praschl

… ich taste krasse Mythen in Toca Boca …

Von Peter Praschl

Neulich, als ich Sascha Lobos Spiegel-Text darüber las, warum TikTok so gut ist, wollte ich TikTok sofort auch haben. Eine Maschine, die besser als ich selbst weiß, was ich will, und mich damit füttert, klang gut, wenn auch ein wenig beängstigend. Ich habe es dann doch gelassen, weil ich bei TikTok dasselbe Gefühl habe, das ich schon bei Twitter, Tinder und Telegram hatte: zu alt, werde ich nie verstehen. Manchmal beobachte ich meine 2016 geborene Tochter bei ihrem YouTube-Gebrauch, nicht weil ich sie ausspionieren will, sondern weil sie mich darum bittet, ihr Vergnügen mit ihr zu teilen. Nimmt sich ihr altes iPhone, das ich ihr geschenkt habe, sagt der Google-Sprachsuche, was sie gerne sehen würde, scrollt sich durch die Ergebnisse, entscheidet sich nach Impulsen und Kriterien, von denen ich nichts weiß, schaut los. «Toca Boca Lifehacks deutsch», sagt sie zum Beispiel und gerät dadurch auf die Videos eines Kanals mit 400k Abonnenten, in denen einem eine Frau mit ziemlich vielen Piercings im Gesicht, einem pinken Kopfhörer mit Katzenohren und der Angewohnheit, dauernd «Leute!» zu sagen, Features des Handyspiels Toca Boca Life erklärt, das ich ihr irgendwann auch geschenkt habe: eine gezeichnete Welt, in der man gezeichnete Figuren durch Skipisten, Shopping-Malls, Hotels, Schulen, Restaurants, Spiel- und Schrottplätze und so weiter schicken kann. Toca Boca ist einerseits schrecklich mittelschichtig, konsumistisch, aggressiv idyllisch, andererseits großartig: Man kann sich sowohl eigene Häuser bauen und einrichten, als auch eigene Spielfiguren gestalten, in Hunderten Hauttönen, Körperformen, Outfits, und die Geschichten, die man sich ausdenkt, wenn man seine Spielfiguren durch die Toca Boca-Welt schickt, schreibt einem niemand vor, man findet auf YouTube beispielsweise welche über den Alltag vor und mit Corona oder über Obachlosigkeit, und falls einem die Möglichkeiten ausgehen, kann man sich auf YouTube ansehen, hinter welchen Schränken etwas verborgen ist, wie man es schafft, ein Bett fliegen zu lassen oder wo man neue Pyjamas bekommt. So etwas also macht meine Tochter, und während ich ihr dabei zusehe, bleibt es nicht aus, dass mir manchmal meine eigene Kindheit wieder einfällt, eine Kindheit, in der es den ersten Fernseher gab, als ich fünf war, so alt wie sie jetzt, Schwarzweiß, Kinderprogramm jeden Mittwoch, zuerst Kasperltheater, dann Wer bastelt mit? Völlig klar, dass das, was Menschen, die selbst mir uralt vorkommen, «bewegte Bilder» nennen, mich umgeworfen hat. Für meine Tochter sind sie allgegenwärtig. Wenn sie aus dem Kindergarten kommt und erst einmal eine Runde chillen muss, kann sie sich bei drei Streaminganbietern irgendetwas aussuchen, und falls sich nichts findet, sich auf YouTube ihre Videos ansehen, die exakt so sind, wie wir uns die Medienrevolution immer vorgestellt haben. Jeder kann sich ausdrücken, Produzent sein, die vorgefundene Welt kommentieren und völlig neu zusammensetzen, und gleichzeitig völlig anders – denn natürlich haben wir nie damit gerechnet, dass Medienrevolution Kanäle mit ein paar hunderttausend Abonnenten hervorbringen wird, deren Mission darin besteht, dass eine Frau mit Katzenohrenkopfhörern Fünfjährigen Handyspieltricks erklärt und dabei alle paar Sekunden «Leute!» sagt. Das mir Unangenehme dabei ist: Egal, wie ich es beschreibe – das Verhalten meiner Tochter, die Inhalte, in denen sie regelrecht versinkt, die Menschen, die sie mit diesen Inhalten füttern –, klingt es unangenehm, nach snobistischer Herablassung, pädagogischer Sorge, Augenrollen. Die Wahrheit ist aber: Ich finde das alles großartig. Ich kann mich nicht einkriegen über eine Welt, in der Fünfjährige imaginäre Welten bauen und mit imaginären Lebewesen bevölkern können und jemanden finden, der ihnen sagt, was in einem bestimmten Raum in der dritten Etage des Hotels versteckt ist. Das, bilde ich mir ein, ist tatsächlich etwas Epochales, das Aufwachsen in einer Welt, die völlig anders ist als die empfangsgestörte, mich mit Pädagogik fütternde Welt meiner eigenen Kindheit. Das einzige, was mich daran stört, ist der Umstand, dass ich nicht weiß, wie das alles weiter- und ausgehen wird, in 30, 40 Jahren gibt es mich ja nicht mehr. Aber vielleicht lade ich mir doch noch TikTok herunter …