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Role Models Ist es ein Reenactment? Über Ricerche: two von Sharon Hayes

Von Kathrin Peters

Ricerche: two (2020)

© Sharon Hayes (Tanya Leighton Gallery)

 

Seit beinah zehn Jahren arbeitet die Künstlerin Sharon Hayes an ihrem Videoprojekt Ricerche. Begonnen hat sie mit Ricerche: three, einer Videoinstallation für die Biennale in Venedig 2013. Hayes hatte dafür Studierende eines all-women’s college in Massachusetts auf einer kleinen Anhöhe vor dem ehrwürdigen Gebäude zu einem Gruppenbild zusammengestellt und mit einem Handmikrofon zu Sexualität und geschlechtlicher Identität befragt. Mit einigem Abstand folgte 2019 Ricerche: one, eine Zwei-Kanal-Installation, in der Hayes Kinder und Jugendliche nach den Vorgängen menschlicher Reproduktion fragt, auch nach der Geschichte ihrer eigenen Zeugung. Gedreht wurde dieser Teil in Provincetown, ebenfalls Massachusetts, einem Ferienort, der besonders von LGBTQ-Familien besucht wird.

Nun kommt nach three und one der zweite Teil: Ricerche: two (2020, 38 Min.) war im Frühjahr und Sommer diesen Jahres im n. b.k. zu sehen. Dieses Mal hat Hayes weibliche American Football Teams auftreten lassen. Die Spielerinnen, die sich in strahlendem Licht auf einem leeren Football-Feld versammeln, fragt Hayes nach ihrem Sport, nach Feminismus, Patriotismus und ob sie sich als Vorbilder fühlten und für wen (ja, für ihre Geschwister, ihre Kinder, für zukünftige Spielerinnen und füreinander). Es ist dabei wichtig zu wissen, dass American oder Tackle Football vollen Körpereinsatz erfordert, Frauen konnten im Football bisher eigentlich nur dann Popularität erlangen, wenn sie sogenannten Lingerie Football, das heißt, in Unterwäsche spielen. Die Spielerinnen aber, die Hayes filmt und interviewt, stehen in ihrer Montur vor der Kamera: in Trikots ihrer Teams Dallas Elite Mustangs oder Arlington Impact und mit shoulder pads, die den Brustkorb offenbar so stark panzern, dass einige sich die pads mit ihren Händen vom Hals halten. Vom Hals halten sie sich so einiges: vor allem Vorstellungen von Weiblichkeit – solche, die an sie herangetragen werden, und manchmal auch ihre eigenen. 

Die Nummerierung von Hayes’ ‹Recherchen› folgt ganz offenbar einer Referenz, die außerhalb der Videos liegt. Welche Referenz das ist, wird in den Videoinstallationen selbst nicht ausgesprochen, aber mit dem italienischen Wort im Titel doch angespielt: Hayes hält sich an Pier Paolo Pasolinis Comizi d’amore (etwas ungünstig als Gastmahl der Liebe ins Deutsche übersetzt), einen Interviewfilm, der in vier Kapiteln, die jeweils «Ricerche» überschrieben sind, Leute nach Geschlecht, Familie, Reproduktion, Sexualität und Sexarbeit fragt. Oder, wie es Anfang der 1960er Jahre, als der Film gedreht wurde, hieß: nach dem «sexuellen Problem». 

Hayes’ Ricerche-Serie lässt sich in ihrer ganzen umwerfenden Intensität ohne Weiteres für sich betrachten, also ohne Pasolinis Film hinzuziehen, aber es lohnt sich doch, beide etwas genauer ins Verhältnis zueinander zu setzen. Denn so lässt sich nicht nur ermessen, dass Fragen nach Sexualität und Geschlecht seit mindestens fünfzig – eigentlich 100 – Jahren auf durchdringendste Weise virulent sind. Deutlich wird auch, welche Veränderungen sich ereignet haben. Was in den frühen 1960er Jahren als «sexuelles Problem» galt, versuchen sich heute angesichts deutlich vernehmbarer Forderungen nach Anerkennung manche mit unablässigem Gender-Bashing und mit Wokeness-Vorwürfen vom Leib zu halten. Aber es ging nie um Befindlichkeiten, nicht um irgendwelche akademischen ‹Diskurse›, sondern immer um Existenzielles. Das lässt sich sowohl von Pasolini als auch von Hayes lernen.

Für Comizi d’amore (1964, 92 Min.) reiste Pasolini vom Süden Italiens in den Norden, in Städte und aufs Land. An verschiedenen Orten hielt er Leuten das Mikrofon vors Gesicht, und nicht selten entsteht, wo Pasolini auftaucht, eine Ansammlung von Körpern. Ganz am Anfang des Films fragt er Kinder in Palermo, ob sie wüssten, wo die Babys herkommen. Und bohrt nach: Woher denn nun, bringt der Storch oder Gott sie? Die Kinder versuchen auszuweichen oder in ihrer Not kohärente Erzählungen aus dem zu entwickeln, was ihnen gesagt wurde. 60 Jahre später sprechen die Kinder in Provincetown zu Hayes in Ricerche: one ähnlich mäandernd, aber nun von eggs und sperms, die sich treffen, in mummy’s tummy oder auch anderswo. 

Es ist wirklich schwer, sich einen Reim auf die eigene Herkunft zu machen. Zwar lässt sich Wissen darüber erlangen, was biologisch vor sich geht, aber begreifen lassen sich diese Zusammenhänge in ihrer Bedeutung für das eigene Selbst eigentlich nicht. Die Studierenden des all-women college in Massachusetts haben Worte gefunden für Fragen, die nicht leichter zu beantworten sind, nach Weiblichkeit und Männlichkeit zum Beispiel, wobei die trans Personen in der Gruppe betonen, dass Männlichkeit ein viel engeres Korsett als Weiblichkeit sei. 

Über intersektionale Probleme von Geschlecht und Rassifizierung gerät die Gruppe in Streit – wie partikular oder universal kann und muss weibliche Selbstbestimmung gedacht werden? Das Gegenstück hierzu ist Kapitel drei von Comizi d’amore: Am Strand in der Nähe von Rom fragt Pasolini nach Ehe und Sexualität, dem Recht auf Scheidung und der Unabhängigkeit der Frau. Diese Strandszenen sind angefüllt von Oberkörpern und nackten Schultern, mittendrin steht Pasolini im Hemd, meist von hinten zu sehen, wie er sein Handmikrofon mal dahin, mal dorthin richtet. Hayes hat dieses Setting für ihr Projekt übernommen, auch sie dirigiert die Szene mit einem Mikrofon, der Sound setzt überhaupt erst ein, wenn sie die Szene betritt. Allerdings mit dem Unterschied, dass Hayes die Menschenansammlungen sich nicht zufällig bilden lässt, sondern Gruppenbilder regelrecht arrangiert. Für ihre Befragung sucht sie Milieus auf, von denen sie vermutet, dass sich in ihnen die Erfahrung, die jede Einzelne mit Geschlecht und Sexualität macht, gerade nicht in Traditionalismen stillstellen lässt. Während Pasolini mehr und mehr verzweifelt ob der Unehrlichkeit und Normativität der Antworten, die er erhält, sind Hayes’ Protagonist*innen von einer umwerfenden Reflektiertheit und Eloquenz.

Für Ricerche: two, den aktuellsten Teil, hat Hayes das Gewusel und die Fahrigkeit, die Pasolinis Comizi ausmacht, in einen Split Screen übersetzt: Es wurde mit zwei Kameras gedreht, und während eine Kamera die jeweils sprechende Person zeigt (mit Hayes im Anschnitt), wandert die andere in der Gruppe umher, zeichnet Gesten und Berührungen auf, die zeitgleich oder auch versetzt passieren. Es ist ein wenig, als arbeitete die Kamera gegen den Eindruck an, es handele sich bei den Football-Teams um eine homogene Gemeinschaft: Solidarisierungs- sowie Distanzierungsbewegungen tauchen auf, ein Nicken beim Zuhören, ein tonloses Lachen oder Nebengespräch werden sichtbar. Es geht hier augenscheinlich darum, ein Bild einer pluralen Gemeinschaft herzustellen. Differenzen verlaufen eben auch innerhalb einer Community, die damit aber keineswegs ‹gespalten› ist, sondern eben divers. 

Eine der Spielerinnen erzählt, dass Männer sich von ihr abwenden, sobald sie erfahren, dass sie Tackle Football spielt. Eine andere hingegen gewinnt aus ihrem Sport sexuelle Attraktivität, ganz einfach, weil sie Frauen datet. Eine erklärt, dass sie im Football die fürsorglichen, selbstkontrollierenden und Service-orientierten Aufgaben, die ihr Leben ansonsten bestimmen, endlich kompensieren könne. Dass Aggressivität männlich kodiert wird, hält eine andere für ein völlig überflüssiges gendering. Eine ist Mutter von fünf Kindern und hört bald mit ihrer Football-Karriere auf, um die ihres Sohnes zu unterstützten, die um einiges lukrativer sein dürfte. Alle haben zwei full time jobs, einen bezahlten, einen unbezahlten: Football. 

 

Comizi d’amore (Pier Paolo Pasolini, 1964)

© Arco Film/Titanus

 

Mit diesem neuen Teil von Ricerche knüpft Hayes an Pasolinis Kapitel «Schifo o pietà» («Ekel oder Mitleid») an, eher lose, aber doch geht es jeweils um Norm und Abweichung. Pasolini fragt in einem Tanzcafé in Mailand mehr oder weniger explizit nach Homosexualität. Ein Mann nennt sich nicht ‹normal›, weil er sich im Universum der Heterosexualität, in dem dieses Tanzcafé kreist, für den Verführer schlechthin hält. Er ist sozusagen supernormal, hat das aber nicht begriffen. Auch zwei Freundinnen brauchen viele Vorlagen, um endlich zu verstehen, was Pasolini wissen will. Und während die eine meint, homosexuelle Männer sofort erkennen zu können, widerspricht die andere ihr zwar, aber hofft doch, dass, «lieber Herr Pasolini», ihre eigenen Kinder, wenn sie einmal welche hat, ‹normal› würden. Es sind deprimierende Szenen, denen Pasolini sich ausgesetzt hat.

Die Ricerche-Serie ist noch nicht abgeschlossen. Wenn es nach den Kapiteln von Comizi d’amore geht, steht noch mindestens ein Teil aus. Nur vorläufig sei also zum Schluss überlegt, wie sich die Beziehung zwischen den beiden Filmprojekten beschreiben lässt. Ist Hayes’ Projekt ein Reenactment Pasolinis? Nichts spricht dagegen, es so zu nennen. Manche Frage Pasolinis hat Hayes wörtlich übernommen, auch folgt sie dem früheren Film der Form nach. Und doch scheint das «Re-» von Reenactment nicht ganz zu der komplexen Zeitlichkeit zu passen, die Ricerche entfaltet. Die Zeitpfeile weisen in die Vergangenheit und zugleich in verschiedene Zukünfte, die allesamt mit der Gegenwart verbunden sind. In einem eindrucksvollen Statement erklärt eine Schwarze Football-Spielerin, dass sie auf jeden Fall meine, Politik und Sport hätten miteinander zu tun: Das zeige sich ganz konkret daran, wie Männer auf Women’s Football reagierten, es zeige sich an der Debatte, ob trans Personen in die Teams aufgenommen werden könnten, und grundsätzlich daran, wer wie sichtbar und bezahlt wird. Überhaupt ließen sich Geschlecht und Sexualität doch gar nicht unpolitisch verstehen. Wenn damit Pasolini nicht Reverenz erwiesen ist.


Die Ausstellung Sharon Hayes. What Do We Want? war bis Ende Juli 2022 im n. b.k. zu sehen