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Multiple-Character-Videos

Von Stephan Herczeg

Schon seit längerer Zeit besonderen Gefallen an sogenannten «Multiple-Character-Videos» gefunden. Also an kurzen Reels oder TikToks, oder wie man diese filmischen Artefakte auch immer nennen mag, mit Dialogsituationen zweier Personen, die aber nur von einer einzigen Person gespielt werden. Besonders mag ich daran das Laienspielhafte, Improvisierte und Unperfekte. Fast rührt mich der filmische Gestaltungswille, der diesen Videos zugrunde liegt und vielleicht nur von jungen Menschen so unerschrocken durchgezogen werden kann, ohne sich von Filmgeschichte oder eigenen, zu hohen Ansprüchen niederknüppeln zu lassen.

Die Fertigung eines Multiple-Character-Videos ist nämlich aufwändig: Zum einen wird ein drehbuchähnliches Skript benötigt, in dem der zu sprechende Dialog schriftlich ausformuliert oder zumindest stichworthaft fixiert ist. Des Weiteren muss zur einfachen Unterscheidung der Hauptcharaktere ein rudimentäres Kostümbild angedacht werden. Zwei verschiedenfarbige T-Shirts sind hierfür meistens ausreichend, eventuell kommen noch Brille und Basecap zum Einsatz. Langhaarfrisuren weiblicher Charaktere können mittels eines über den Kopf gelegten Handtuchs problemlos simuliert werden. Als Szenenbild verwenden Instagrammer und TikToker mit mehr als zehntausend Followern einen Green-Screen-Hintergrund, auf den ein Stockfoto in beliebiger Perspektive digital draufgeklatscht wird. Newcomer stellen sich versetzt zwischen Küchentheke und Schlafsofa ihres Einzimmerapartments.

Verbindendes Element all dieser Multiple-Character-Videos ist die Verwendung des seit Stummfilmzeiten gebräuchlichen Schuss-Gegenschuss-Verfahrens, das abwechselnd, von zwei unterschiedlichen Kamerapositionen aus, jeweils einen der miteinander dialogisierenden Darsteller zeigt. Da aber eine einzige Person beide Rollen spielt, müssen zunächst alle gesprochenen Takes der Person A und im Anschluss die der Person B aufgenommen werden, natürlich unter Berücksichtigung der jeweiligen Blickachsen, um dann erst nachträglich, während des Schnitts, in die gewünschte Abfolge gebracht zu werden. Ganz schön kompliziert, Respekt!
Thematisch sind Multiple-Character-Videos breit angelegt, in der Mehrzahl komödiantisch: Auseinandersetzungen zwischen Paaren, Bestellsituationen in Restaurants, Beratungsgespräche in Kaufhäusern, am Flughafenschalter oder beim Arzt. Ziemlich perfekt inszeniert sind beispielsweise Fabi Rommels Kumpelkonversationen mit bis zu fünf von ihm gespielten Personen. Das Ende der Videos ist sogar so konzipiert, dass sich die Reels im Loop abspielen lassen. Ein anderes beliebtes Sujet sind fremdsprachliche Homophone, also gleich ausgesprochene, aber verschieden geschriebene Ausdrücke unterschiedlicher Bedeutung, wie sie bekanntermaßen im Französischen häufig vorkommen. Hier wurde Jeremy Grimaudo mit seinem (sehr lustigen, aber schlecht nacherzählbaren) Video Un ver vert va vers un verre vert zum TikTok-Star mit einer Million Follower. Ernster geht es in den Reklamations-Videos des französischen Instagrammers Masdak zu, deren Green-Screen-Schrottigkeit mir besonders gut gefällt. In ausschließlich passiv-aggressiven Gesprächssituationen werden Reklamationen für ausgefallene Flüge, verspätete Züge oder Hotelzimmer ohne Meerblick vor Ort juristisch fundiert eingefordert und unter Benennung der entsprechenden EU-Richtlinie rigoros durchgesetzt. Wie nie im richtigen Leben, super toll!