Ogau
Wenn man im Sommer 2022 durch Oberammergau geht, fragt man sich schon ein bisschen, in was für einem Film man da gelandet ist. Männer jeden Alters mit wallendem Haupthaar und Rauschebart, wohin man auch sieht. Sie lugen hinterm Steuer von Geländewagen hervor oder treiben störrische Ziegen in Richtung Passionstheater (die sind neben Pferden, Eseln, Tauben und sogar zwei Kamelen fester Teil der Besetzung, so sie denn wollen). Die jüngeren Männer – Hippies auf Honorarbasis – schimmeln in Hängematten ab. Nur das Paradiso scheint uns Touristen vorbehalten. Das Paradiso ist die zentral gelegene Eisdiele, und mir will einfach nicht einleuchten, warum es dort sämtliche tollen Sorten gibt, nur «Passionsfrucht» nicht.
Weil die Passionsspiele nur alle zehn Jahre stattfinden, können die Darsteller ein paar Jahre im voraus anfangen, sich die Haare wachsen zu lassen. Diesmal hatten sie zwei Jahre zusätzlich Zeit: Während sich andere Veranstalter durch das Jahr 2021 mit tausend Verschiebungen, Absagen und Einschränkungen herumschlugen, verschob Oberammergau die Passionsspiele 2020 gleich um zwei Jahre. Man kann sagen, der Ort ist pandemiegeübt. Das Gelübde, die Leidensgeschichte Jesu alle zehn Jahre aufzuführen, entstand ja in Reaktion auf die Pest 1633, als schätzungsweise ein Drittel der Dorfbevölkerung innerhalb eines Jahres ums Leben kam. Und 1920 verschob man die Spiele aufgrund der Auswirkungen des Ersten Weltkriegs und der Spanischen Grippe ebenfalls schon mal um zwei Jahre.
Auf die Frage, wie mir das Stück gefallen hat, antworte ich, dass es beeindruckend ist. Das entspricht der Wahrheit. Von Wagner-Opern würde ich auch immer behaupten, dass sie beeindruckend sind. Ich würde nur noch hinzusetzen, dass ich diesen ganzen Bombast nicht verstehe. Bei den Passionsspielen versteh ich ihn schon: Von den 5500 Einwohnern von «Ogau», wie sie hier liebevoll sagen, machen über 1100 Erwachsene und 400 Kinder bei den Passionsspielen mit, singen im Chor oder spielen im Orchester. Hunderte Menschen fordern lautstark: Schlagt ihn ans Kreuz. Eine Menschenmasse, die Angst macht. Dieser Angst kann ich mich nicht entziehen, auch wenn ich weiß, dass Petra, die da vorne in der Menge steht, gerade noch Kartoffelsalat gemacht hat und nach der Kreuzigung ins Krankenhaus zum Nachtdienst fährt. Gerade deshalb nicht.
Ob Jesus von Nazareth vor 2000 Jahren wirklich so ergriffen von seinen eigenen Worten war, wage ich doch eher zu bezweifeln. Aber laut Offenbarung und historischem Forschungsstand war Jesus auch kein Laiendarsteller, der sechs Stunden Bühnenauftritt durchhalten musste. Bilanz: Vier wunderschöne Tage hab ich in «Ogau» verbracht. Und jedem der durchaus zahlreichen Gesprächspartner, der mir unter die Finger kam, habe ich von Pasolinis Verfilmung des Matthäus-Evangeliums von 1964 vorgeschwärmt. Die Laiendarsteller bei Pasolini (seine eigene Mutti ist die Gottesmutter Maria, der junge Giorgio Agamben ist Apostel Philippus, ansonsten italienische Landbevölkerung) sind geniale Dilettanten. Niemand kannte den Film. Man müsste mal anregen, Il vangelo secondo Matteo in Ogau zu zeigen. Das örtliche kleine Kino, das sehr süß gewesen sein soll, hat leider dicht gemacht.