammy Baloji aus der Demokratischen Republik Kongo ruft gleich eingangs mit einer Gewächshauskonstruktion, in der sich Pflanzen an der eigenen Feuchtigkeit nähren, zum Stop des Artensterbens auf. Sein Augenmerk gilt aber vor allem dem historischen Erbe der Region Katanga und ihrer Hauptstadt Lubumbashi, in der das koloniale Urban Planning mittels Segregation der Bevölkerung entlang des Cordon Sanitaire erfolgte, was die Stadt in eine moskitofreie und -belastete Zone teilte – wie am ausgelegten Kartenmaterial zu ersehen ist.
In ähnlicher Weise entfalten sich zahllose Ausstellungsdispositive vor allem als textliche Statements, mit Bild- und Sounddokumenten unterlegt: Kunst als eigendynamische Setzung tritt hinter Kunstaktivismus zurück. Dafür werden unter Überschriften wie «Imperial Ecologies» und «Environmental Racism» zeitgenössische «Regime der Unsichtbarkeit» videotechnisch erhellt. Der Initiator von Forensic Architecture, Eyal Weizman, reklamiert denn auch «Expanded Aesthetics», da Fragen der Skalierung bei der digitalen Fixierung von Umwelt- und anderen Verbrechen mitzubedenken sind.

Das Thema Krieg ist an allen Ausstellungsorten präsent, allerdings in erweitertem Sinn: als «weaponizing of air, water and ice», als Zerstörung von Landschaft, von Luft- und Lebensräumen, als Massaker an Palästinenser:innen und anderen Ethnien, als «Cold Cases» kanadischer Indigener, die von Polizisten dem Tod durch Erfrieren ausgesetzt werden. 

Forensic Architecture, an mehreren Schauplätzen der Biennale zugegen, versammelt unter «Cloud Studies» digitale Präsentationen biotechnologischer Kriegsführung, die wahlweise gegen Protestbewegungen, Bevölkerungsteile, Landstriche oder Nachbarregime zum Einsatz kommt. Als die gegenwärtig am häufigsten eingesetzten Waffen werden Chlorin, weißer Phosphor, Glyphosat, Methan, Tränengas, aber auch die Strangulierung von Flüssen ausgemacht. Aufzeichnungen karzinogener Tränengaseinsätze in urbanen Zentren zahlreicher Städte wie Tijuana (Mexiko), in Hongkong, Portland oder Santiago de Chile bringen u. a. zum Vorschein, dass das Tränengas bis in die Wohnräume umliegender Gebäude vordringt und Bevölkerungsgruppen schädigt, die am Tathergang gar nicht beteiligt sind.

Dank der molekularisierten Perspektive wird in zahlreichen der künstlerischen Dokumentationen die Doppelstrategie von ökologischem Raubbau und rassistischer Aggression sinnfällig, so wenn israelische Pflanzer die ausgestreuten Pestizide vom Wind in Richtung Gazastreifen tragen lassen. Palästinenser:innen stehen bei dieser Berlinale auffallend häufig im Zentrum der Beachtung, wie überhaupt der nordafrikanisch-vorderasiatische Raum. So dokumentiert auch die Künstlerin Dana Levy in Erasing the Green die ökologische Zerstörung besetzter Gebiete in Israel.

Die künstlerische Kriegsberichterstattung erweitert sich in der Folge hin zur Analyse verseuchter Landstriche und künstlich herbeigeführter Erdbeben, die auf solch biologische «Wolkenbomben» zurückgehen sollen und auch als Ergebnis französischer Kernwaffentests in der algerischen Wüste oder in der Demokratischen Republik Kongo ausgemacht werden, von Ammar Bouras in Fotokollagen und visuellen Ablichtungen des zurückgelassenen Fässermülls dokumentiert.

Susan Schuppli und Imani J. Brown prangern zudem Arten petrochemischer Landzerstörung mittels Ölförderanlagen und Pipelinestrukturen im US-amerikanischen Siouxland und den Flutungszonen der Wetlands an. Gegen die Zerstörung des Lebensraums des antarktischen Eises plädiert Schuppli für die Vergabe von «cold rights» an Dakota und hebt diesen Anspruch in Wortspielen wie «just-ice» hervor. Aber auch Gegenwehr Schwarzer und Indigener Aktivisten und deren Forderungen nach indigenen Rechten und Ökoreparatur werden expliziert.

Der asiatische und ostchinesische Raum untersteht ebenfalls der künstlerischen Anklage ökologischen Raubbaus im hiesigen Ausstellungsgeviert: Mai Nguyen-Long weist mit einer Reihe von in Reagenzgläsern eingelegten Puppenrümpfen auf die in Vietnam durch Agent Orange induzierten Körperverstümmelungen hin. In der Ballade vom ostchinesischen Meer evoziert Dao Chau Hais Großinstallation wellenförmig angeordneter Metallklingen die sich verschärfenden Streitigkeiten um Gewässerhoheiten im Pazifik. Die umfängliche Videokollage von Tuan Andren Nguyen wiederum führt das Artensterben in Vietnam aus der Perspektive eines ausgestorbenen Nashorns vor, das sich über die chinesische Jagd auf sein angeblich aphrodisierendes Körperteil lustig macht.

Französischer und chinesischer Kolonialismus lassen die Tiere das Manifest formulieren: «Freiheit vom Menschen».
Besonders politaktivistisch und künstlerisch nachlässig geht es in den Rieckhallen des Hamburger Bahnhofs zu. Zahlreiche Videoinstallationen mit unterschiedlich großen Screens, häufig hintereinander geschichtet, klagen u. a. undemokatische Rechtsverhältnisse an: Basel Abbas führt Überwachungsbilder fliehender Palästinenser und deren Rückführung durch israelisches Militär im Wechsel mit Aufnahmen blühender Felder vor. Amal Kenawy aus Kairo bietet Aufzeichnungen einer stadträumlichen Performance aus der Vor-Tahrir-Platz-Zeit, in der Personen allen Alters unter dem Titel «Silence of Sheep» auf allen Vieren durch die Straßen Kairos kriechen, bis sie von Passanten angehalten werden – mit dem Vorwurf, dem Image Ägyptens zu schaden. Welches Bild des Landes würde hier denn verbreitet?

Laut reihen sich hier künstlerische Manifeste politischer Anklage hintereinander: Seien es Bilder eines Treffens irakischer Personen auf einem Schrottplatz, um über die fortgesetzten Detonationen von Bomben im Stadtraum zu sprechen (Layth Kareen), oder solche von Polizeigewalt gegen Afroamerikaner:innen in den USA, die auf Baumwolltapisserien in optischer Verzerrung comicartig wiedergegeben sind (Noel W. Anderson). Abstoßend gewaltaffin präsentiert sich schließlich ein labyrinthisches Kabinett mit übergroßen Fotos zu Folterszenen in Abu Ghraib (Jean-Jacques Lebel) – aus Protest gegen das Werk zogen irakische Künstler ihre Arbeiten zurück.
Am Nachhaltigsten, weil auch künstlerisch ansprechend, ist eine Installation kreisförmig angeordneter Leinwände von Tuán Andrew Nguyen, welche die Verflechtung senegalesischer und vietnamesischer Geschichte als mehrgenerationale Bild-Ton-Erzählung nachdenklich und in ruhigem Wechsel der Sprecher:innen präsentiert. Nachgetragen wird die Episode des Einsatzes von Tirailleurs Sénégalais im französischen Indochina-Krieg: Von einer Vietnamesin vor dem Soldatentod gerettet, nimmt der senegalesische Kämpfer diese Frau in seine afrikanische Heimat mit und begründet dort eine multiethnische Großfamilie. Die Erinnerungen der verschiedenen Nachkommen werden in zeitlichen Sprüngen und als raffiniert verflochtene Kollage im Duktus des Zweifels präsentiert. Das zeitlich verschobene Einholen der Geschichte und der Anstrich des Nicht-genau-erinnern-Könnens verleihen der Rekonstruktion einen angenehm reflexiven Charakter und lassen für einmal die ästhetische Form mit der Aussageabsicht konvergieren.

Der problematischste Part der Biennale ist just die «der feministischen Wiederaneignung von Geschichte, Erinnerung und Emotion» gewidmete Abteilung in den Kunstwerken, da sie ins Nähkästchen-Betuliche abzugleiten droht. Zwar wirft die Historikerin und ‹arabische Jüdin› Ariella Azoulay (cargo 2) die Frage der Beteiligung von Frauen am Indochina- und Algerienkrieg, aber auch der Vergewaltigung deutscher Frauen durch russisches Militär gegen Ende des Zweiten Weltkriegs anhand von Bildmaterial, Büchern und Zeitschriften auf. Zwar verweist Zuzanna Hertzberg mit Fotos und Texten auf den Widerstand weiblicher Personen im Warschauer Ghetto. Zwar ergänzt Simone Fattal die Problematik Palästinas noch einmal um den weiblichen Aspekt. Zwar holt Deneth Piumakhi tamilische und singhalesische Frauen, die mit Afrikanerinnen in einen Archiv-Topf geworfen wurden, aus den entsprechenden Schweizer Behörden heraus und stellt sie ansatzweise in ihre Heimat zurück.

Und doch finden sich diese Positionen eingebettet in eine Gesamtinszenierung aus gestickten Texten zu körperlicher Befindlichkeit, aus wandumspannenden Vulva-Serien, aus Stoffen mit eingenähten Gesprächen, aus raumumspannenden, auf Sklaverei verweisenden Kunsthaargeflechten und anderen kunstreklamierenden Taktiken wie Stricken als Therapie, welche sie ihrer transindividuell-soziopolitischen Bedeutung berauben.

Allerdings erinnert der melancholische Spielfilm Path to the Stars von Monica de Miranda noch einmal an Freiheitskämpferinnen in Angola. Und auch die Videoarbeit der Deutsch-Vietnamesin Maithu Bui bietet abschließend einen wohltuend politischen und zugleich traurig-komischen Nachtrag in Sachen deutscher Geschichte: Als Nachgeborene der vietnamesischen Einwanderer in die DDR erzählt sie von der durchgängigen Überwachung der Gastarbeiter:innen durch die Stasi und vor allem vom Export des Staatssicherheitssystems nach Vietnam und der Ausbildung des vietnamesischen Geheimdiensts durch DDR-Schergen. Dass die Ostdeutschen es dagegen wie die Westdeutschen an der Beobachtung der rechten Szene haben fehlen lassen, wird von ihr als erlebte Bedrohung eindringlich nahegebracht.

In einem der Vorträge des Begleitprogramms beschwört der gabunische Philosoph Joseph Tonda in Umdeutung von Fanons Terminus der «aggressiven Träume» die Notwendigkeit positiver Gegenbilder herauf. Das alte Dispositiv afrodystopischer Realität müsse überwunden, Träume von einer besseren Welt phantasiert werden. Gefordert wird auch andernorts, dass in die dekolonialen Ökologie-Ansätze solche der «mar­oon ecologies» und widerständige Haltungen integriert werden, auf dass ökologisch-antirassistische Reparatur überhaupt möglich wird. Auch angesichts des deutschen Beitrags zur Kolonialgeschichte von Jürgen Zimmerer als einschlägigem Historiker steht erneut die Frage im Raum: Wo leistet hier eine symbolische Setzung einen Ansatz von Reparatur? Kann sie das überhaupt? 

 

Die Berlin Biennale «Still Present» ist noch bis zum 18. September 2022 zu sehen