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Soziale Modulationen Was Bulletin Board Systeme waren: Zu Kevin Driscolls The Modem World. A Prehistory of Social Media

Von Julia Gül Erdogan

 

Im November 2022 schien es, als würde Twitter zu einer digitalen Wüste werden, nachdem Elon Musk die Plattform nicht nur übernommen hatte, sondern begann, willkürlich Profile zu sperren. Insbesondere Journalist*innen, Aktivist*innen und Akademiker*innen sahen aus gutem Grund die Meinungsfreiheit auf Twitter in Gefahr. Die Übernahme der Plattform sorgte für einen Exodus zu Mastodon. Dieses Soziale Netzwerk ist vom Design und den möglichen Interaktionsformen her Twitter sehr ähnlich und den Nutzer:innen dadurch vertraut, was den Wechsel (oder die versuchsweise Doppelstrategie, beide Plattformen zu bespielen und die weiteren Entwicklungen abzuwarten) recht einfach machte. Aber nur dem äußeren Anschein nach ist Mastodon wie Twitter aufgebaut, denn einen entscheidenden Unterschied gibt es: Mastodon ist Teil des Fediverse – ein Kofferwort aus Federation und Universe – und damit ein dezentrales Netzwerk, dessen Server von Privatpersonen und Initiativen betrieben werden und dessen Quellcode offenliegt. Das Soziale Netzwerk Mastodon war zu diesem Zeitpunkt schon über sechs Jahre alt, zog aber eher keine breiten Massen an. Es wies zwar im ersten Quartal 2022 bereits über fünf Millionen Nutzer:innen auf, nachdem Elon Musk die Übernahme das erste Mal angekündigt und dann doch wieder abgesagt hatte. Aber mit der tatsächlichen Übernahme verdoppelte sich die Nutzer:innengemeinschaft bis Ende des Jahres beinahe. Die Anzahl der Server vervierfachte sich in diesem Zeitraum sogar.

Die Publikation von Kevin Driscolls Untersuchung einer alternativen und fast vergessenen Geschichte der Sozialen Medien im Mai 2022 fällt genau in diese Phase, auch wenn er diese Entwicklungen beim Schreiben natürlich nicht voraussehen konnte. Die Frage, der er nachgeht, warum und wen die Online-Welten vor der Entstehung des World Wide Web anzogen, ist seit einiger Zeit vielbehandeltes Thema in wissenschaftlichen Untersuchungen. Kevin Driscoll, ein ausgewiesener Experte der frühen digitalen Netzwerke, hat selbst zahlreich hierzu publiziert und mit seiner jüngsten Buchveröffentlichung die Geschichte nochmals verfeinert und ausdifferenziert. Denn die viele Untersuchungen zu den militärischen, wissenschaftlichen und auch ökonomischen Anwendungen des Internets (nicht zu verwechseln mit dem World Wide Web, wie es oft geschieht) können nicht erklären, warum gerade die Sozialen Medien so erfolgreiche und begehrte Anwendungen der Computertechnik geworden sind. Und darüber hinaus ist eine Geschichte des Internets, die ausschließlich auf das ARPANETund das WWW blickt, schlicht und ergreifend ungenügend beleuchtet.

In The Modem World hebt Driscoll hingegen die Bedeutung von Bulletin Board Systems (BBS) hervor, deren Geschichte Mitte der 1970er begann und bis in die 1990er Jahre reichte. Damit zeigt er, dass Soziale Medien viel älter sind als Myspace, Facebook oder Twitter, und dass die heute neuartig und gegenkulturell wirkenden dezentralen Netzwerke eigentlich eine Fortsetzung dieser über 40-jährigen Geschichte sind – oder zumindest ein back to the roots dieser grass-roots-Bewegung, die sich für freiere, sicherere und dezentrale Computernetze einsetzt. Wie etwa bei der Free- and Open-Source-Softwarebewegung, die als Reaktion auf die Kommerzialisierung von Programmcodes ins Leben gerufen wurde, aber sich eigentlich an einem Umgang mit Programmcodes rückorientierte, der Standard war, bevor die Industrie den Code unzugänglich machte. So kam auch die Kommerzialisierung der Sozialen Medien erst nach den Amateur:innen und Hobbyist:innen, die mit den BBSerste soziale, digitale Kommunikationswege aufbauten.

Driscolls Untersuchung ist nicht nur ein Gewinn für die Geschichts- und Medienwissenschaften, sondern auch für einen breiteren Leserkreis. Er schreibt teilweise szenisch und sehr anschaulich, was den Anliegen des Buchs gerecht wird, über eine soziale, partizipativere Form des Internets nachzudenken, das nicht Techgiganten oder Forschungseinrichtungen gehört. Die Leser:innen lernen die Akteure und ihre Leidenschaft, Begeisterung und den Pioniergeist der Modemwelten-Erschaffer:innen und Nutzer:innen kennen. Darüber hinaus bekommen die Leser:innen Einblicke, wie Technikpraktiken der Vor-Heimcomputer-Ära, nämlich allen voran die der Amateurfunker:innen, diese sozialen Netzwerke avant la lettre mitprägten. Und wie die Modemwelt wiederum unseren heutigen Umgang mit digitalen Netzen beeinflusst hat.

Ohne dass es über längere Strecken zu technisch wird, zeigt das Buch auch auf, wie die (teilweise rasanten) Entwicklungen im Bereich der Speicherkapazitäten und Übertragungsraten Einfluss auf die Computernetzwerke und ihre Nutzung nahmen. Und wie und warum diese Initiativen an ihre Grenzen stießen. Denn die Netzwerke der Hobbyisten waren und sind bis heute eine Nebentätigkeit, die viel Zeit und finanzielle Ressourcen schluckt. Und wenn die Systemoperatoren (Sysops) auch Admins sein müssen, dann können diese nicht alle Inhalte erfassen, je weiter das Netzwerk anwächst. Beleidigungen und Hass sind nämlich keine Neuheiten der kommerziellen Plattformen. Die Mailbox-Szene war nie ganz frei von der Diskriminierung marginalisierter Gruppen. Angriffe auf weibliche oder queere Nutzer:innen sowie auf People of Colour waren trotz der weitgehenden Anonymität, die Online-Kommunikation ihnen bot, keine Ausnahmen. Dafür waren diese Personengruppen im Vergleich Ausnahmen auf den Mailboxen, wie die BBSim deutschen Sprachraum genannt wurden. Sie mussten sich in diesen weitgehend von weißen Männern geschaffenen Strukturen Schutzräume aufbauen oder für die Gleichberechtigung kämpfen, waren dabei aber recht erfolgreich. Online- und Offline-Welt können sich eben nur gegenseitig befruchten, und so kann die Online-Welt nicht per se eine bessere sein, denn die Menschen, die sie mitaufbauen und nutzen, sind nun mal auch offline sozialisiert und ebenfalls von patriarchalen Strukturen mitgeprägt.

Die Sysops hatten als Initiatoren und Eigentümer der Mailboxen außerdem große Macht. Überwachten dabei aber auch die Anmeldungen, sodass Fake-Accounts kaum möglich waren. Sie war eben sozial enger geknüpft, diese frühe Form der Sozialen Medien.

Auch das beleuchtet Kevins Driscolls Buch. Es erzählt nicht per se die Geschichte eines besseren Internets, sondern liefert eine breitere Betrachtung dessen, wie sich Online-Kommunikation ausgestaltete, und zeigt, dass es eben kein Masternarrativ gibt. Damit regt The Modem World zum Nachdenken darüber an, wie das Internet und insbesondere die sogenannten Sozialen Medien derzeit funktionieren und aufgebaut sind, welche Macht Techkonzerne haben und wie wichtig und selbstverständlich die Online-Welten für uns geworden sind. Mit einem Blick in die Vergangenheit lenkt die Untersuchung den Blick darauf, über die sozialen Bedingungen und Konsequenzen unserer Techniknutzung nachzudenken – und fragt, was wir bereit sind ‹zu zahlen›: für Produzenten von Software oder Infrastruktur einerseits, die unsere Daten und unsere Privatsphäre schützen und keinen Profit schlagen aus dem Verkauf persönlicher Daten oder aus Klickzahlen. Oder eben andererseits durch die Preisgabe unserer Interessen und unseres Nutzer:innenverhaltens sowie die Lenkung dieses Verhaltens durch undurchsichtige Algorithmen und gezielte Manipulation beziehungsweise Bevorzugung bestimmter Inhalte, die wir nicht selbst gewählt haben.

Wie aber könnte eine andere Online-Welt aussehen? Wird eine Mischung aus «Federation» und «Universe», einen wirklichen Wandel bringen? Erst neulich hat Markus Beckedahl, Begründer von netzpolitik.org, in einem Beitrag für den NDRdarauf hingewiesen, dass Wechsel von den uns geläufigen Plattformen schwierig sind. Onlinesein und die Techniknutzung im Allgemeinen muss für die meisten Menschen nun mal vor allem simpel und mit wenig Aufwand verbunden sein.

Und entscheidend ist natürlich auch, welcher unserer sozialen Kontakte welche App oder Plattform nutzt. Dass Gruppen technikbegeisterter Jugendlicher in den 1970er und 1980er Jahren ihre Peer-Groups dazu animieren konnten, sich in den gleichen Mailboxen herumzutreiben, ist wenig überraschend. Und dass sich jetzt kritische Intellektuelle und (Technik)Aktivist:innen gleichermaßen dem dezentralen Mastodon zugewandt haben, nachdem das akademische Twitter in seinem Charakteristikum der freien Meinungsäußerung bedroht wurde – auch das ist wenig überraschend.

Doch bereits hier zeigt sich schon die Wirkmächtigkeit von Pfadabhängigkeiten in der Techniknutzung. Die Doppelnutzung von Mastodon und Twitter begleitet viele Accountbetreiber:innen und die Reaktionen und Followerzahlen sind trotz der Umzugswelle beim dezentralen Mastodon deutlich geringer. Die Reichweite, die alternative Medien bieten, kann im Vergleich doch noch nicht mithalten. In der Hochzeit der Mailboxen gab es für private Nutzer:innen schlichtweg keine Alternativen, Computer zur privaten Kommunikation zu nutzen. Es handelte sich nicht um ein alternatives Internet, sondern um ihr Internet. Wie würde also heute auch eine breitere Masse dazu bereit sein, sich kritischer mit dem Einfluss einzelner Unternehmen auf unsere Kommunikation und den öffentlichen Raum – und nichts anderes sind die Sozialen Medien, auch wenn sie heutzutage von Privatfirmen betrieben werden – auseinanderzusetzen?

Vielleicht, indem mehr Geschichten wie jene der Modem World erzählt werden und sich gegen die Narrative der großen Unternehmer und Erfinder – in diesem Fall bewusst nicht gegendert, da Frauen in diesen Masternarrativen immer noch weitgehend fehlen – stemmen. Denn die Geschichte kann uns vor allem eins zeigen: dass es auch anders hätte sein können und dass es keine geraden Linien von Entwicklungen gibt. «How Many Times Has the Internet Already Died?» – und wird es immer da sein? Dies diskutierte Kevin Driscoll mit dem Technikkritiker Paris Marx in einer Folge des Podcast Tech Won’t Save Us. Mehrere Online-Systeme sind nämlich längst verschwunden, etwa Minitel in Frankreich oder der Bildschirmtext in der Bundesrepublik. Dass auch das Plattform-Internet vorübergehen wird, ist nicht unwahrscheinlich. Nicht alleine technische Möglichkeiten und Big-Tech-Unternehmen können darüber entscheiden, wie es weitergehen wird. Das zeigt der Blick, den Kevin Driscoll in die Geschichte der Modemwelt wirft, nochmals eindrücklich: Soziale Netzwerke sind vor allem das Resultat sozialer Ausgestaltung.

 

Kevin Driscoll: The Modem World. A Prehistory of Social Media (Yale University Press 2022)