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Autonomiesehnsucht Wahrnehmen, was an der Gesellschaft immer schon unfrei ist: Über die Filme Hugo Fregoneses

Von Lukas Foerster

Black Tuesday (1954)

© United Artists

 

Kopfüber tauchen in Hugo Fregoneses Bürgerkriegswestern The Raid (1954) inhaftierte Südstaatensoldaten in den engen Erdgang, den sie von ihrer Zelle aus gegraben haben und an dessen Ende sie die Freiheit vermuten; tatsächlich allerdings wartet am Ende des Ganges, den sie nicht vorsichtig, schrittweise betreten, sondern dem sie sich mit einer eigenartigen Absolutheit und Natürlichkeit anvertrauen, als wäre er ein Geburtskanal, nicht die Freiheit, sondern eine neue, andere Form von Gefangenschaft. Ein Schema, das sich in anderen Fregonese-Filmen wiederholt, in dem Gefängnis-Diptychon My Six Convicts (1952) und Black Tuesday (1954) etwa, aber auch in Harry Black and the Tiger (1958), sowie in Seven Thunders (1957), wo der Ausbruch selbst gar nicht mehr gezeigt wird, dafür aber, umso eindringlicher, die immer schon eingeschränkte Bewegungsfreiheit von Menschen, die auch nach der Flucht noch wissen, wie sich Gefangenschaft anfühlt.

Dass sie, die Ex-Häftlinge, fortan ein inneres Gefängnis mit sich herumtragen, ist das eine. Hier ist besonders Harry Black zu nennen, vielleicht der einzige Film Fregoneses, der in erster Linie von einem psychologisch ausdifferenzierten Individuum her gedacht ist. Die Ausbruchsszene ist in diesem Film aus der dritten, der europäischen Werkphase Fregoneses – nach den ersten argentinischen Filmen in den späten 1940ern und den elf Genrefilmen, die, dicht gedrängt, zumeist schnell und billig produziert, zwischen 1950 und 1954 in Hollywood entstehen; seine letzten beiden Regiearbeiten dreht er in den frühen 1970ern wieder in der argentinischen Heimat – eine Rückblende, von der sich die Erzählgegenwart, in der sie mündet, nicht befreien kann. Gerade weil die Titelfigur jene persönliche Autonomie, nach der sich die meisten anderen Fregonese-Protagonisten sehnen (oder der sie, wie in Saddle Tramp, 1950, und Blowing Wild, 1953, hinterhertrauern), einigermaßen realisiert hat, nehmen die inneren Dämonen überhand, beziehungsweise manifestieren sich in einem halb mystischen Tiger, dessen tödliche Bedrohung in den Actionszenen des Films von der diskontinuierlichen Montage unterstützt wird: Das Tier überrascht nicht nur Harry Black, sondern auch uns, die wir es in diesem ansonsten vergleichsweise langsam und statisch erzählten Film kaum einmal eindeutig verorten können.

Das andere und vermutlich Wichtigere: Die Ausgebrochenen sind in der Freiheit nie komplett frei, weil sie einen anderen Blick erlernt haben, weil sie (und mit ihnen wir) die Fähigkeit erworben haben, wahrzunehmen, was an der Gesellschaft immer schon unfrei ist. Primär geht es dabei nicht um Mechanismen direkter sozialer Unterdrückung. In Black Tuesday, dem klaustrophobischsten aller Fregonese-Filme, entspringt das Gefühl der Beengung nicht dem immer kleiner werdenden Bewegungsspielraum, der den von der Polizei verfolgten Ausbrechern gewährt ist. Was uns den Atem nimmt, ist vielmehr die Unfähigkeit der Gangster, und vor allem von deren von Edgar G. Robinson gespieltem Anführer, sich ein Leben jenseits eines alle sozialen Beziehungen durchdringenden Gewaltzusammenhangs vorzustellen. Fürs lange letzte Gefecht verschanzt er sich mit seinen Getreuen in einer Lagerhalle. Das dominante Framing zeigt das Fenster, über das sich der Schusswechsel mit der Polizei vollzieht, lediglich im Bildhintergrund; im Vordergrund hingegen liegt ein Verwundeter, umsorgt von einer Frau, auf einer Bahre. Robinson selbst eilt unruhig mal hierhin, mal dorthin und muss hilflos mitansehen, wie sich seine Definitionsmacht über die Mise-en-scène Schritt für Schritt auflöst.

In The Raid nistet sich einer der Südstaatler, ein von Van Heflin gespielter Major, nach dem Ausbruch undercover in einer Vermonter Kleinstadt ein. Die nimmt ihn freundlich auf, und doch schwingt in jeder Szene, beim Abendessen mit der Gastfamilie ebenso wie beim Tanz mit der lokalen Schönheit auf einem Ball, das Wissen mit, dass die Integration des Fremden an Bedingungen geknüpft ist. Bedingungen freilich, die der Film weder der Gemeinschaft als Ganzer noch den einzelnen Mitgliedern zum Vorwurf macht; ganz im Gegenteil: Der Neuankömmling hat ja tatsächlich nicht die besten Absichten. Was wiederum nicht ihm anzulasten ist. Gesellschaft ist nun einmal antagonistisch organisiert, und wenn man genauer hinschaut, kommen unter den Antagonismen nicht etwa tiefer liegende Gemeinsamkeiten zum Vorschein, sondern vielmehr weitere, kleinteiligere Antagonismen. Dennoch lohnt der genaue Blick, weil er es den Menschen ermöglicht, sich gegenseitig in ihren jeweils unterschiedlichen Gefängnissen wahrzunehmen. Nicht alle Antagonismen müssen ausagiert werden.

 

Apache Drums (1950)

© Universal Pictures

 

Aber manche eben schon. Wenn die Musik sich ändert, kommen die Indianer, lernen wir in Apache Drums (1950), dem vielleicht allerschönsten Fregonese-Film. Die Bewohner einer Kleinstadt haben sich in einer Kirche verbarrikadiert, die Indianer haben das Gebäude umzingelt, aber sie schlagen nicht sofort los, sondern vollziehen ein Ritual, das ihren Angriff in einen größeren Zusammenhang einbettet. Die Gewalt ist von Anfang an gesetzt in Apache Drums, nicht nur als dramaturgisch zwangsläufiger Showdown, sondern auch als unhintergehbarer Horizont jedes Figurenhandelns; und doch ist sie nichts unmittelbar Gegebenes. Vielmehr ist sie, vor ihrem Ausbruch, Objekt der Interpretation und der Aushandlung, und noch der Showdown selbst ist nichts, was eruptiv über den Film hereinbricht. Vielmehr ist Gewalt, in allen Fregonese-Filmen, ein Prozess, und als solcher zerlegbar und analysierbar.
Manchmal direkt im szenischen Aufbau, als Bewegungskaskade: In Blowing Wild reitet ein Bandit auf eine Ölförderpumpe zu, Gary Cooper erschießt sein Pferd, der Bandit rollt zu Boden, rappelt sich noch einmal auf, stolpert ein paar weitere Schritte nach vorn und wirft, bevor er selbst stirbt, eine Stange Dynamit auf die Pumpe, die explodiert (und Barbara Stanwycks Femme Fatale tötet). In One Way Street (1950) führt eine kerzengerade, enge Gasse zur Wohnung der Gangster. James Mason durchschreitet sie im Film zweimal, beim ersten Mal bewegt er sich weg von der Gewalt, beim zweiten Mal kehrt er zu ihr zurück.

Auch in seinem Gewaltdiskurs ist The Raid der komplexeste Fregonese-Film: weil sich in ihm Gewalthandlung und Gewaltdiskurs in einem einzigen Körper vereinen und an diesen widersprüchliche Signale senden. Wenn die Südstaatler ihren Plan, die Vermonter Kleinstadt zu überfallen (mit dem Ziel, die Nordstaaten durch die Eröffnung einer zweiten, guerillaartig organisierten Front zu schwächen), in die Tat umsetzen, sieht sich Van Heflin ein weiteres Mal mit seiner Tanzpartnerin konfrontiert. Beim Versuch, die Gründe seines Verrats zu erklären, dessen Unvermeidlichkeit vor allem, richtet er sich, hinter einem Fenster kauernd, auf und wird prompt von einer Kugel getroffen. Die Kugel, die sich in seinen Körper bohrt, ist Teil seines Arguments und gleichzeitig Grenze des Diskurses.
In Apache Drums wiederum läuft während des gesamten Showdowns eine verbale Auseinandersetzung über Rassismus mit. Der lokale Pfarrer misstraut allen Indianern und würde am liebsten selbst diejenigen, die auf der Seite der Weißen kämpfen, vorsorglich lynchen. Noch im Eifer des Gefechts lässt Fregonese keinen dieser Ausfälle der religiös unterfütterten Intoleranz unwidersprochen. Der pazifistische Allgemeinplatz, dass Waffen sprechen, wo Worte versagen, ist zu kurz gedacht. Die Gewalt schärft den Verstand und auch die Sinne. Sie ist, außerdem, ein Wahrnehmungsphänomen. In Apache Drums (aber auch in Old Shatterhand, Fregoneses Beitrag zur Karl-May-Reihe, einem etwas umständlich erzählten Film, dessen finaler Indianerangriff dennoch zu den Höhepunkten des deutschen Genrekinos der 1960er Jahre zählt) ist die Hauptfigur während großer Teile des finalen Kampfes gefesselt, zurückgeworfen auf eine Beobachterperspektive, die der unseren ähnelt. Die Gewalt ist etwas, das sich ohne ihr Zutun abspult und das sie gleichwohl offensichtlich etwas angeht.

 

The Raid (1954)

© 20th Century Fox

 

Gewalt als etwas Gemachtes, Hergestelltes, das sich jedoch im Moment der Aktualisierung der Kontrolle des Einzelnen entzieht. Das gilt erst recht für die historische Gewalt, die sich der erstaunlichen, aber weithin, teils selbst von Fregonese-Fans übersehenen Casablanca-Variation (auch: Casablanca-Entmystifizierung) Seven Thunders aufprägt: Das Hafenquartier, in dem sich im Jahr 1943 aus deutscher Kriegsgefangenschaft entflohene Soldaten der Alliierten zwischen Huren, Seeleuten und Rumtreibern verstecken, wird in den letzten Filmminuten von den Nazis in die Luft gesprengt. Die Explosionen vollzieht Fregonese nach, indem er das Bild als Ganzes durchrüttelt – ein denkbar basaler Spezialeffekt, der nicht auf die dargestellte Welt, sondern auf das Medium selbst abzielt: Das resultiernde «Bildflackern» schaut aus, wie wenn bei einer Analogprojektion der Filmstreifen aus der Fassung springt. Wenn in anderen Einstellungen hinter den um ihr Leben rennenden Figuren dann doch kollabierende Gebäude zu sehen sind, handelt es sich um Rückprojektionen, die den Riss, den sie ins Bild eintragen, gleichzeitig zu kitten versuchen.

Das Bild der Gewalt als ein mit sich selbst uneiniges «Streit-Bild» (Drehli Robnik). Die atmosphärische, fast philosophisch-höhlengleichnisartige Dunkelheit, in die Apache Drums das Innere der Kirche während des Indianerangriffs hüllt, darf man hingegen vermutlich der Handschrift Val Lewtons, des Produzenten des Films, zuschreiben. Im Allgemeinen heißt visuelle Gestaltung bei Fregonese nicht Schattenspiel, sondern Organisation des Sichtbaren. Die Kamera ist dazu da, uns in eine Beziehung zu setzen zu den Dingen und Menschen des Films, und zwar am Besten auf einen Blick. Im schönen, aufgrund des untypisch leutseligen, ironisch-märchenhaften Tonfalls leicht zu unterschätzenden Saddle Tramp filmt sie sogar das Ende (den Anfang?) eines Regenbogens, der im Vorhof eines Farmgebäudes dem Erdboden entsteigt.

Wenn allerdings in Untamed Frontier (1952) Shelley Winters das verletzte Bein eines Cowboys mit einem glühenden Brandeisen notdürftig verarztet, dann schneidet Fregonese nicht auf das verschmorte Fleisch. Es tut sich eine Lücke auf im Feld des Sichtbaren, die markiert wird durch den konzentrierten, starren Blick Winters’ auf das für uns unsichtbare Werk ihrer Hände; ein Werk, das einem Mann das Leben rettet und das doch einen Skandal darstellt, der nicht in das Feld der Repräsentation rückübersetzt werden kann. Vielleicht, weil die Gewalt, die in der Welt des Films für gewöhnlich und routinemäßig den Tieren angetan wird, sich für einmal, und sei es in wohlmeinender Absicht, gegen einen Menschen richtet. (Im sonderbaren The Mark of the Renegade, 1951, ist Ricardo Montalban der Buchstabe «R» auf die Stirn gebrannt, wie den Tieren auf den Ranches des Wilden Westens das Logo ihrer Besitzer; auch hier scheint die Verschiebung der naturbeherrschenden Gewalt auf den Menschen einen Skandal darzustellen, der sich im Film freilich alsbald zwischen erratischen Drehbuchvolten verliert.)

Eine ähnliche Lücke tut sich in Blowing Wild auf, wenn Barbara Stanwyck kurz vor ihrem eigenen Ableben ihren Ehemann ermordet. Auch diese Szene spielt an der Ölförder-, beziehungsweise, ein viel schöneres Wort, Pferdekopfpumpe. Stanwyck wirft den Mann (den sie nicht dafür hasst, wer er ist, sondern dafür, wer er nicht ist: Gary Cooper) in den Mechanismus der Pumpe, oder jedenfalls in Richtung des kreisrund rotierenden Gegengewichts. So recht wird nicht klar, wohin er fällt, wie genau er ins Jenseits befördert wird. Er kippt einfach aus dem Bild und Stanwyck bleibt allein zurück. In diesem Fall verweist die strategische, markierte Unsichtbarkeit auf den Raubbau an den sogenannten Bodenschätzen, die gewaltsame Extraktion keineswegs unendlicher Ressourcen. Das Öl, das aus dem Boden schießt wie Blut aus einer Wunde.

Die Gewalt, von der Fregonese erzählt, ist zu grundlegend und zu beziehungsreich, als dass sie einem einzelnen Gewalt ausübenden Subjekt zuzuschreiben wäre; darum die Lücke. Die markanteste Abwesenheit im Werk betrifft einen Keller in Seven Thunders, einen Keller, der sich im seinerseits dem Untergang geweihten Hafenquartier befindet und in dem ein diabolischer Vollbartträger den um ihn herum sich vollziehenden großen, historischen Massenmord im kleinen, als Pulp-Fantasie nachstellt: Er gibt sich als Antifaschist und Fluchthelfer aus, lockt Gegner des Naziregimes auf sein Anwesen, betäubt sie mithilfe von Branntwein und murkst sie im Keller ab. Diesen Keller zu betreten hieße mithin, entweder bereits seiner Sinne beraubt und todgeweiht – oder selbst der Mörder zu sein. Konsequenterweise bleibt er den gesamten Film über unsichtbar, nicht einmal die Kellertreppe oder die Kellertür werden pars pro toto ins Bild gerückt. Die visuelle Konkretion des Kellers würde den Diskurs über die Gewalt stillstellen, den Blick erstarren lassen im Gestus einer voyeuristischen Angstlust, die die eigene Verstricktheit ins Angeblickte nicht länger mitdenken muss.


Auf dem Festival Il Cinema Ritrovato in Bologna war Hugo Fregonese 2022 eine Retrospektive gewidmet. Laut justwatch sind derzeit sieben seiner Filme in Deutschland als Stream verfügbar, von den im Text erwähnten allerdings nur Blowing Wild und Old Shatterhand