theorie

Was ohne Medien Zu Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik von Jürgen Habermas

Von Simon Rothöhler

«Ob wir von einem ‹neuen› Strukturwandel der Öffentlichkeit sprechen müssen», sei er vorvergangenes Jahr von zwei Kollegen gefragt worden, erinnert sich der zu diesem Themenkomplex einschlägig habilitierte Jürgen Habermas im Vorwort seines solchermaßen betitelten und soeben erschienenen Suhrkamp-Bandes. Eigentlich eine berechtigte Frage, denn was genau wäre denn das Strukturelle an der unübersichtlichen gegenwärtigen Gemengelage politischer Öffentlichkeit? Die vorgeblich nur Dauerempörung ventilierenden, alles und jeden in Grund und Boden polarisierenden, zunächst und zumeist Echokammerfragmentierung perpetuierenden Social Media-Plattformen? Der auch (aber nicht nur) werbeökonomisch bedingte Niedergang traditioneller journalistischer Gatekeeper und Diskursmeister, die nun in traurigen Schrumpfteams Follower und Likes optimieren, statt in Investigativressorts zu investieren? Die objektiv verkrusteten und von rechten Ideologen zudem als «Staatsmedien» verunglimpften öffentlich-rechtlichen Institutionen? Oder eine nicht einfach zu beschreibende Verschränkung alter und neuer Akteure, eine Hybridität aus tradierten und nicht allein technisch veränderten Kommunikationsformen der Konstituierung von Öffentlichkeit? Man kann sich jedenfalls gut vorstellen, dass Habermas diese Anfrage seit 1962 nicht zum ersten Mal erreicht hat. Schließlich ist das sozialhistorisch-ideengeschichtliche Erstlingswerk Strukturwandel der Öffentlichkeit bis heute sein Bestseller – und wird, seit 1990 ergänzt durch ein nicht zuletzt auf die zivilgesellschaftlichen «Gegenöffentlichkeiten» der sozialen Bewegungen der 1970er und 80er Jahre reagierendes Vorwort, immer wieder neu aufgelegt.

Während Habermas die im enge­ren Sinn medien- und kommunikationstheoretischen Überlegungen seiner Studie – zur «Kommerzialisierung und Verdichtung des Kommunikationsnetzes», zur refeudalisierenden «Medienmacht elektronischer Massenmedien» – im Vorwort-Rückblick des Jahres 1990 überwiegend bestätigt sah, skizzierte er damals (u. a. im Rekurs auf Stuart Hall) zumindest komplexere Vorstellungen appropriativer Mediennutzung und konzedierte realexistierende Praktiken, die «das Angebot mit eigenen Deutungen synthetisieren», weshalb möglicherweise doch nicht ausschließlich von «linearen Wirkungsketten» vollständig vermachteter Öffentlichkeiten auszugehen sei. Gleichwohl, soviel ideologie- und kulturindustriekritische Axiomatik ist man in Frankfurt schuldig (auch wenn man in Marburg habilitierte), wurde das «Durchlässigwerden der Grenzen zwischen Trivial- und Hochkultur» mit dem Vorbehaltsbegriff der «Ambivalenz» bedacht und auch die «strategischen Intentionen möglichst verborgener Steuerung verhaltenswirksamer Kommunikationsflüsse» raunten im Hinblick auf konkrete medienkommunikative Praktiken relativ empiriefrei weiter. Eher keine «Revision» unter dieser Nummer.

Aber das war sozusagen gestern, also im Neuvorwortjahr 1990. Und in den nachfolgenden Jahrzehnten kamen dann das offensichtlich gerade die öffentlichen Medieninfrastrukturen umwälzende Internet, die ‹Blogosphäre›, das ‹Web 2.0› und schließlich, im neuen Jahrtausend, portable Endnutzergeräte sowie die von oligopolistisch aufgestellten Digitalkonzernen betriebenen ‹sozialen Medien›. Dass der mittlerweile 93-jährige und offenbar weiterhin interventionsfreudige Habermas letztere auf dem Starnberger Schirm hat – ob aus eigener Nutzungs- und Beobachtungspraxis oder eher sekundär, etwa durch das bekanntlich extremst untendenziöse Shitstorm-Monitoring von FAZ & Co., wird leider nicht expliziert –, war zuletzt auch schon seinem ebenfalls reichlich ‹ambivalenten› SZ-Essay «Krieg und Empörung» zum russischen Überfall auf die Ukraine zu entnehmen. Ende April erschienen, wandte sich Habermas im gewohnt kinderladenbunten Wochenendausgabenlayout der Süddeutschen nicht nur gegen «die echauffierten Gegner der Regierungslinie» – «jene Jüngeren, die zur Empfindlichkeit in normativen Fragen erzogen worden sind, ihre Emotionen nicht verstecken und am lautesten ein stärkeres Engagement einfordern» – und verwies auf einen seiner Ansicht nach qua Russlands Atommachtstatus mehr oder weniger unvermeidlichen «Kompromiss« («für beide Seiten gesichtswahrend»), der ja auch vom alle möglichen offenen Briefe unterzeichnenden Top-Verhandlungsteam Precht, Welzer und leider neuerdings Christoph Menke irgendwie für eine plausible Zielgröße gehalten wird. 

Ausgeteilt wurde in der SZ auch allerhand großzügig pauschalierte und eher wenig strukturanalytisch gedachte (aber im Selbstverständnis empörungssensible) Medienkritik – etwa an «gekonnter Inszenierung» und «kalkulierter Öffentlichkeitswirksamkeit»: «Ein ukrainischer Präsident, der sich mit der Macht der Bilder auskennt, sorgt für eindrucksvolle Botschaften. Die täglich neuen Szenen von roher Zerstörung und aufrüttelndem Leiden finden in den sozialen Medien des Westens ein selbstverstärkendes Echo.» 

Aber wie schlägt sich ein solch generischer mediendiagnostischer Befund (man sieht den STW-Band im Gedenktitelstil schon vor Augen: «Macht der Bilder – Bilder der Macht») mit viel alteostpolitik­apologetischen Sentenzen nun im historisch, theoretisch und begriffsgeschichtlich anspruchsvoll weit aufgespannten Rahmen einer Theorie der politischen Öffentlichkeit nieder? Was ist im Hinblick auf einen konstatierten weiteren (digitaltechnisch grundgelegten) Strukturwandel zu den ‹neuen› Medien aus Habermas’ Sicht zu sagen? 

Kernstück des aktuellen Taschenbuchs ist ein schmaler Essay, der 2021 bereits in einem Sondersammelband der Zeitschrift Leviathan publiziert worden war und nun «in geringfügig überarbeiteter Form» als monografisches Booklet vorliegt. Die Kenntnis des Forschungsstands verdanke er, schreibt Habermas, dem erwähnten Sonderband des Leviathan. Darüber könnte man sich nicht nur aus medienwissenschaftlicher Perspektive im Detail sicher mokieren (neben sozialwissenschaftlichen Beiträgen – darunter ein äußerst lesenswerter Aufsatz von Philipp Staab und Thorsten Thiel – findet sich dort auch viel durchschnittlichste Kommunikationswissenschaft verarbeitet), sollte aber nicht übersehen, dass Habermas zwar nicht – natürlich nicht, schon okay – rezente Arbeiten der Platform, Infrastructure, Software, Critical Code etc. Studies zur Kenntnis genommen hat (leider auch nicht Michael Seemanns sehr gute Studie Die Macht der Plattformen. Politik in Zeiten der Internetgiganten, Ch. Links Verlag 2021). Der Einsatz ist dennoch nicht verkehrt gewählt, wenn Habermas lakonisch schreibt: «dieser Plattformcharakter, das eigentlich Neue an den neuen Medien».

Blickt man hinter die analytisch schnell leerlaufenden Empörungskritiktropen («wüste Geräusche in fragmentierten, in sich selbst kreisenden Echoräumen»), erduldet heitere Formulierungen («die Kommunikationsflüsse unserer redseligen Spezies») – und hört auf, sich über Habermas’ rationalisierendes Restverständnis für kapitolstürmende Rechtsradikale zu wundern («Trumps fatale Aufforderung hätte in der Wut der Bürger … kaum das erwünschte Echo gefunden, wenn nicht die politischen Eliten seit Jahrzehnten die legitimen, von der Verfassung gewährleisteten Erwartungen eines erheblichen Teils ihrer Bürger enttäuscht hätten»), wird klar, dass er vor allem skeptisch auf den diskursiven Hegemonieverlust traditioneller Gatekeeper blickt, sich also irgendwie die 1990 noch recht scharf kritisierten Massenmedien zurückwünscht. Plötzlich soll dort die letzte Bastion für «die deliberative Qualität von Meinungen» und überhaupt für «analytische Verarbeitung», also für die mediale «Throughput»-Seite funktionsfähiger politischer Öffentlichkeit zu finden sein. Abgesehen davon, dass es sicher nicht an – per «Gefallens- und Missfallensklicks» mess- und prozessierbar gemachten, ja, aber eben mitunter auch in Threads etc. umfänglichst begründeten – «Meinungen» mangelt: Es hilft der Medienanalyse nicht, wenn der rezipierte Forschungsstand keine Hinweise auf neuartige Investigativ-Akteure wie Bellingcat gibt, nicht über deliberativ anschlussfähige Netzwerkeffekte und emanzipatorische Vergemeinschaftungsformen im Digitalen nachdenkt.

Die «Entlassung aus der redaktionellen Vormundschaft» – dass vormalige Rezipient:innen nun ohne Redaktionsgenehmigung Autor:innen werden können – findet jedenfalls wenig Sympathie im Hinblick auf möglicherweise doch nicht völlig verschüttgegangene progressive Potenziale: «Auch die Autorenrolle muss gelernt werden», heißt es streng. Überdies seien «die neuen Medien keine ‹Medien› im bisherigen Sinne»; über ihren «Plattformcharakter» entledigen sie sich «jener produktiven Rolle der journalistischen Vermittlung und Gestaltung von Programmen, die die alten Medien wahrnehmen. … Sie produzieren nicht, sie redigieren nicht und sie selegieren nicht». Das mag, sieht man von aggregierten Selektionsautomatismen algorithmischer Filterung und Content Moderation-Apparaten ab, durchaus so sein. Leider erfährt man wenig Konkretes zur offenbar gegebenen Attraktivität sozialmedialer Kommunikationsformate, nichts zum diskursiven Status von nicht allein textuell konstituierten Kommunikaten wie Memes. Auch nichts zum pseudoplebiszitären Alltag des unaufhörlich Likes und Retweets verteilenden «metrischen Wir» (Steffen Mau), zur mitlaufenden Affektskalierung und -umwandlung (siehe etwa Simon Stricks Studie Rechte Gefühle) oder was es bedeuten könnte, dass Social-Media-Öffentlichkeit über «proprietäre Märkte» (Philipp Staab), die eine völlig andere (privatisierte) Sorte Gatekeeper-Game am Laufen haben, infrastrukturiert ist.

Interessant hingegen, wie deutlich Habermas die beobachtbaren soziokulturellen Polarisierungs- und Fragmentierungstendenzen von einem ergebnisseitig vorab garantierten Konsensmodell politischer Öffentlichkeit abhebt und deren «grundsätzlich agonalen Charakter» betont: «Wer argumentiert, widerspricht». Gewiss, nur auf diese Weise, über eine «Flut von Dissensen», können gesellschaftliche Lernprozesse auf neue Problemlagen reagieren. Aber ohne ein Mindestmaß an media (und data) literacy funktionieren diese eben eher nicht (mehr) sonderlich effektiv. Die oftmals rekursiven Bewertungskaskaden, das durchaus plattformtypische immerzu und instantan judgemental-sein, mögen sozialpathologische Effekte zeitigen, könnten aber prinzipiell auch als vordeliberative Figur der Meinungsbildung verstanden werden. Urteilsfähigkeit entsteht jedenfalls nicht ex nihilo, nicht abgekoppelt von alltäglichen Medienpraktiken.

Schwerer wiegt ohnehin, dass sich der Dissens auf Konstituierung und Gelingensbedingungen der politischen Öffentlichkeit selbst verlagert hat. Habermas erscheint nicht nur die «verschwimmende Grenze» zwischen privater und öffentlicher Sphäre bedenklich (Gewährsmann ist hier der unvermeidliche Reckwitz), sondern vor allem der erodierende verfahrensförmige «Hintergrundkonsens» gesellschaftlicher Selbstaufklärung, die nun über den «epistemischen Rang konkurrierender Öffentlichkeiten» an die Grenzen ihrer staatsbürgerlichen Integrationsleistung stößt. Die Agonalität bezieht sich nicht mehr nur auf diskrepante Meinungen – und hat auch nur indirekt mit einer singularisierend-privatistisch aufgeladenen, allein von aufmerksamkeitsökonomischer Valorisierung motivierten «Halböffentlichkeit» zu tun, die, wie Habermas zu Recht schreibt, eines gerade nicht ist: entpolitisiert. Unklar ist vielmehr, wie konkurrierende «Ansprüche auf Wahrheitsgeltung» sowie «allgemeine Interessenberücksichtigung» in einen inklusiven, reintegrierenden, nichtzentrifugalen Raum politischer Öffentlichkeit rückführbar sein sollen. Insofern geht es letztlich um die Frage, wie digitale Infrastrukturen umgebaut und reguliert, vielleicht sogar als Open Source-Projekte sozialisiert werden müssten, um gemeinschaftsstiftende Bindewirkungen – eine «begrenzte reziproke Hilfsbereitschaft» für «Fremde, die füreinander Fremde bleiben wollen» – zumindest nicht strukturell immer unwahrscheinlicher erscheinen zu lassen.


Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik (Suhrkamp 2022)