Elisabeth Perceval & Nicolas Klotz Untergründige Dialoge
Elisabeth Perceval und Nicolas Klotz machen Filme gegen das privilegierte, destruktive Regime des weißen Europa – in einer Position, die eigentlich in einen ständigen Selbstwiderspruch führen müsste. Lässt er sich überwinden? Ihr Film Nous disons révolution zählt zu den spannendsten Ansätzen der letzten Jahre.
Im Oktober 2021 sah ich bei Doclisboa an einem Sonntagvormittag den Film Nous disons revolution von Nicolas Klotz und Elisabeth Perceval. Den Regisseur hatte ich als «interessant» im Kopf, wegen La question humaine (2009, wir hatten einen Text von Gertrud Koch dazu in unserem allerersten Heft, wie ich später feststellte). Gegen Ende von Nous disons révolution gibt es eine längere Sequenz, in der ein Samba-Umzug in São Paolo zu sehen ist. Die Kamera ist mittendrin, der Ton auch, alles ist in hohem Maß Energie und zugleich deutlich postproduziert. Wie eine Feier aussehen könnte, auf der ehemals versklavte Menschen ihre Freiheit hochleben lassen, davon gibt es hier eine fulminante Andeutung. Ich stellte nach der Vorstellung, in einem kleinen Kino, viele Leute waren nicht da, eine eher pflichtschuldige Frage zu der Autorinnenposition von Klotz/Perceval: Wie gehen sie mit ihrer Privilegiertheit um, Kulturmenschen aus Paris, die an Orten im Kongo oder in Brasilien hybrides Essaykino machen, immer die mächtigen europäischen Institutionen wie das Centre Pompidou im Hintergrund? Klotz antwortete, meine ich, mit einem kurzen Satz: Wir glauben nicht an das Subjekt. Und das mit den mächtigen Institutionen relativiert sich (trotz einer großen Retro, die das Paar tatsächlich kürzlich hatte) auch ein bisschen angesichts der konkreten Produktionsumstände ihrer kontinuierlichen Filmarbeit, die ein – das große Wort macht Sinn: revolutionäres – Interesse bezeugt, das weit über Auftragskunst hinausgeht. Einige Wochen später schrieb ich eine Email an den Produzenten von Klotz/Perceval, so kam ein Kontakt zustande, der schließlich dazu führte, dass das auf diesen Seiten abgedruckte Gespräch in einer etwas anderen Form als sonst üblich zustande kam: es wurde schriftlich geführt, die Antworten kamen auf Französisch, im Grunde ist es zuerst einmal eine Art geschriebener Audio-Kommentar zu Nous disons révolution. Der Film ist derzeit nicht leicht zu finden, es ist also auch eine Art Ressourcenbildung, wenn wir ihm in cargo so großen Platz einräumen – in der Hoffnung, dass sich die Auseinandersetzung um die Position von Klotz/Perceval noch ergibt, und dass es dann schon Material dazu gibt. Nur unzureichend lässt sich hier leider abbilden, wie das schriftliche Gespräch sofort über sich hinauszugehen begann: Elisabeth Perceval schickte im Grunde kleine Text-Bild-Collagen, teilweise mit Bildern aus ihrem Familienalbum, das aber weit über die private Geschichte hinausweist. Ausschnitte aus einem Bildbuch, das an das von Godard anschließt (cargo 41), an dessen Ende es ja auch hieß: Was wir jetzt brauchen, ist eine Revolution.
Wir wollen ausführlich und im Detail über Ihren Film Nous disons révolution sprechen, und, soweit möglich, ein wenig über Ihr gesamtes Werk. Welches «wir» ist denn gemeint in Nous disons?
NK Nous disons révolution ist zuerst einmal unser Beitrag zu einer vom Centre Pompidou kuratierten Fimreihe Ou en êtes vous? (Wo seid ihr?). Wir wollen mit unserer Arbeitsweise, mit unseren Erzählweisen, mit den Formaten und der Produktion «Revolution ansagen». Normalerweise sind die Beiträge zu dieser Reihe zwischen zehn und zwanzig Minuten lang, Nous disons ist ein Langfilm von 127 Minuten. Es ist auch das «wir» der Transgender-Philosophie von Paul Preciado, der mit einem kurzen Text (Ein Apartment auf dem Uranus) gegen Ende des Films auftaucht. Es ist ein großes und inspirierendes Wir, das das ganze Werk von Preciado umfasst und dem wir uns nahe fühlen. Ein Wir, das aus der fernen Vergangenheit genauso kommt wie aus der Zukunft. Ein animistisches Wir, ein gegenwärtiges, ein Science-Fiction-Wir. Es schließt genozidierte und kolonisierte Völker ein, menschliche und nicht-menschliche Welten, die mit diesem Wir das Wort ergreifen. Ein Wir, das zu einer großen anthropologischen Revolution gehört, die schon im Gang ist, und die das neoliberale ich (je) des gegenwärtigen Kapitalismus hinter sich lassen wird. Ein Wir, das auch Fiktion und Dokument durcheinanderbringen wird. Das Wir lebt in den Texten von William Faulkner, Aimé Césaire, Frantz Fanon, Anna Seghers, Heiner Müller, Mahmoud Darwish und amerikanischen Indigenen, mit denen wir arbeiten. Aus dem Wir entsteht ein Fresko, das von der Versklavung bis zur 6. Extinktion reicht. Wenn das Kino es nicht schafft, Teil dieser schon laufenden Revolution zu werden, dann wird es als Kunst verschwinden. Vielleicht ist es schon weitgehend verschwunden? Das ist eine Frage, die von Godard sein könnte.
EP Dieses «Wir», aus dem ich komme, ist in erster Linie meine Geburt in eine Geschichte, in eine Landschaft voller Geschichten. Geschichten der Rasse, des Geschlechts und der Klasse – der Arbeiterklasse. Geschichten von Kolonialisierung und Vernichtung. Mütterlicherseits der Vater und seine drei Brüder, die Lahlou, die aus Andalusien ausgewandert waren – Marranen, wie man so sagt. Also vor langer Zeit von viel weiter weg aufgebrochen. Sie kamen in Nordfrankreich in Le Quesnoy an. Sie sind alle Schuster geworden und wohnten in der Rue des Cordonniers. Mein Großvater eröffnet schließlich ein Bistro in der Nähe – politische Geschichten. Im Hinterzimmer: Treffen von Streikenden. Und später die Résistance. In der Zwischendecke unter dem Dach fanden die deutschen Besatzer die Spuren der Flüchtlinge. Das Bistro wurde niedergebrannt. Die Familie zieht mit ihren sechs Töchtern (darunter meine Mutter) nach Paris. Sie wird Concierge in der Rue Notre Dame de Nazareth. Das «Wir» ist eine Gruppe von Menschen, die sich um ein Projekt versammelt haben. Ein Film besteht aus Männern, Frauen, Freunden, ein bisschen Produktion, wenn möglich, und manchmal aus Technikern. Ansonsten, wenn die Aktualität es befiehlt, wird die Equipe auf ein Maximum reduziert: er und ich. Man könnte meinen, dass das zwei sind. Nun, das ist völlig falsch. Zu zweit ist man immer mehrere, ein kleines Kollektiv.
Der Film besteht aus vier «courses». Wie sollen wir diesen Begriff verstehen?
NK Von Anfang an stellten wir uns den Film in vier Spulen (bobines) vor. Jede Spule mit ihrer eigenen Energie, ihrer eigenen Geschwindigkeit, ihrem eigenen Stil. Im Laufe des Schnitts wurde der Film immer klarer, die Spulen wurden zu «Rennen». Das Rennen des Sklaven, der aus Brazzaville flieht, um nicht mit seinem verstorbenen Herrn ins Grab zu müssen. Das von Mamadou und seinem Doppelgänger, die das Mittelmeer bis nach Barcelona überquert haben. Das der Menschen und Nicht-Menschen in São Paulo angesichts der Beschleunigung des sechsten Aussterbens. Das des Films, der vor der Industrie in das Infraleben des Kinos flüchtet. Das Infraleben ist eine Zone des Kinos, in der die Herrschaftsprozesse des Geldes, die Schwerfälligkeit der Teams, der linearen Erzählung und der Einfluss des Marktes suspendiert sind. Es ist eine sehr freie ästhetische und politische Zone. Eine Zone, in der alle unsere Filme versuchen, sich aufzuhalten. Selbst diejenigen, die wir «am Rande des Systems» gedreht haben, wie Paria, La Blessure, La question humaine und Low Life.
Könnten Sie den ersten «Lauf», entstanden in Brazzaville, ein wenig herleiten.
EP Als ich fünf Jahre lang an Faulkners Kurzgeschichte Red Leaves gearbeitet hatte, nahm ich dieses unmöglich zu schreibende Drehbuch in meinem Gepäck mit in den Kongo, weil ich überzeugt war, dass der lebendige Stoff der Kurzgeschichte dort in Afrika zu finden war, durch die Arbeit mit den Schauspielern, die wir treffen würden. In den ersten Tagen fasste ich die Geschichte des Meisters zusammen, der bei seinem Tod mit seinem Hund, seinem Pferd und seinem Sklaven beerdigt werden soll. Der Sklave hat das Recht, einen Fluchtversuch zu unternehmen, die Herren haben das Recht, ihn zu töten. Die Familie muss die Jagd anführen und den entlaufenen Sklaven zurückbringen, damit er seinem Herren bis in den Tod weiter dienen kann. Nach einigen Minuten des Schweigens wurde ziemlich viel gelacht und alle drückten ihren Wunsch aus, mit dieser Geschichte zu arbeiten. Die im Moment gefilmten Reaktionen waren sowohl politische Überlegungen als auch intime Erfahrungen, die sich auf Geschichten, Praktiken und Zeremonien bezogen, die man hier und da gehört hatte. Von dieser ersten Sitzung an war der Film im Entstehen begriffen. Wir waren alle zusammen und jeder ergriff das Wort, entweder in die Kamera oder in das iPhone, wenn die Batterien leer waren. Später in einem der Drehbuchfragmente sagte uns eine der Figuren: Am Anfang gibt es den Gejagten und es gibt den Jäger. Manche können gejagt werden, andere nicht.
Bei Faulkner spielt die Geschichte zwischen amerikanischen Ureinwohnern und Schwarzen Sklaven. Der Text ist nicht unproblematisch.
EP Seit Anbeginn der Zeit hat sich die Geschichte der Menschenjagd in die Körper eingeschrieben und in den Landschaften Trennlinien innerhalb der menschlichen Gemeinschaft gezogen. Das Hauptproblem besteht darin, dass der Jäger und der Gejagte nicht zu verschiedenen Arten gehören. Damit beginnt die lange Geschichte der Kolonialisierung und der Raubtiertechnologien, die für die Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen unerlässlich sind. Dass die Herrschaft des Meisters im Tod bis ins Paradies fortgesetzt wird, macht keinen Sinn … empörte sich Sagesse, der junge Schauspieler der Gruppe. Später wollte er in der stummen Sequenz den Sklaven darstellen. Dieser erste Lauf fand in einer emanzipatorischen Energie statt, die sich im gesamten weiteren Verlauf des Films und insbesondere durch den Tanz ausbreitet.
Tanz ist bei Ihnen zentral. Wie finden Sie die Tanzenden?
NK Wir hatten bereits mehrfach mit DeLaVallet Bidiefono gearbeitet, der mit seinem Schatten tanzt. Er ist es, der am Ende von L’Héroïque Lande am Strand von Calais tanzt. DeLaVallet ist ein spannender, außergewöhnlicher Choreograf, mit dem die Arbeit auf sehr einfache Weise erfolgt. Er ist ganz und gar vom Tanz beseelt. Nicht der «Show»-Tanz, der kraftvolle, tellurische Tanz. Nicht das Bild interessiert ihn, sondern die Kraft und die Leichtigkeit. Der Tanz beim Denken. Wir beginnen damit, Bier zu trinken und über viele Dinge zu diskutieren. Ein paar Worte darüber, was wir gerne machen würden. Faulkners Novelle, die Sklaverei, der Tanz als Befreiung von den Ketten. Danach fährt er ein paar Tage in den Wald von Brazzaville, um «nachzudenken». Eines Morgens schickte er uns eine Nachricht: Ça y est, je suis prêt. Wir treffen uns in zwei Stunden. Im Centre Sony Labou Tansi, in dem wir filmten, herrschten 40 Grad. Er hatte nur einen Projektor aufgestellt. Es wird keine Musik gespielt. Kein Anfang, kein Ende. Er tanzte etwa 40 Minuten lang. Ella Ganga ist eine seiner Schülerinnen und tanzt in seiner Tanzgruppe. In Brazzaville wird es nicht gern gesehen, wenn eine verheiratete Frau tanzt. Sie musste viel gegen ihren Mann kämpfen, um tanzen zu dürfen. Als ihr Mann sie aufforderte, zwischen ihm und dem Tanzen zu wählen, zögerte sie nicht, ihn zu verlassen. Die Schönheit dieser Frau ist so inspirierend, dass sie nie gelernt hat zu lesen. Für Ella und DeLaVallet schöpft das Tanzen aus der Revolte. Tanzen ist eine Revolte gegen die Schwere, woher auch immer sie kommt. Das ist auch der Sinn des Tanzes, den wir in einem Bar-Restaurant außerhalb von Brazzaville gefilmt hatten. Es ist ein traditioneller Tanz in Brazzaville, der Tanz des Sklaven, der, solange er tanzt, durch nichts behindert wird. Aber sobald er aufhört zu tanzen, hindern ihn seine Ketten am Gehen. In São Paulo hatten wir diese Feier im Stadtteil Bela Vista schon einige Jahre zuvor gesehen. Sie fand jedoch in einem Schuppen statt. Als wir zurückkehren konnten, um zu filmen, hatte sie die Straße erobert. Die Zeremonie ist eine Hommage an die afrikanischen Sklaven, die nach Brasilien gekommen waren, getanzt, gesungen, von einem ganzen Viertel. Ein ganzes Viertel in Trance. Das Wort «Revolution» kam von dort.
Bela Vista war auch die Szene, bei der ich endgültig von diesem Film elektrisiert wurde. Im zweiten «course» treffen wir einen Mann namens Mamadou. Wie gehen Sie mit einem solchen Dokumentarprotagonisten um?
NK Wir trafen Mamadou am Hafen von Barcelona, eine Stunde, bevor wir mit den Dreharbeiten begannen. Wir suchen oft nach «Schauspielern» an den Drehorten selbst. Er verkaufte Sonnenbrillen inmitten eines Dutzends anderer Verkäufer von Gürteln, Hüten, Taschen etc. Als wir gerade begannen, mit ihm zu diskutieren, stürmten etwa 20 Polizisten auf die Brücke. Die Verkäufer warfen ihre Sachen ins Wasser und rannten weg, so schnell sie konnten. Die Polizisten versuchten, sie einzuholen, aber sie liefen nicht schnell genug. Eine Stunde später kam Mamadou zurück. Wir hatten ihm gesagt, dass wir auf ihn warten würden. Wir unterhielten uns und boten einen Geldbetrag für drei Stunden Drehzeit an. Er fragte uns nach dem Preis für ein zusätzliches Taxi, um ihn nach Hause zu bringen. Die Maskenbildnerin machte ihm eine Narbe, die er stolz seinen Freunden zeigte. Er sagte ihnen, dass es die Narbe des Exils sei. Während sie die Narbe machte, ging Elisabeth um 23 Uhr auf die Ramblas, um Rosen zu holen. Es brachte Mamadou zum Lachen, Rosen zu verkaufen, denn das ist das Geschäft der Pakistanis, nicht das der Afrikaner. Alles, was er auf Französisch über den Hafen sagt, sind Dinge, die er uns während der Dreharbeiten erzählt hat, die er mit einem senegalesischen Freund aufgenommen hat, nachdem er wieder in Paris war. Elisabeth arbeitet viel in und mit der Erinnerung an die Dinge. Die meisten Sequenzen wurden mit Personen gedreht, die wir bei den Dreharbeiten vor Ort getroffen hatten. In den vorhandenen Lichtern, die ganz besondere Stimmungen erzeugten. Es war ein improvisierter Dreh, ausgehend von den Orten, den Begegnungen und den Fragmenten der Sequenzen, die Elisabeth geschrieben hatte. Die Erzählung folgte dem Verlauf der Dreharbeiten, ähnlich wie man es von Jacques Rivette kennt.
Welchen Text liest Mamadou in den Szenen im Wald?
NK Es ist interessant, dass Sie von einem Wald sprechen. In Wirklichkeit handelt es sich um einen kleinen öffentlichen Garten in der Nähe des Hafens von Barcelona. Ich hatte diesen Garten ein paar Tage zuvor ausfindig gemacht, ohne zu wissen, dass es der Ort ist, an dem Mamadou nachts schlief, wenn er den Bus nach Hause in die Vorstadt verpasste. Und natürlich ist es ein Wald mitten in der Stadt. Der Wald bewohnt viele unserer Filme seit La nuit bengali (1987), der in Kalkutta gedreht wurde. Der Wald ist sowohl ein Zufluchtsort für Flüchtende als auch ein Ort des Widerstands. Er ist auch das Gedächtnis. Wir wissen nicht, welches Buch Mamadou liest, wir hören seine innere Stimme erzählen. Elisabeth hat diesen Text geschrieben, der Fragmente aus Faulkners Read Leaves und dem Drehbuch von Ceremony vermischt (das war eine Vorstufe von Nous disons). Manchmal sprechen zwei Personen gleichzeitig. Mamadou und die Figur im Buch. Es ist nicht klar, ob Mamadou wach ist oder träumt, und der Traum spricht durch ihn. Manchmal überlagern sich andere Aufnahmen, die in Brazzaville gedreht wurden, oder Fotografien, die während der Dreharbeiten entstanden sind. Die Stimme fährt fort und führt uns zum Place St. Filip Neri im Gotischen Viertel, um den Staffelstab an Mamadous Doppelgänger weiterzugeben. Dieser Platz, auf dem die Mauern der Kirche mit Einschusslöchern von Maschinengewehrkugeln und Granaten aus der spanischen Revolution übersät sind, war schon immer eine Unterkunft für Menschen, die aus Afrika kamen. Aber auch für die Armen im Mittelalter und für Verrückte.
Eine Maske spielt in diesem zweiten Teil eine wichtige Rolle. Was bestimmt Ihren Umgang mit einem so starken Bild?
EP: Diese Maske, halb Frau, halb Tier, begegnete mir 2013 in L’Afrique Fantôme von Michel Leiris, er selbst begegnete ihr an einem 11. Dezember 1931. «Hinter dem Bahnhof, unter einem Unterstand mit Strohdach, in dessen Nähe fromme Adepten die französische Flagge gehisst haben, sind zwei furchteinflößende Figuren aufgestellt: ein Mann und eine Frau. Der sitzende Mann ist in weißen, schwarzen und waschpulverblauen Farben angemalt und trägt einen echten Kneifer, der mich an meinen Vater erinnert. Die Frau hat ein weißes Gesicht, einen blauen Körper, schwarze Glieder. Sie hält ihre Brüste in beiden Händen und sitzt auf einem Tier, das ich für einen Bären halte, das aber ein Pferd vorstellen soll. (…) Ich möchte niederknien vor diesen so blauen, so schwarzen, so wirklichen Gestalten.» Auf dem Foto im Buch ist ihr Körper nicht zu sehen. Was mir jedoch sofort auffällt, sind seine zwei Paar Ohren: Eines, wie bei den Menschen, befindet sich auf jeder Seite seines Gesichts, sie sind weiß, breit und rund und tragen zwei echte Anhänger, die mich an meine Mutter erinnern. Über ihrem Kopf befinden sich wie bei vielen Tieren zwei spitze, schwarze Ohren, die mit Haaren bedeckt sind, die ich als Ziegenhaar identifiziert habe. Um ihren Hals trägt diese Gottheit mehrere Halsketten, die bis zu ihrem Oberkörper hinunterreichen. Ich sehe weder ihre Brüste noch ihren gesamten Körper, der von Michel Leiris beschrieben wurde. Ich sah sofort, dass es sich um eine Gottheit handelte, die mit Fruchtbarkeit, Mutterschaft und Liebe zu tun hatte. Später erhielt ich von meinem Sohn ein für mich unverständliches Foto meiner Mutter. Und er hatte keine Erklärung für dessen Herkunft, außer dass es sich um eine Reihe von Fotos handelte, die er nach dem Tod meiner ältesten Schwester erhalten hatte. Alle meine Verwandten waren verschwunden, und dieses Foto wird noch lange sein Geheimnis behalten. Wo ist sie, meine Mutter? In welchem Land ist sie? Wer ist der Mann bei ihr? Und dieses riesige Tier, das tot oder sterbend zu ihren Füßen liegt, aus welchem Meer wurde es gefischt? Sie trägt Anhänger an den Ohren und schwingt das Messer, während der Mann das Tier an einem Seil festhält.
Ihre Mutter gehört auch zum «nous».
EP Ein paar Worte über meine Mutter, die ich nie mit einem Buch in den Händen gesehen habe. Aber immer waren ihre Hände mit der Wäsche beschäftigt, die sie sortierte, wusch und aufhängte. Ihre feinen Hände, schälend, schneidend, kochend, klopfend, nähend oder auch mit rot lackierten Fingernägeln und mit einer Zigarette, einem Glas Wein in der anderen Hand. Oft erschien mir ihr Körper, der auf einem Wolf mit stahlgrauem Fell ritt, sie ging durchs Leben, wie man die Meute auf einen Hirsch hetzt. Mein Vater, der in Madagaskar geboren wurde, hat mir nie von seiner seltsamen Familie erzählt. Aber bevor ich nach Barcelona fuhr, um Teile des Drehbuchs Ceremony zu drehen, an dem ich immer noch arbeitete, fragte ich eine Freundin, die Bühnenbildnerin und Requisiteurin am Theater war, ob sie mir diese Maske anfertigen würde, die plötzlich für die Dreharbeiten unentbehrlich geworden war. Die Verwunderung in diesem Moment über die traumartige Erinnerung an den Raum und die Zeit, die diese Maske durchlaufen hatte, von Afrika bis zum Geisterbuch von Michel Leiris. Dann unsere Begegnung, wie die Vergangenheit manchmal in unsere Gegenwart eindringt. Die Maske dieser aus Pappmaché gefertigten Gottheit hat es bis nach Barcelona geschafft, zum Platz St. Filip Neri, wo ich sie während der Dreharbeiten des Films trage. Ja, natürlich «ist es schwierig, mich an mein Gesicht zu erinnern», sagt sie. Sie wird also von zwei Frauen getragen, von denen die eine Katalanisch und die andere Französisch spricht. Sie verkörpern die verdrängte Erinnerung an eine Kolonialfamilie, die man zum Schweigen bringen möchte. Im gotischen Viertel Barcelonas wird die Maske zum Beschützer der jungen Exilanten und Emigranten, die aus Afrika kommen. Emanzipation ist eine Marronage. Sich von unseren Herren zu emanzipieren ist unsere gewünschte Irrfahrt, unser Schicksal oder nichts, da sie kein anderes Programm haben, das sie uns aufzwingen können, als uns an sich zu ketten, indem sie uns in das Loch des Todes ziehen; schrieb unser Freund Saad Chakali nach der Vorführung von Nous disons révolution.
Ein Teil des zweiten courses arbeitet mit Elementen des Stummfilms. Wie kam das?
NK Ursprünglich war in Elisabeths Drehbuch die Sequenz nicht stumm. Der Stummfilm kam durch den Schwarz-Weiß-Film. Durch das Sehen der Körper, der Gesichter, der Schauspielerinnen und Schauspieler. Mit der Idee, mehrere Zeiten und mehrere Räume zu überlagern. Brazzaville und das Europa vor der Französischen Revolution. Die Ursprünge des Kinos und die Erinnerung liegen nicht hinter uns. Sie sind vor uns. Auf der Leinwand und in der Zukunft. Es war schwierig, sich diese Sequenz in Farbe vorzustellen. Es ist eine etwas unvordenkliche Sequenz, die mit sehr einfachen Mitteln gedreht wurde. Eine mineralische Sequenz. So hart und ewig wie der Stein und wie die Sklaverei, die immer eine der Bedingungen des Kapitalismus war. Die Inserts, die den Rhythmus der Szene bestimmen, sind Fragmente von Auszügen aus Aimé Césaire, Georg Büchner und Guy Debord, die von Elisabeth konzentriert und montiert wurden. Das Klavier stammt von Emahoy Tségué-Maryam Guèbrou, einer äthiopischen Nonne, die 1923 geboren wurde. Der Einfluss des Stummfilmklaviers, des Jazz und des Blues tragen dazu bei, dass sich Räume und Zeiten überlagern. Der Süden der USA, Brazzaville und Europa. Je einfacher eine Sequenz gefilmt/geschnitten wird, desto mehr Komplexität kann sie erzeugen. Die Sequenz «denkt», weil sie auch musikalisch ist. Zunächst nimmt die christliche Religion Anstoß an dem Selbstmordwunsch des jungen Sklaven, der vorschlägt, den flüchtigen Sklaven des Meisters im Tod zu ersetzen. Die beiden Königinnen empören sich darüber, dass dieser junge Exsklave anstelle eines anderen sterben möchte. Mit dem Aufkommen des Kapitalismus verschwindet ihre Empörung – «ein Sklave kann einen anderen ersetzen».
Noch ein Detail: der elektronische Track zu dem ersten Schattentanz. Was ist das?
NK Ulysses, unser Sohn, der die meiste Musik in unseren Filmen komponiert, war bei uns in Fecamp, als wir an der Montage des Films arbeiteten. Er arbeitete an einem Musikstück in Elisabeths Büro, und der Klang des Stücks drang durch die Wand. Ich eilte hin und fragte ihn, was das sei. Er sagte mir, dass es für den Film eines Freundes sei. Ich sagte: «Jetzt nicht mehr.» Ich nahm die Datei und probierte sie an dieser Tanzsequenz aus. Es sah so aus, als ob die Musik in DeLaVallets Kopf wäre. Das war umso interessanter, als das Stück von einem Sample ausging, das Ulysses aus einem Ausschnitt des Alien-Soundtracks gemacht hatte und das mit der Science-Fiction von Nous disons révolution mitschwang. So läuft es oft mit Ulysses, es ist einfach und sehr instinktiv. Ein paar Worte, eine Referenz, manchmal ein Zufall.
Sie erwähnten kurz Godard. Er taucht auch auf im Film.
NK: Der Film beginnt mit Godard, der Anne-Marie Miéville zitiert, die den Heiligen Paulus zitiert: «ne te fais | pas de mal | nous sommes | tous encore ici». Dieses Insert ist in Allemagne année 90 neuf zéro, den wir während des Schnitts von Nous disons noch einmal sahen. Da wir nicht wollten, dass der Titel des Films am Anfang des Films erscheint, bot sich dieses Zitat als sein erstes Bild an. Umso mehr, als der letzte Satz des Le livre d’Image lautet: Il nous faut une révolution. Godard hat dem Kino so viele neue Horizonte eröffnet! Es geht nicht um Referenzen, sondern um Horizonte. Godard ist zweifellos der einzige lebende Filmemacher, der auch heute noch in der Lage ist, das Kino zu bewegen, vollständig, mit jedem Film.
Eine lange Passage in Nous disons beschäftigt sich mit White Paranoia. Wie gehört das in den Kontext?
NK Wir können uns dieser Frage nicht entziehen. Sie ist tief in die Kolonialgeschichte Europas und den genetischen Code der weißen kapitalistischen Welt eingeschrieben. Der Kapitalismus wurde auf der Versklavung der schwarzen Völker aufgebaut. Der Sklavenhandel in Amerika, in Brasilien und auf den Antillen, die Kolonialisierung in Europa. Die riesige und schreckliche Frage lautet: Warum die Schwarzen? Es ist der Horrorfilm der weißen Welt. Die weiße Paranoia ist eine psychische Krankheit, die durch diesen Horrorfilm erzeugt wird. Frantz Fanon hat sich klinisch intensiv mit dieser Paranoia beschäftigt. Die panische Angst der weißen Bourgeoisie beim Anblick des Körpers eines schwarzen Mannes. Die Reduzierung dieser Fragestellung – warum die Schwarzen? – auf eine moralische Position zu reduzieren, ist nicht hilfreich. Wir müssen uns ihr vollständig und kollektiv stellen, ohne Schuldgefühle, ohne falsches Gewissen und vor allem ohne die vergebliche Hoffnung, dass sich «es» in der Zukunft bessern wird. Denn offensichtlich ist die weiße kapitalistische Welt nicht in der Lage, ihre Negrophobie loszuwerden. Das ist ein Thema, mit dem jeder weißhäutige Mensch, ob privilegiert oder nicht, konfrontiert ist. Es ist nicht nur der Rassismus. Es ist die Tatsache, dass vier Jahrhunderte lang jedes schwarze Kind, das auf die Welt kam, als Sklave geboren wurde. Ganze Generationen von schwarzen Babys und schwarzen Familien waren und sind einem Bündel von Gewalt ausgesetzt, das durch die erschreckende juristische, soziale, wirtschaftliche, politische, historische, philosophische, wissenschaftliche, medizinische, psychiatrische und metaphysische Maschinerie erzeugt wurde. Für afro-pessimistische Denker ist die kapitalistische Welt unfähig, auf die schwarze Notlage zu reagieren. Das heißt, ihnen Souveränität auf Augenhöhe mit den Weißen zu gewähren. Das ist eine radikale Position, die eine radikale Situation widerspiegelt.
Bei der Vorführung von Nous disons bei Doclisboa 2021 habe ich die ganze Zeit darüber nachgedacht, welche Position Sie selbst dabei einnehmen, ein privilegiertes französisches Paar.
NK Elisabeth und ich sind sehr engagiert in diesen Fragen, die unser gesamtes Kino auf eine quasi-anthropologische Weise durchziehen. Hannah Arendt sagte, dass der Holocaust das erste administrative Massaker in der Geschichte der Menschheit war. Heute können wir davon ausgehen, dass die Kolonialisierung, die Sklaverei, die Vernichtung der europäischen Juden, Hiroshima, die Klimakatastrophe, Hungersnöte, massive Bevölkerungsverschiebungen und die Vernichtung des Asylrechts überall in Europa Teil der Beschleunigung des sechsten Aussterbens sind. Im Laufe mehrerer Jahrhunderte hat der Kapitalismus die Lebensbedingungen für menschliches und nicht-menschliches Leben zunehmend unlebbar gemacht. Wir alle sind heute diesen großen Ereignissen in unserer Geschichte ausgesetzt.
In Locarno haben Sie diesen Sommer einen neuen Film präsentiert.
EP Nachdem wir für die Dreharbeiten zu unserem Film L’Héroïque Lande ein Jahr im «Dschungel von Calais» verbracht hatten, kehrten wir einige Jahre später in dieses Gebiet zurück, um zu sehen, was aus der Heide geworden war. Der Schock war genauso groß wie beim ersten Mal. Nur in entgegengesetzter Richtung. Im Jahr 2016 hoben uns die tellurische Energie, die Freude und die kreative Kraft der 15 000 Menschen, die dort lebten, buchstäblich aus den Angeln. Im Jahr 2019 hat uns das Verschwinden aller Spuren von Leben, die Umgestaltung der Landschaft durch Bulldozer, zusammenbrechen lassen. Wir hatten das Gefühl, auf einer Erde zu laufen, in der radioaktiver Abfall vergraben worden war. Auf den Ruinen eines Indianerfriedhofs, dessen Existenz und Präsenz bis in die kleinsten Spuren des dort lebenden Volkes ausgelöscht werden sollte. Als Elisabeth diese riesige künstliche Landschaft entdeckte, hatte sie das Gefühl, Stimmen zu hören, die aus der Erde aufsteigen, aus der verschütteten Stadt. Als ich mit dem Filmen begann, hörte ich diesen kurzen Text von Heiner Müller: «Immer neu wächst Gras über die Grenze.» Sobald wir anfingen, diese entvölkerte Landschaft zu filmen, wussten wir, dass es sich um eine Fortsetzung von L’Héroïque Lande handeln würde. Mit festen Einstellungen und Schwenks, den vielen Geräuschen des Windes, die gegen das Mikrofon schlugen, den Bewegungen des Lichts, der Farben und der Vögel. Nachts begann Elisabeth, den Gesang aufzuschreiben, den sie von der Erde aufsteigen hörte. Ein Gesang, der sich in das Bild einschreiben würde, der Teil des Bildes wäre, indem er die Lücke füllte, die das Verschwinden der Fiktion im Kino hinterlassen hatte. Ein teils stummer, teils gesungener Film. Von wem gesungen? Vom Film selbst.
Sie sprechen für die, die wir nicht hören wollen?
NK Wir sprechen für niemanden und sind auch nicht die Anwälte von irgendjemandem. Wir machen unsere Arbeit als Filmemacher, ohne uns jemals um ein Thema oder eine Botschaft zu kümmern. In all unseren Filmen sind wir solidarisch mit den Personen und Charakteren, die wir filmen. Und insbesondere mit den Zeitspannen, in denen sie leben. Allzu oft wird im Kino eine Zeit vorgegeben, die mit der des Zuschauers solidarisch ist. Das hat dazu geführt, dass der Hauptakteur des Films heute der Zuschauer ist. Seine Meinungen, sein Geschmack, seine Gewohnheiten, seine Fantasien, seine Wünsche, seine Beziehung zur Welt, in die die Figuren des Films eintreten oder nicht eintreten, die sie interessiert oder nicht interessiert. Wir lassen uns viel stärker von Zeitlichkeiten inspirieren, die sich uns entziehen. Das Kino ermöglicht menschliche und nicht-menschliche. Wir alle sind heute diesen wichtigen Ereignissen in unserer Geschichte ausgesetzt.
Wie kamen Sie als Paar zusammen? Als zusammen arbeitendes Paar?
NK Wir haben uns in einem Theater in der Rue de la Roquette in der Nähe der Bastille kennengelernt. Elisabeth war 25 Jahre alt. Sie war Schauspielerin und bereits eine Ikone. Sie spielte die Hauptrolle in Wedekinds Totentanz. Ich inszenierte gerade Strindbergs Der Pelikan. Sie im großen Saal des Theaters. Ich im kleinen Saal darüber. Da unsere beiden Stücke zur selben Zeit anfingen, drohte sie dem Theaterdirektor, nicht mehr weiterzuspielen, wenn «dieser Idiot» im kleinen Saal die Musik nicht leiser stellen würde. Dadurch konnte sie sich nicht mehr konzentrieren. Der Direktor kam zu mir und bat mich, den Beginn der Aufführungen um eine halbe Stunde vorzuverlegen, um «die Diva» nicht zu stören. Wir waren uns noch nie begegnet. Und dann, ein paar Tage später, trafen wir uns zufällig in der Eingangshalle des Theaters und weinten. Wir hatten gerade in der Zeitung von Pasolinis Tod erfahren. Das besiegelte einen Pakt zwischen uns. Ich glaube auch, dass sie, als ich sie zum ersten Mal auf der Bühne sah, nackt war. Wir verliebten uns während einer Vorführung von Robert Bressons Le Diable probablement ineinander. Diese Zeit war elektrisiert, aufgewühlt, durch und durch durchzogen von Filmen, Texten, leidenschaftlicher Liebe, radikalen Freundschaften und den unruhigsten Träumen. Paris war ein riesiger Beschleuniger für ultralebendige Teilchen. Mit all dem arbeiten Elisabeth und ich noch immer, in den Ruinen all dessen, was erfunden, weitergegeben und zerstört wurde. Ohne jegliche Nostalgie. Niemand konnte sich das Ausmaß der Katastrophe und der Kontraktion vorstellen, die einige Jahrzehnte später über die Welt hereinbrachen.
Ein paar Worte über den frühen Film Paria. Schon der beginnt mit einem Moment, den ich als Tanz-Performance sehe. Ich musste dann auch an Carax denken, an das Einsammeln der Obdachlosen und psychisch Kranken in Les Amants du Pont Neuf.
NK Den jungen Mann, der Paria eröffnet, habe ich eines späten Abends in einem U-Bahn-Korridor gesehen. Tanzte er gerade? War er auf Drogen? Hatte er sich ein Ritual wie die indischen Brahmanen auferlegt, um schlechtes Karma auszutreiben? Ich erzählte Elisabeth davon und wir beschlossen sofort, den Film mit dieser Szene zu beginnen. Die Voreingenommenheit des Films bestand darin, zu filmen, wie die Menschen wieder aufstehen. Den Sturz und wie sie nach dem Sturz wieder aufstehen. In La Blessure erscheint das erste Lächeln auf Blandines Gesicht zwei Stunden und 20 Minuten nach Beginn des Films. Aber was für ein Lächeln! Der junge Mann, der am Anfang von Paria steht, heißt Mathurin Boltze. Er ist ein Zirkusartist, den wir im Theater in einer Adaption von Kaspar Hauser gesehen hatten. Während der gesamten Vorstellung tanzte er auf einem großen Trampolin. Seine Ähnlichkeit mit Bernard-Marie Koltès war so verblüffend. Der Film beginnt mit dieser Sequenz, ja, wie eine Performance. Ich mag Ihren Ausdruck sehr. Ein Zitat ein bisschen wie am Anfang von Nous disons révolution und Song for the Buried City. Carax war nie eine Referenz für uns. Wir kannten uns ein wenig aus der Zeit, als wir La nuit bengali in denselben Produktionsbüros vorbereiteten, in denen er Les Amants du Pont-Neuf vorbereitete. Elisabeth begann, Paria zu schreiben, ausgehend von ihrer Kindheit und den Begegnungen, die wir in einem Café in Paris hatten, wo sich Obdachlose und Philosophen trafen. Mit der Idee, einen Film zu drehen, der in der Nacht des 31. Dezember 1999 spielen sollte, zwischen dem Ende eines Jahrtausends und der Geburt eines anderen. Blaise, ein Überlebender des letzten Jahrtausends, findet während der Morgendämmerung des neuen Jahrtausends den Tod. Das hat nichts mit Les Amants du Pont Neuf zu tun. Umso mehr, als wir uns entschieden haben, mit einem kleinen Team in Mini-DV zu arbeiten, um die Menschen, die wir filmten, nicht mit drei Lastwagenladungen elektrischer Ausrüstung, einer 35-mm-Kamera, der Kinomaschinerie und teuer bezahlten Stars zu überfallen. Als Carax die Penner überleuchtete, die in Nanterre aus einem Sammelbus stiegen, sah ich den Schrecken in ihren Augen.
Ihre Filme sind auch technisch immer ein Ereignis. Konkret: Wie haben Sie die überwältigende Sambaszene in Bela Vista gedreht? Und auch die davor in einer Karaoke-Bar?
NK Die Szenen in der Karaoke-Bar und die in Bela Vista haben wir mit einer BlackMagic Pocketkamera gedreht, erste Generation. Sie kostete 1000 Euro. In Bela Vista hatte ich ein Voigtländer-Objektiv drauf, und ein kleines Angenieux 16 mm-Zoom aus den 70er Jahren. Und wie wir es bei allen Filmen machen, kommen wir später auf die Bilder zurück. Sie haben ihre eigene Zeitlichkeit.
Viel geschieht offensichtlich in der Postproduktion.
NK Wir schneiden mit FCP X, einer Software, die viele Cutter nicht mögen, die ich aber sehr inspirierend finde. Unser Schneideraum ist wie ein Maleratelier und ein kleines Amateurstudio für Musik. Wir arbeiten gleichzeitig am Schnitt, an der Farbe und am Ton. Mit sehr starken Parteinahmen schon zu Beginn des Schnitts. Wir haben viel Zeit damit verbracht, Texte aufzunehmen, Stimmen zu verzerren, nach Texturen und Überlagerungen zu suchen. Ich habe Elisabeths Text mit Fernando (im zweiten course in Nous disons) mindestens sechzig Mal aufgenommen. Sie schrieb ihn, während sie vor dem Mikrofon improvisierte. Dann hielt sie den Text auf Papier fest und begann erneut mit der Aufnahme, bis sie ihn abmischte. Den sehr erstaunlichen Klang des Samba nahm Elisabeth auf, während ich mit einer kleinen, schlecht eingestellten Zoom-Aufnahme filmte. Der Ton war so laut, dass er völlig übersteuert war. Und da sie nie mit Kopfhörern aufnimmt, haben wir das nicht bemerkt. Ich habe diesen Ton beim Schneiden wie ein Material bearbeitet. Der Mischer, mit dem wir seit zehn Jahren zusammenarbeiten, ist von dieser Art von Herausforderung sehr inspiriert. Das Ergebnis ist spannend. Bei den Farben habe ich Gelb und Orange bevorzugt, das sind die Farben eines der Orishas des Candomblé. Dieser Orisha heißt Carrefour, der Wächter der Wege. Eine Anspielung auf I Walked with a Zombie von Jacques Tourneur. Die tanzende Leopardenfrau ist die Ururenkelin der Voodoo-Tänzerin in Tourneurs Film. Die Arbeit mit Farbe ist für uns genauso wichtig wie die Arbeit mit Ton. Der Ton ist eine unsichtbare Farbe, die Farbe ist ein sichtbarer Ton. Es geht weniger um die Augen als um das Gehirn. Ich mag diesen Ausdruck von Gilles Deleuze sehr, der eine schöne Definition des Kinos ist: die Gehirn-Farbe.
Ich wurde ursprünglich wegen eines Spielfilms auf Sie aufmerksam. La question humaine. Diese Form des fiktionalen abendfüllenden, vielleicht auch nach Möglichkeit kommerziellen Films haben Sie hinter sich gelassen?
NK Die Filme reihen sich aneinander und verändern meine/unsere Arbeit. Nachdem ich sechs Spielfilme «innerhalb oder am Rande» des üblichen Finanzierungssystems des französischen Kinos gedreht hatte, verspürte ich das Bedürfnis, mich davon zu entfernen, weil das System mit den neuen Generationen von Geldgebern, die immer weniger an innovativem Kino interessiert sind, immer freiheitsfeindlicher wurde. La nuit bengali, den ich in Kalkutta gedreht habe, gefolgt von La nuit sacrée, der in Fez gedreht wurde, haben mich viel in einer Wirtschaft gelehrt, die es heute nicht mehr gibt. Mit Mitarbeitern wie dem Bühnenbildner Alexandre Trauner (Buñuel, Carné, Prévert, Wilder, Huston, Welles …) und dem Kameramann Emmanuel Machuel (Pialat, Bresson, de Oliveira …). Ich hatte bald das Gefühl, dass ich aufgrund der Schwerfälligkeit, die ich aus einer vergangenen Epoche übernommen hatte, alles durchgespielt hatte. Mit der Einführung neuer DV-Kameras und neuer Schnittprogramme erschien mir das sogenannte Spielfilmkino mit seinen großen Teams, dem 35-mm-Film, den Stars usw. endgültig vorbei zu sein. Ich drehte daraufhin vier Dokumentarfilme auf 16-mm und Digitalvideo, machte vier Theaterinszenierungen und begann einen neuen Zyklus von sogenannten Spielfilmen mit Elisabeth: Paria, La blessure, La question humaine und Low Life. Zwischen jedem Spielfilm machten wir eine ganze Reihe von selbstproduzierten DV-Filmen, um den kommenden Spielfilm vorzubereiten und mit ihm in Dialog zu treten. Wir nannten diese Dutzenden von Filmen Les Dialogues Clandestins (Die heimlichen Dialoge). Dank dieser Filme konnte ich Material kaufen und die Bilder selbst machen. Elisabeth und ich richteten vor zehn Jahren bei uns zu Hause in Fecamp einen Schneideraum ein, seitdem schneiden wir alle unsere Filme selbst. L’Héroïque Lande war ursprünglich einer unserer Dialogues Clandestins. Wie Saxifrages (Vier weiße Nächte), Mata Atlantica und Nous disons révolution. Ich glaube heute nicht mehr an Spielfilme, weil die Inszenierung zu teuer ist und der kommerzielle Kinosaal alles, was das Kino und die Kinobesucher erneuern könnte, endgültig getötet hat. Wenn der sogenannte Dokumentarfilm noch ein wenig den abgenutzten Formaten entkommt, dann dank der neuen Kameras, die den Filmemachern die Freiheit zurückgeben, die wir in den 2000er Jahren verloren haben, aber auch, weil er so viel billiger ist. Unsere Filmografie ist eine permanente Baustelle ohne Anfang und ohne Ende. Oder besser noch, ein Wald, der von all dem bewohnt wird, was das kommerzielle Kino verlassen hat.
Das Gespräch führte Bert Rebhandl
Bei dem französischen Label Shellac ist gerade eine Edition mit 8 DVDs erschienen: Le cinéma en commun mit den Hauptwerken von Nicolas Klotz und Elisabeth Perceval und zahlreichen Texten