provinzkinos unserer jugendzeit

Schlüssel (Dorsten)

Von Kevin Vennemann

Fast 80 000 Einwohner/innen, mehr als Bayreuth oder Weimar, gleich zwei Sternerestaurants, Goethe-Besuch-Gedenkplakette, finnische Experimentalarchitektur aus den 1960ern, außerdem das Jüdische Museum Westfalen – klingt eigentlich so, als ob in diesem Dorsten, dem selbsternannten «Tor zum Münsterland», so einiges los ist, womöglich sogar kinotechnisch. Ist es aber nicht, und war es noch nie. Der Großteil nämlich dieser 80 000 orientiert sich zur Belustigung seit jeher ins Ruhrgebiet, nach Essen oder Bochum, gelegentlich nach Köln, und zum Einkaufen geht es ins benachbarte Marl, auch nach Gelsenkirchen. Dorstens halbwegs historische Altstadt, der geografische Kern, bewirtet längst nur mehr ein paar Tausend Menschen, für die sich ein Kino kaum zu lohnen scheint. 

Das muss auch mal anders gewesen sein. Im Internet will jemand wissen, dass die Lumières in einer Dorstener Gaststätte 1895 ihre Filme zeigten, und klar gab es in den 1950er- und 1960er-Jahren Kinos – sogar eines, das HeDoLi, an das sich väterliche Zeitzeugen mit auch in Textnachrichten glänzenden Augen erinnern: «Ein Muss so ab 14 oder 15», bevor schöne Erinnerungen schrecklichen weichen: «Winnetou lässt grüßen. 😩» Das Fernsehen schlägt zu, die letzten Kinos schließen. 

1982 wird in der Altstadt dann ein Einkaufszentrum nach amerikanischem Vorbild eröffnet, und alle gehen staunend hin. Im Lippetor gibt es in den nächsten 20 Jahren alles, was es nur draußen in der Welt gab – Croissants, die Spex, Rolltreppen. Eine Benetton-Filiale, düstere Cafés für die Dorstener Hobby-Bohème, und der Cappuccino im Lippetor war mehr als nur Filterkaffee mit Sprühsahne. Marc Degens, der ebenfalls aus Dorsten stammende Schriftsteller und Gründer des Verlages Sukultur, erinnert sich schaudernd: «Die französische Lebensart in Dorsten zu genießen fiel nicht leicht, am schwersten wahrscheinlich im Bistrorant ‹Place Petite› im Lippetor unter der Rolltreppe im Untergeschoss ohne Tageslicht neben Schlecker.» Dort unten befand sich ab 1983 auch das Schlüssel-Kino (vermutlich nach dem Stadtwappen benannt). 

Wenn sich all dies arg enzyklopädisch liest, dann deshalb, weil ich, bevor ich mit 20 nach Köln entkam, überhaupt nur zweimal im Kino gewesen war und meine Kino-Jugend deshalb so ereignisarm. Beide Male im Schlüssel: 1984 mit den Eltern in Das letzte Einhorn, zweifellos Frank Zanders Karrierehöhepunkt. 1992 mit den Timmer-Brüdern in Terminator II, auch trotz FSK 16. Erinnern kann ich mich freilich kaum: verrauchter Saal wahrscheinlich, im Dunkeln verschüttete Getränke, Krach, Popcorn, Streit. Das ist alles. Prägender die zwei Filme: Ich hatte keinen der beiden seitdem noch einmal gesehen und kannte beim Wiedersehen kürzlich beide mehr oder weniger auswendig.

Im Schlüssel liefen nur Blockbuster, und trotzdem war 1992, nach kaum neun Jahren und nur einen Monat nach Terminator II, schon wieder Schluss. Der Rest meiner bescheidenen Kino-Sozialisation: deutscher Quatsch (Otto, Karl Dall) im Fernsehen, und später im Partykeller bei den Timmer-Brüdern Die nackte Kanone, Alien und Braindead auf VHS. Vom Kino an sich, von seiner künstlerischen und intellektuellen Tradition, hatte ich bis Mitte Zwanzig keine Vorstellung.

Dennoch: Wann immer ich heute an das Prinzip «Kino» denke, kommt mir keiner all derjenigen wunderbaren Säle in den Sinn, in denen ich seitdem gesessen habe. Stattdessen das Schlüssel 1992, an das ich mich eigentlich nicht erinnern kann. Im Rauch sehe ich die beiden Timmers, die ich seit 25 Jahren nicht gesehen habe, jemand isst ihre Chipsfrisch viel zu laut, Leute maulen sich an, und einen Monat später zieht hier eine Videothek ein.