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Werk der Geschichte Historiografische Praktiken im globalen Bild- und Ton-Archiv

Von Cecilia Valenti

Memoryscapes ist eine öffentlich zugängliche Onlinedatenbank, die Dokumente zur visuellen Stadtgeschichte Italiens sammelt und präsentiert. Die Website bietet Zugang zu rund 2000 retrodigitalisierten Amateurfilmen aus der Schmalfilmsammlung des Archivs Home Movies – Archivio Nazionale del Film di Famiglia mit Sitz in Bologna. Seit 2009 schreibt das Archiv Home Movies eine Mediengeschichte des ephemeren italienischen Kinos und seiner Formate: Die Überlieferung reicht bis Anfang der 1920er Jahre zurück, als mit der Pathé Baby der Substandard 9,5 mm eingeführt wurde, und erstreckt sich bis zu den 1980er Jahren mit der Etablierung von Video als Amateurmedium.

Für die analogen Archivbestände bringt das Projekt Memoryscapes neue Möglichkeiten der Zirkulation und Diffusion. Die ‹Öffnung› des traditionellen Archivs erfolgt aber nicht uneingeschränkt, sondern in kuratierter Form. Im Grunde lässt sich der Eintritt des historischen Filmmaterials ins digitale Memoryscapes-Archiv mit Operationen der künstlerischen Appropriation, der Fragmentierung und Neukontextualisierung beschreiben. Die vom filmischen Ausgangsmaterial gefertigten und auf der Webseite memoryscapes.it streambaren Digitalisate sind einzig Outtakes, also aus einem Werk herausgeschnittene Sequenzen, die mittels Filterfunktion nach thematischen Serien («Von den Apenninen zum Po», «Sport und Spiele»), nach zeitlichen Aspekten ebenso wie nach Raumnutzung und den Biografien einzelner cineamatori erschlossen werden können. 

Außerdem wurde das angebotene Filmmaterial neu betitelt – «Sommernachmittags», «Schneefall im März», «Der Fiat 500 startet nicht», «Vom Fenster sieht man ein Schiff» heißen nun beispielsweise einige dieser Clips. Diese Art der Betitelung macht nicht nur auf den poetischen Realismus des Alltags aufmerksam, sondern stellt auch das Unberechenbare und Unerwartete heraus, das sich in der rückblickenden Wahrnehmung von Vergangenem auftut. Mitunter werden Fragen nach Verfahren einer nicht offiziellen Geschichtsschreibung adressierbar, genauer: das spezifische historiografische Vermögen des Amateurmediums Film, «gegen die hegemonialen Standards der Disziplin» (Simon Rothöhler) zu operieren. Somit ließe sich die Ästhetik des Sammelns und Präsentierens von scheinbar nebensächlichen Details, von Unordnung und Kontingenz in gewohnheitsmäßigen Alltagsabläufen, die der Materialorganisation bei Memoryscapes zugrunde liegt, an einen Modus filmischer Geschichtsschreibung anknüpfen, die grand récits eine Absage erteilt und eher induktiv und fragmentarisch – in bits and pieces – vorgeht. 

Gerade weil der Rückblick, den Memoryscapes in die Historie des italienischen Amateurfilmschaffens des 20. Jahrhunderts ermöglicht, ein unsystematischer und zerstreuter sein will, möge die Userin beim Navigieren auf der Website nicht überrascht sein, punktuell auf Hinterlassenschaften zu stoßen, die Konstellationen beschreiben, die eher als «espaces autres des archives» (Sigrid Weigel) zu begreifen sind, das heißt, die Dokumente erfassen, welche aufgrund der institutionellen, materiellen und medialen Bedingungen ihrer Entstehung einen Sonderstatus innerhalb des Archivs einnehmen und aus dem Rahmen der sonstigen gesammelten Funde zu fallen scheinen. 

Geradezu exemplarisch ist der Bestand «Franco Cigarini», abrufbar unter der Rubrik «Serie». Dabei handelt es sich um filmische Schnipsel aus dem Nachlass des militanten Amateurfilmemachers und Fotografen Franco Cigarini, der 1965 von der kommunistischen Stadtverwaltung von Reggio Emilia offiziell eingestellt wurde, um die res publica und die buon governo, die Wirkung einer guten Stadtregierung, zu dokumentieren. Cigarinis Beobachtungsstandpunkt sticht unter den visuellen Zeugnissen von Memoryscapes vor allem aufgrund seines expliziten Interesses an der filmischen Darstellung der Stadt als zentralem Schauplatz lokaler wie globaler Politik hervor. Eine antiimperialistische Demonstration mit den Hauptkadern der PCI (der Kommunistischen Partei Italiens) von 1970, eine Politparade der Metallarbeiter:innen am 1. Mai 1960, der Trauerzug anlässlich des Todes von Aldo Moro 1978 sind beispielsweise Ereignisse jenes italienischen «heißen Herbsts», die Cigarini in norditalienischen Städten und vor allem an seinem Wohnort Reggio Emilia teilnehmend dokumentiert hat. 

Politisches Handeln findet in den Filmen Cigarinis aber auch an anderen, weniger erwartbaren Orten statt: vor dem klassischen Gymnasium, wo Schüler:innen eine marxistisch-leninistische Zeitung verteilen oder bei einer Kita während der Spendensammlung für den Aufbau einer Schule in Vietnam – als Publikum: Kinder, die geisterhaft und entzückt einem Konzert folgen und dabei mit Gesten andeuten, sie würden imaginäre Gitarren spielen. 

Reggio Emilia erscheint im filmdokumentarischen Werk Cigarinis als Ort der Kritik und der Opposition, wobei diese Stadt im Konzept der Gegenöffentlichkeit der italienischen Neuen Linken der 1960er und 1970er Jahre generell von Bedeutung zu sein scheint. So findet sich in einem der Gründungsdokumente des militanten italienischen Kinos, im Manifest Per i cinegiornali liberi (Für freie Kinowochenschauen), verfasst 1968 von Cesare Zavattini, einem Theoretiker des Neorealismus und linken Militanten, eine Beschreibung von Zavattinis Geburtsstadt Reggio Emilia als strategischem Knotenpunkt im Produktions- und Distributionsnetzwerk eines kritischen Nachrichtendiensts. 

Zavattini vergleicht den 8-mm- bzw. 16-mm-Streifen einer cinegiornale mit einem Aal, der überall hineinschlüpfen kann, sowie mit einer Katze, an deren Schwanz eine Blechdose gehängt wurde. Bei Letzterer schlägt die Dose mit jeder Bewegung krachend auf den Boden, sodass ihr Vorankommen zum quälenden, jedoch zugleich aufwärts drängenden Gang gerät. Die gelähmte Katze wird zur sozialistischen Pathosformel für die herrschenden Verhältnisse erhoben, zur Allegorie auf die Unterwerfung. Daraus folgert Zavattini seinen politischen Auftrag fürs Medium Kino, als zentrale Institution von Demokratisierungsprozessen zur Solidarität mit Subalternen aufzurufen. 

In Zavattinis petite bestiaire linker Medienpraxis steht Reggio Emilia also vorbildlich da: Wie er in seinem Manifest feststellt, war die Produktion eines lokalen cinegiornale hier bereits im Gange, wie auch spezielle Ausgaben produziert wurden, die über die dezentrale Netzwerkbildung dieses neuen Informationsmediums informieren sollten: über die Entstehung von Ablegern der cinegiornali in anderen italienischen Städten – Parma, Bologna, Turin und Rom –, die alle auf organisatorischen Alternativen der Filmdistribution jenseits von Markt und Hie­rarchien basieren. 

Militante Globalgeschichte 

Auch wenn das digitalisierte Archivgut des Cigarini-Nachlasses sich nicht explizit mit der von Zavattini geprägten Geschichte der cinegiornali liberi überkreuzt, erweist sich die darin ausgerufene Vorstellung einer auf die Bildung von grenzüberschreitenden Netzwerken angewiesenen politischen Praxis als anschlussfähig. Die Bilder aus Cigarinis Onlinebestand präsentieren Reggio Emilia als politischen Schauplatz und schreiben diesem konkreten urbanen Raum nicht nur eine lokale, sondern auch eine transnationale Dimension zu: Eine kurze Bestandsrecherche mit Schlagwörtern wie «Afrika» und «Kolonialismus» genügt schon, um die Bühne der Globalgeschichte zu öffnen und zu zeigen, wie sich die Stadt in den 1970er Jahren vermehrt dem Außerhalb des euroamerikanischen Raums zuwandte. Die inventarisierten Aufnahmen, die durch die oben genannten inhaltlichen Kriterien gefiltert werden können, geben auch hier nur fragmentarische Einblicke in Geschichten interkontinentaler politischer Solidarität: Wir erfahren, dass die Kommunistische Partei von Reggio Emilia den antikolonialen Befreiungskampf in Mosambik von seinen Anfängen an unterstützte, dass einer der frühen stiftenden Momente dieses Solidaritätsnetzwerks 1962 eine Partnerschaft zwischen dem städtischen Krankenhaus Santa Maria Nuova und dem Hospital Central in der Provinz Cabo Delgado gewesen war, und schließlich, dass Giuseppe Soncini, der Leiter des Krankenhauses in Reggio Emilia, Marcelino Dos Santos, ein Gründungsmitglied der mosambikanischen Befreiungsfront Frelimo, gut kannte und dass die beiden sich oft in der norditalienischen Stadt trafen. 

Schließlich erzählen die Bilder von einer Reise italienischer Militanter nach Mosambik: ein Willkommenskomitee am Flughafen von Daressalam in Tansania, Alltagsszenen in Cabo Delgado, im Wald, mit der Guerilla sowie in einer Frelimo-Schule in Bagamoyo. Ein Atlas ritualisierter Gesten der Freundschaft, Händeschütteln wie Umarmungen, fügt sich nach dem Abrufen mehrerer Videos zusammen, während die knappen Beschreibungen und Metadaten, die das Archivmaterial flankieren, nur dazu dienen, die abgebildeten Subjekte zu identifizieren und die Ereignisse historisch grob zu verorten. 

Zur archiv- und filmgeschichtlichen Einordnung der Materialien in den Kontext der Militanz italienischer Neuer Linker reichen diese Informationen aber nicht. Eine Spur aber wird dabei freigelegt: Einige der Fragmente seien Outtakes aus einem Hauptwerk Cigarinis, verraten die Beschreibungstexte, und zwar aus dem 16-mm-Dokumentarfilm Dieci giorni con i guerriglieri nel Mozambico libero – «Zehn Tage mit den Guerilleros im befreiten Mosambik» von 1972. Auf Einladung der Frelimo reiste damals eine vierköpfige Delegation linker Militanter (darunter Cigarini, der die Kamera führte), alle bisher aktiv auf lokaler Ebene in der Stadt Reggio Emilia, nach Mosambik, um sich ein Bild vom dortigen Befreiungskampf zu machen. 

Cigarinis Dieci giorni ist in seiner knapp 30-minütigen Länge auf Memoryscapes nicht zugänglich. Es sind nur Aufnahmen abrufbar, die in der Endfassung keinen Platz gefunden haben. Die analoge Filmkopie liegt auch nicht in der Home Movies-Amateurfilmsammlung in Bologna, sondern in der Biblioteca Panizzi in Reggio Emilia. Die Dokumentation der Entstehung des Projekts findet sich wiederum in Rom, im Audiovisuellen Archiv der demokratischen Arbeiterbewegung (AAMOD) – zusammen mit dem Nachlass von Unitelefilm, der Filmabteilung der Propagandasektion des PCI, für welche Cigarini gearbeitet hatte. 

Sich mit Dieci giorni zu beschäftigen bedeutet also, ein Archivgefüge zu rekonstruieren, in einem Nebeneinander von ‹offline› und ‹online› befindlichen Sammlungen. Die Ergebnisse dieses archivarischen Gangs sind in diesen Text eingeflossen, der von hier an einer bildimmanenten Untersuchung von Cigarinis Dokumentarfilm gewidmet ist. Statt Fragen des Archivierens rückt somit das Archivierte in den Vordergrund: Bilder und Bildverfahren aus einem Film, der im Rahmen dokumentarischer Selbstpraktiken einer postkolonialen Zeit entstanden ist. Zu welchem Wissenstransfer, zu welchen Rückkopplungseffekten, kollektiven Lernprozessen und Machtgefällen es kommt, wenn Solidargemeinschaften deterritorialisiert werden, wenn das Lokale eine globale Reichweite erreicht und wie dabei Solidarität von der Praxis der Bilder her zu denken ist, möchte ich im Folgenden untersuchen. 

 

10 GIORNI CON I GUERRIGLIERI NEL MOZAMBICO LIBERO (Franco Cigarini, 1972)

© Archivio Nazionale del Film di Famiglia

 

Emilia Rossa in Mosambik

Franco Cigarinis Dieci giorni con i guerriglieri nel Mozambico libero beginnt mit einer Schrifteinblendung auf schwarzem Hintergrund: «Ein Dokumentarfilm bereitgestellt vom Komitee für Gesundheitshilfe am mosambikanischen Volk aus Reggio Emilia». Die darauf folgende erste Sequenz stellt statt der angereisten italienischen Delegation jedoch ein anderes Kollektiv dar: die Zivilgesellschaft und die Guerilla, Mosambikaner:innen, die politische Parolen skandieren, die lernen, tanzen und für den Kampf trainieren. Trotz seiner schnellen Montage ist der Bilderreigen präzise choreografiert: Spiegelungen und Symmetrien erzeugen Bildverwandtschaften und interne Bezüge zwischen den einzelnen Bewegungen und Gesten und münden in einen Bewegungsfluss, der die Grenze zwischen Tanz und Marsch, Gesang und Kriegsbefehl porös werden lässt. Wir sehen einen martialischen Tanz und einen tänzerischen Kampf zugleich. Solche visuellen und auditiven Übertragungen und Überlappungen von einem Bild zum nächsten wirken nicht nur auf die Zuschauer:innen somatisch-affektiv ansteckend: Auch die Kamera überdreht dabei von Anfang an, ist selbst davon bewegt, beginnt förmlich mitzutanzen.

In der Eingangssequenz entspringt aus der Verkettung aufeinander abgestimmter Bewegungsabläufe die Vorstellung eines einzigen sozialen Bewegungskörpers, die Vorstellung von einer Gesellschaft, die im Widerstand zusammenhält. Somit wird gleich zu Beginn des Films die Frage nach der politischen Organisationsform – marxistisch-leninistisch dekliniert: nach der Vermittlung zwischen taktischer Avantgarde und revoltierender Masse – auf der ästhetischen Ebene verhandelt. Das mosambikanische Beispiel dürfte als gelungen erscheinen – entgeht dabei aber nicht dem romantischen Mythos vom bewaffneten Kampf. 

Dem programmatischen Vorspann folgt eine zweite Schrifttafel: «Zehn Tage mit den Guerilleros im befreiten Mosambik». Die Zahl Zehn im Filmtitel ist als knappe Information historisch nicht ganz akkurat – die Delegationsreise erstreckte sich laut Archivspuren nicht über zehn, sondern über zwölf Tage. Und auch sonst spielt die Chiffre «zehn» in Dieci giorni für die filmische Zeitorganisation kaum mehr eine Rolle. Der Film folgt weder einer strikt linearen tagebuchartigen Ordnung, noch wird das Vergehen der Reisetage zeitlich stark markiert. 

Stattdessen wird die diegetische Filmzeit – die Erfahrung der Reise im «hier und jetzt» – durch das Aufrufen der Geschichte der Dekolonisation Mosambiks punktuell angehalten und heimgesucht. Eine mächtige Kommentarstimme vertritt dabei den Gegenwartsstandpunkt, von dem aus sich Geschichte aktualisiert, und zwar vor allem durch die Aneignung und Inkorporierung von aufgefundenem Material, von Fotografien und kartografischen Darstellungen Ostafrikas. Wie bei jedem Dokumentarfilm-Voice-over speist sich deren Autorität nicht nur aus der Tatsache, dass die Stimme geradezu körperlos vom Himmel zu fallen scheint, sondern auch daraus, «dass es alleine spricht» (Jean-Louis Comolli). Die Off-Stimme des Schauspielers Auro Franzoni wird als ‹Allein-Sprecher› zur zentralisierenden Instanz, im abgeschotteten Tonstudio organisiert sie die Sprechakte und unterwirft sich die Stimmen anderer, vor allem der Frelimo-Anführer. 

Einen interessanten, gespensterhaften Fall eines solchen Kampfes zweier Stimmen stellt schon die Eingangssequenz dar. Off-Kommentator Franzoni rezitiert darin eine Rede von Eduardo Mondlane, dem ersten Präsidenten der 1962 gegründeten Frelimo, spricht in dessen Namen. Mondlane, der seine amerikanische Professur aufgegeben hatte, um vom benachbarten Tansania aus den Freiheitskampf zu organisieren, war da bereits mehrere Jahre tot. Eine Briefbombe hatte ihn 1969 getötet. Hier erscheint das Stimme-Verleihen als paradoxaler Akt, in dem Mondlanes Stimme zum Schweigen gebracht wird, während man sie erinnernd heraufbeschwört. 

Das Filmbild trägt derweil zur Trauerarbeit bei, indem es Fotografien des verstorbenen Guerillakämpfers im Frelimo-Hauptquartier zeigt. Doch wirkt der fotografische Beweis in Cigarinis Film nur in diesem spezifischen Fall als memento mori, als Index und Spur eines abwesenden Referenten. Meist zielt die Verwendung von Fotografien auf die Visualisierung historischer Entwicklungen ab – und zwar in Kombination mit Landkarten. Das fotografische wie das geografische Found Footage dient hier als ein visuelles Hilfsmittel, um über den Prozess der Entkolonialisierung in Mosambik zu informieren und zu belehren. Der Zuschauerblick wird mittels einer klassisch-deiktischen filmischen Geste – einer Zoomfahrt – geleitet, die in die Karte Mosambiks hineinschaut, sich auf die grafischen Darstellungen bereits befreiter Gebiete im Norden des Landes konzentriert, die dann einzeln mit Fotoporträts von Guerillakämpfern überblendet werden. «Das Werk der Geschichte ist das Werk des Menschen», schreibt Frantz Fanon in einer seiner politischen Schriften, zu finden im Sammelband Für eine afrikanische Revolution (1964), ein Satz, der als Bildunterschrift für das hier im Prozess der Überblendung vorgeführte Ineinandergreifen von nationaler Befreiung und deren kollektivem Subjekt stehen kann. 

Spätestens mit dem Eintreten der italienischen Delegation in den filmischen Raum geht Dieci giorni vom Modus des Geschichtsunterrichts (mittels Found Footage) zur «Live»-Reportage über. Von da an kann die filmische Zeit, am eigenen Nullpunkt angekommen, wieder fließen und der Film, statt Geschichte zu vermitteln, beginnen, seine eigene Geschichte zu erzählen. 

Nachts, in tiefen Kanus, eskortiert von Guerilleros, überquert das Besucherkomitee von Tansania aus die Grenze und gelangt so klandestin in den Norden Mosambiks, ins befreite Gebiet von Cabo Delgado. Paradigmatisch zeigt diesen Gang in den Untergrund eine oft wiederholte Einstellung: Eine subjektive Handkamera bewegt sich nach vorne, hektisch in ein Gebüsch hinein. In diesem Point-of-View-Shot überlagern sich Kamera- und Zuschauerblick kurzzeitig. Die teilnehmende Kamera vermittelt den Eindruck des Authentischen, sie inszeniert den Gang in den Untergrund als ein mit dem Publikum gemeinsam erlebtes «Live-Ereignis». Zusammen mit der abgebildeten wilden und wuchernden Natur beschwört dieser Echtheitseffekt ein Repertoire an Affekten, von Abenteuerlust über Angst bis Befremdung, sodass der Film, zumindest an dieser Stelle, in der zweigeteilten Welt einer kolonialen Ordnung gefangen bleibt.

Edward Said hat unter anderem in Culture and Imperialism (1993) gezeigt, wie sogenannte «quest-voyage motifs» innerhalb der westlichen Literaturgeschichte zum zentralen Topos des kolonialistischen «great explorers’ narrative» gehören, wobei Said sich über die geschichtliche Rekonstruktion dieser Motive hinaus mehr für literarische Strategien des «reclaiming» und des «writing back to the metropolitan culture» interessierte. 

Die Rede von einer konstanten Gefahr in einer bedrohlichen und unbekannten Natur, nach der hier gerade heraus­gearbeiteten essentialisierenden Doppeldeutigkeit, verstärkt das Voice-over, das von einem verzweigten Wegenetz, von felsigen, unbezwingbaren Bergen und von entkräftenden Märschen berichtet. Gezeigt werden Guerilleros und die Delegation, wie sie in der Kolonne durch Wälder hindurch ein Dorf erreichen und dann erneut losmarschieren. Mobilität und Vernetzung erheben sich hier zu unerlässlichen Bedingungen zur Steigerung des Kampfs und zur Erreichung von Synergieeffekten: Nur durch ein Verbundsystem zum Austausch von Gegeninformationen kann der Guerillakampf sich zwischen räumlich getrennten Gemeinschaften verbreiten und intensivieren, wobei der Netzwerkeffekt nicht einzig der Beweglichkeit der Guerillakämpfer zu verdanken ist, sondern auch ihren Medien. Das suggeriert eine zentrale Passage, die Cigarinis Kamera genau aufgezeichnet hat: Wir sehen eine Gruppe von Frauen und Männern Flugblätter verfassen, ausdrucken und im Raum verteilen, mit denen sie quasi in Echtzeit über die Fortschritte des Befreiungskampfes berichten und zum Widerstand gegen die Kolonialmacht aufrufen.

Die Praxis der Guerilla hat einen flächendeckenden klandestinen Arbeitsmodus etabliert, in dem Fleiß, Tempo sowie Bereitschaft zum Verzicht vorherrschen. Die als Beobachter gekommene Delegation empfindet die Erfahrung der Guerilla «auf Zeit» als erschöpfend. Das Voice-over nennt körperliche Anstrengungen und Strapazen, die aber in ihrer Intensität gedächtnisstimulierend gewirkt haben mögen. 
Ein asymmetrischer Krieg meldet sich zurück, einer, den «unser Volk für die Freiheit gekämpft hat», behauptet die Kommentarstimme und meint damit den italienischen Partisanenkampf im Zweiten Weltkrieg. Das Sich-Berufen auf die europäische Resistenza bildet ein zentrales Motiv im linken Selbsthistorisierungsdiskurs und seiner Transnationalisierung im Zuge der Dritte-Welt-Kämpfe der 1960er-Jahre. Eine geteilte Geschichte des Widerstands wird behauptet, da dem historischen Narrativ zufolge die Neue Linke im Partisanenkrieg ähnliche Feinde bekämpfte wie das mosambikanische Volk nun: Faschisten, Rassisten und Kolonialisten. Solche Projektions- und Spiegelungsdynamiken konnten sich hier sogar darauf stützen, dass Portugal bis Mitte der 1970er-Jahre mit dem Estado Novo tatsächlich noch eine faschistische Diktatur war.

Insgesamt gilt für die italienischen Militanten, was der Historiker Christoph Kalter im Hinblick auf die französische Radikale Linke genau rekonstruiert hat: «Partisan» ist stets zugleich Selbst- und Fremdbezeichnung. Die Partisanenfigur evoziert neben der Geschichte und Gegenwart der kleinen Kriege der Dritten Welt auch einen Moment der italienischen Geschichte, den Franco Cigarini übrigens selbst erlebt hat: Er war Partisan und hatte an der Gründung der Repubblica Partigiana di Montefiorino teilgenommen. 

Direkte Guerilla-Erfahrung sammelten aber nur wenige unter den beteiligten Filmemacher:innen, vielmehr bleibt der Rekurs auf den Partisanenkampf Teil einer Rhetorik der Militanz – die selbsternannten italienischen Partisanen der Nachkriegszeit benutzten eher filmische Waffen, mit denen sie eine antikoloniale Gegenöffentlichkeit schufen. 

Anlass zur Intervention in den Archiven 

Um den Zusammenbruch der Fremdherrschaft im Dekolonialisierungsprozess aufzuzeichnen, werden in Dieci giorni Bilder und Töne mobilisiert, die trotz zweigeteilter Geschichten und trotz zweier getrennter Welten Allianzen und Entgrenzungen ermöglichen sollen. Was bei diesem solidarischen Zusammentreffen aber auch ersichtlich wird, sind Dynamiken des Erkennens und des Verkennens, sind Deformationen und Ambivalenzen im linksradikalen Dritte-Welt-Diskurs, die ich exemplarisch anhand der Partisanenfigur als einem Mediator zwischen ehemaligen Kolonien und westlichen Städten rekonstruiert habe.

Solidarität von der Praxis der Bilder her zu denken bedeutet nicht nur die medialen Verfahren, sondern auch die Produktion und Distribution kritisch zu hinterfragen, oder, wie die Filmwissenschaftlerin Viktoria Metschl es beschreibt: «die realen Bedingungen des Bildermachens müssen untersucht werden, um herauszufinden, was nötig ist, um die Kamera zur Komplizin des Glücks eines freien Menschen» zu machen. 

Erstaufgeführt wurde Dieci giorni kurz nach Fertigstellung im März 1973 im Rahmen eines Filmprogramms, das im Zusammenhang mit einer internationalen «Konferenz für die Solidarität mit Guinea-Bissau, Mosambik und Angola» in Reggio Emilia stattfand – im Publikum auch Samora Machel, Leader des Frelimo, der in Cigarinis Film mit einem langen Interview vertreten ist. 

Danach zirkulierte Dieci giorni durch die Netzwerke des italienischen militanten Kinos, häufig begleitet von Debatten. Der Frelimo zeigte den Film außerdem in Algier, einem seiner Auslandssitze, und zu diesem Zweck wurden französisch- und englischsprachige Fassungen erstellt. Ob der Film in Mosambik, wo er entstanden ist, vorgeführt wurde, ließ sich nicht herausfinden. 

Eines aber steht fest: Es war nur eine Frage der Zeit, bis das mosambikanische Volk die Gelegenheit haben sollte, sich selbst ins Bild zu setzen: 1975, nur fünf Monate nach der Befreiung, entstand das erste nationale Filminstitut Mosambiks. Unter seinen Produktionen: eine kritische Wochenschau, die mit «Kuxa Kanema» nicht weniger als «Die Geburt des Kinos» heißt. 

Die Dokumentarfilme der italienischen Neuen Linken, wie auch Wahlverwandte aus Frankreich oder Schweden, bringen also, quasi produktionsgeschichtlich, eine Machtasymmetrie mit sich: Sie bestehen zur Gänze aus Bildern, die sich der Okzident vom Territorium des ehemaligen Portugiesisch-Ostafrika machte. Das Risiko, das Nikolaus Perneczky im Hinblick auf das italienische auktoriale Kino und Pier Paolo Pasolinis Appunti per un’orestiade africana herausgearbeitet hat, mag zur Selbsterinnerung am Ende dieses Texts stehen: «Der Versuch, die eigenen Bilder – die Selbstdarstellungen und -erzählungen Europas – in periphere Kontexte zu verlängern, gibt sich bestenfalls als Anmaßung, schlimmstenfalls als kolonisierende Gewalt zu erkennen».


Ganz herzlich möchte ich mich bei Ilaria Ferretti von Home Movies – Archivio Nazionale del Film di Famiglia und bei Alberto Ferraboschi von der Biblioteca Comunale Antonio Panizzi für die Bereitstellung des Archivmaterials bedanken