Auch das, was wir nicht sehen Notizen zum postkolonialen Kino
Eine arabisch-muslimische Stadt, erklärt Islamforscher und Urbanist Roberto Berardi, ist ein komplexes System von Kommunikationen. Infrastrukturen für Versorgung, Handel, Rechtsprechung, Religion oder Wissensvermittlung, Intimität und Reproduktion durchziehen die Medinas. Funktionale Räume sind jedoch als spezifische Orte nicht einfach zu erkennen. Kommunale Einrichtungen können temporäre sein, Übergangsräume oder virtuelle, die in die Stadtarchitektur gesetzt sind wie Intarsien «in which topological procedures replace the Euclidean geometry so dear to the West». Auch gibt es in der Medina keine Fassaden, die zentrale Gebäude oder Institutionen auszeichnen, wie westliche Besucher es erwarteten. Verwirrend ist auch, dass Inklusionen und Exklusionen variabel geregelt sind. Neben Souks und Durchgangsstraßen, die auch Fremde nutzen konnten und die nicht unbedingt durch besondere Breite markiert sind, gehört zur Stadt ein großes Gebiet abgetrennter Haushalte, harim, die wiederum durch ein dichtes Netz an Hinterhöfen und Gassen verbunden sind, deren Zugänge je nach Tages- oder Jahreszeit, nach Wochen- oder Feiertagen, nach familiären oder sozialen Verhältnissen der Solidarität, wie Berardi schreibt, oder aber des sozialen Konflikts offen oder geschlossen gehalten werden. Ein Fremder oder eine Reisende wäre von diesem Teil ausgeschlossen, wüsste nicht einmal, dass da etwas dem Blick entzogen ist. Vielleicht könnten sie, allerdings nur zu bestimmten Tageszeiten, hören, dass da mehr geschieht. Je nach Beziehung zu den Bewohner:innen können Fremde in Übergangsräume, fondouks zum Beispiel, eingeladen werden. Die räumliche Struktur der Stadt insgesamt aber ist nicht statisch abbildbar. «We are», schreibt Berardi in seinem Aufsatz The Spatial Organization of Tunis Medina and other Arab Muslim Cities in North Africa and the Near East, «in the presence of a fluid space, yet one which is penetrable only under certain conditions and in certain zones, through degrees or levels of access and vigilance; a negotiable space, yet one without architectural signs, apart from the minaret of the congregational mosque, visible only from the outside, from the hills or roads leading to the city». Diese fluide Form sozialen Wissens und sozialer Praktiken, die dem Blick verborgen bleiben mag, hat dazu geführt, dass für arabisch-muslimische Gesellschaften mangelnde Öffentlichkeit eingeklagt wurde. Das gilt für Reisende des 19. Jhs., Alexis Tocqueville zum Beispiel, der angesichts eines Besuchs in Algier aus der Architektur der Stadt, der öffentliche Plätze fehlten, alle Vorbehalte gegen den Orient überhaupt destillierte: «la polygamie, la séquestration des femmes, l’absence de toute vie politique, un gouvernement tyrannique et ombrageux». Und das gilt noch heute für irritierte Bemerkungen von Touristinnen, dass es in arabisch-muslimischen Städten keine öffentlichen Räume für Frauen gäbe – wobei das Kino, wenigstens dasjenige des 20. Jhs., eine temporäre Ausnahme gebildet haben mag. Aber, schreibt Berardi, «within the city everything is internalized; everything is known, though not offered to the gaze, for it is only from the inside that the city reveals itself in recognizable forms to the foreign eye. Yet even this ‹inside› is broken up and reassembled by temporary prohibitions and familiarity with them, in other words, by the practices and customs of urban social life». Dass die binäre Opposition von öffentlich und privat nicht ausreicht, um ein «vie politique» nicht-westlicher Städte und Gesellschaften zu begreifen, stand am Anfang der Überlegung, ob auch Filme aus nicht-westlichen Kontexten eine spezifische Wahrnehmungsweise für jene «presence of a fluid space» verlangen.
Drei Bilder eröffnen den Film The Last Shelter (F, ZA, Mali, 2021) von Ousmane Zoromé Samassékou: eine lange Einstellung in die Sonne, deren gleißendes Licht durch Wolkenschleier und auch technisch kaum gefiltert ist, dann eine Einstellung auf gelbliche Dünen einer endlosen Sandwüste und zuletzt das Bild eines knorrigen Baums im Sandsturm, in dessen Dornen sich ein zerrissenes Kleidungsstück verfangen hat und im Wind flattert. Zu hören sind Aufnahmen vom Wind in der Wüste, gemischt mit einem tiefem Rumpeln der Mikrofone und insistierend hohen Frequenzen. Mit diesem komponierten Memento mori der Migration, das Samassékou, Regisseur und Kameramann des Dokumentarfilms, an den Anfang stellt, löscht er, ließe sich sagen, Raumverhältnisse, entzieht Parameter der Orientierung, glättet kinematografisch den Raum, durch den die Reisen der jugendlichen Migrant:innen gehen, von denen sein Film handelt. Gegen diesen glatten Raum sind nicht nur eine Reihe von handschriftlich bezeichneten Gräbern gesetzt, sowie selbstgezeichnete Karten mit den linealgraden kolonialen Grenzziehungen zwischen Mali und Algerien, anhand derer sich die Migranten über die Gefahren ihrer Reisen verständigen. Auch die dichte Topologie des Maison du Migrant in Gao, das der Film als letzte Zuflucht beschreibt, hebt sich von den Wüstenbildern ab. Bereits die durchgehend grün gestrichenen Innenwände des Hauses, die praktischerweise auch als Hintergrund für eine Art fotografischen Dienst genutzt werden, unterscheiden die Funktionen des Hauses von seiner Umgebung: dazu gehört ein hofartiger Raum in der Mitte des Gebäudes, in dem sich ankommende Migrant:innen treffen, aufhalten, austauschen; solche, die von den Routen zurückkehren und solche, die sich auf den Weg machen wollen. Von diesem Hof zweigen weitere Räume ab, Küche, Sprechzimmer, Räume für medizinische Behandlung. Auf weiteren Stockwerken und Zwischengeschossen liegen Räume für Frauen, für Traumatisierte. Im Zuge der aufgenommenen Gespräche wird deutlich, wie die sorgfältige Unterteilung der Räume nach Geschlechtern, Alter, Zustand der Migrant:innen, die sorgfältige Aufnahme von Identitäten, um Angehörige zu erreichen, die medizinische Behandlung gerade nicht als strikte Unterteilung funktioniert, sondern als vorsichtige Verbindung und Vernetzung unterschiedlicher Geschichten, der Organisation von Übergängen, Auswegen, Zwischenlösungen, die in manchen Fällen permanente werden. Dieses Mäandern durch Möglichkeiten, die gefährliche Lösung der Migration zu vermeiden, steht der aus westlicher Perspektive perhorreszierten Vision wohlorganisierter Routen für entschlossene Massen entgegen. Auch wenn eine der Protagonistinnen des Films, Esther, schließlich entscheiden wird, sich auf den für Mädchen mörderischen Weg durch die Wüste zu machen, haben die Gespräche im Maison du Migrant andere, verschlungenere Wege und Erwägungen entwickelt, denen andere folgen. So ergreifend die Einzelschicksale im Film sein mögen, überraschender ist die Vernetzung von Wissen, die jene fluiden Strukturen des Hauses am Rande der Wüste bereitstellen.
Räume überhaupt als Kräfteverhältnisse zu begreifen und als resiliente Infrastrukturen kolonialer Verhältnisse zeichnet viele Filme aus, die, vorläufig, postkoloniales Kino heißen sollen. Mitunter verweisen deren Titel selbst darauf, dass sie ihre Konflikte an Organisationen von Räumen zur Disposition stellen: Atlantique (2019) von Mati Diop, Zinder (2021) von Aicha Macky oder Alice Diops Gerichtsdrama Saint Omer (2022) legen Dynamiken von Räumen, von Orten frei, in denen koloniale Verhältnisse institutionell, ökonomisch oder juridisch stabilisiert werden. Hingegen wären Samira Makhmalbafs At Five in the Afternoon (2003), Jessica Beshirs FAYA DAYI (2021) oder Anisia Uzeymans und Saul Williams’ Neptune Frost (2021) Studien räumlicher Transformation, deren Dramaturgien zum Teil erst im Nachhinein wissen lassen, wo normalerweise eine Grenze gewesen wäre, eine Exklusion gegriffen hätte, oder anders, wie sehr das Gefühl für Raum und Grenzen ein normatives ist, dessen Überschreitungen schnell zum Künstlerischen, Magischen deklariert werden müssen, das im Gegensatz zu einer «mit den Augen des Westens» stabilen Wirklichkeit steht, wie wir sie immer und überall wiedererkennen.
Zum Beispiel in Afghanistan. Tänzerisch, wollte man gleich sagen, bewegt sich die Protagonistin von Makhmalbafs Film durch verschiedene Räume und Ruinen Kabuls, durch Hinter- und Schulhöfe, Gassen, Wüsten, Paläste, vorbei an Bussen und Flugzeugwracks, überschreitet religiöse und soziale Grenzen, vom Wunsch geleitet, Präsidentin zu werden, wie die Mitschülerinnen Ingenieurinnen und Ärztinnen werden wollen, und eben nicht, wie man aus dem Westen wohl hoffte, Poetinnen. Dennoch entsteht auch Makhmalbafs Figur aus Dynamiken und Logiken von Räumen, das zeigt sich an der Art der Blicke, die ihr folgen und sie verfolgen, wenn sie Strassen-, Stadt- und Ruinenräume durchquert, es zeigt sich, praktischer, daran, wie sie die Schuhe wechselt, um sich in unterschiedlichen Räumen bewegen zu können, und sich dadurch auch ihre Haltung modifiziert: Im Palast macht man mit Präsidentinnenpumps eine gute Figur, in der Wüste nicht.
Sehr viel feiner ist das Geflecht von Räumen und Figuren im afrofuturistischen Neptune Frost konstruiert. Trans- und Spiegelfiguren ertasten in diesem Film sehr langsam die vielen Grenzen, geografische, kulturelle, sexuelle, virtuelle, die sie dann, getragen von Trommelrhythmen oder elektronischen Geräten, von Träumen, Schiffen oder Mopeds, plötzlich bereits überschritten haben werden. Auch diese Übergänge sind nicht einfach fantastische, sondern filmisch realisierte Verbindung der Realitäten von, zum Beispiel, Coltan-Minen und virtuellen Welten. Diese Verbindung selbst ist es, durch die der Film in die Leute gestreamt wird, in die Figuren, in die Schauspieler:innen in Ruanda, wo Uzeyman und Williams den Film drehten, in die Zuschauer:innen am Netz, vor den LED’s, mit ihren Smartphones, in denen das Coltan steckt, das die Minenarbeiter im Film ausgraben. Differenzen werden nicht kassiert, sondern wuchernd ausdifferenziert, rückgekoppelt, umverteilt. Reale und virtuelle Welten sind ununterscheidbar. Da ist das Kino jetzt.
Um die Raumstrukturen dieser Filme zu begreifen, ist weder die Differenz von Afro- und Futurismus noch die von Fiktion und Realität besonders hilfreich. Auch unter der Signatur des Heterotopischen, das, nach Foucault, als Friedhof, Club Mediterranée, Bordell oder Schiff, zuletzt immer den Gelüsten der Aus- und Freibeuterei verpflichtet bleibt, sind diese Filme nicht besonders gut aufgehoben. Andererseits ist schon die Vereinheitlichung dieser Filme unter dem Begriff des Postkolonialen riskant. Atlantique, Zinder, Saint Omer oder Jessica Beshirs Meditation über Khat-Ökonomien in Äthiopien, Faya Dayi (2021), sind von Regisseurinnen gemacht, die in europäischen Kontexten, in der Film- und Dokumentarfilmgeschichte zuhause sind, die Genres und Topoi mit Leichtigkeit zitieren, variieren, ironisieren, die digitalisierte Postproduktion zur Konstruktion virtueller Welten als gegenwärtig wirksamster Form der Realität oder der Überwältigung durch Realitäten einsetzen. Ihre Filme wurden von europäischen Fernsehanstalten koproduziert, auf einschlägigen europäischen und amerikanischen Festivals ausgezeichnet und sind sicher nicht als exotische zu bezeichnen.
Mati Diops Atlantique beispielsweise zitiert bereits in den ersten Szenen ihres Films, wenn die Liebenden auf der Straße eines Vororts von Dakar von einem durchfahrenden Güterzug getrennt und ihre Blicke zugleich durch einen Flickereffekt der passierenden Wagen und durch Schuss und Gegenschuss umso stärker verbunden werden, die Eingangsszene von Jean Rouchs Les Maitres Fous (1955). Dessen grausame Reflexion der Gewalt europäischer Zivilisation, «unserer», und wie sie sich der Körper afrikanischer Wanderarbeiter in den 1950er Jahren der neuen afrikanischen Metropole Accras bemächtigt, nimmt Diop auf. Die Einstellung am Anfang von Rouchs Film gilt selbst als Zitat einer Anekdote medialer Überwältigung, der Einfahrt des Zuges nach La Ciotat, wie die Lumières sie filmten. Dennoch unterscheidet sich die Szene bei Mati Diop fundamental von der Rouchs: Deutlich sind die Stimmen der Protagonisten über dem Geräusch des Zuges zu vernehmen, den Zuschauenden ist die Verzweiflung des jungen Mannes, dem auf der Baustelle das Gehalt verweigert wurde, bekannt, seine Ambivalenz, der Freundin mittellos zu begegnen, und seine Unentschiedenheit, den Vorschlag der Freunde anzunehmen, den Senegal endlich zu verlassen, ein Boot zu besteigen. Doch die affektive Wirklichkeit der Szene ist nicht nur von filmischen und filmhistorischen Referenzen, sondern ebenso von urbanen, architektonischen, infrastrukturellen Kräften und Dynamiken getragen, die alle Begegnungen strukturieren. Es käme drauf an, das richtig zu beschreiben.
Am deutlichsten wird die fluide Verschränkung von Räumen und Körpern in Atlantique, wenn die auf der Migration havarierten und in den Wellen des Atlantiks ertrunkenen jungen Männer in den Körpern ihrer Freundinnen zurückkehren, um am Bauunternehmer Rache zu nehmen und ihre verlorenen Liebesgeschichten zu beschwören. Auf der einen Seite ist das Diops Variation des Zombiegenres, das ja selbst Stereotype des haitianischen Voudous und damit die Migration afrikanischer Götter überdreht. Auf der anderen Seite dokumentiert Diop, die den Film nach einer persönlichen Erfahrung gedreht hat, Wirklichkeiten von Gesellschaften, die von der Wanderarbeit leben, in denen Frauen zeitweise oder permanent männliche Funktionen übernehmen und deren Macht und Stärke inkorporieren. Diese Form der Trance erinnert daran, dass, wie Oyérónké Oyêwùmí es für die Yorùbá und Nigeria beschrieben hat, in vorkolonialen afrikanischen Gesellschaften Männer und Frauen über vielfache Identitäten verfügten, deren Grundlage eben nicht Anatomie war, sondern Seniorität: «Die Erschaffung der ‹Frauen› als Kategorie war eine der allerersten Errungenschaften des Kolonialstaates». (Kolonialisierte Körper und Köpfe. Gender und Kolonialismus) Gleichzeitig wird ein weiblich kodiertes urbanes Netzwerk gegen die Repräsentationsarchitektur entfaltet, wenn sich der Film zusammen mit seinen Protagonistinnen durch die Hinterhöfe und winzigen Wohnungen Dakars bewegt, in denen die Mädchen mit Schwestern, Müttern, Großmüttern wohnen. Sie benutzen Türen für offizielle Begegnungen, Fenster für heimliche Formen von Besuchen, Kommunikationen, Fluchten. Geduldig verweilt die Kamera auf den Betten der von Trancen Erfassten und geht erst dann mit ihnen auf die großen Avenuen Dakars und in die hellerleuchteten Apartments der Reichen, wenn die Besessenheit sie wirklich ergreift. Auch hier ein Wink an Jean Rouch: Die Raum- und Medientechniken der Europäer sind die wirklichen Trancetechniken.
Räume in den genannten Filmen sind unter Oppositionen von privat und öffentlich, legal und illegal, dokumentarisch und fiktional, männlich oder weiblich nicht zu erfassen. Die Wirklichkeiten sind von kolonialen Kulturtechniken genauso wie von den Widerständen dagegen – und dass es um wirkliche Widerstände geht, zeigen nicht zuletzt die winzigen Piercings der Leute von Neptune Frost – getragen und schichten sich im Virtuellen. Die spezifischen Ästhetiken dieser Filme zeigen, dass Grenzregime sogar die Körper der Leute selbst durchqueren, wie Ayalet Shachar erläutert. Aber sie zeigen ebenso, dass sich diese Körper, so rabiat die Nekropolitik der Migration auch gegenwärtig bleibt, in den Netzen und Filtern postkolonialer Raumordnungen und Körperarchive nicht mehr verfangen. Zugleich gibt es kein «wir» in diesen Filmen, auch keines «der Frauen», wie es noch Sue Thornham ihrer Studie Spaces of Women’s Cinema zugrunde legt. Es sind hier vielmehr Erfahrungen im Spiel, die nicht von allen geteilt werden. Raumstrategien in Filmen von Regisseurinnen, wenn sie postkoloniale Räume durchqueren und reorganisieren, vereinheitlichen Erfahrung nicht, sie verteilen Positionierungen um.
Eine Trance, die sich gleichermaßen avancierten filmischen Formen und den narkotisierten Zuständen seiner Protagonist:innen verdankt, erzeugt Jessica Beshirs Dokumentarfilm Faya Dayi über Teufelskreise des Khat-Anbaus, der in vielen Gebieten Äthiopiens die Kaffeeproduktion ersetzt und als neue Monokultur neue Formen der Monopolisierung, der Illegalisierung von Arbeit und neue Formen der Ausbeutung und Migration in Gang gesetzt hat. Der Teufelskreis von Arbeit und Drogenrausch überträgt sich auf die Kamera selbst. Beshirs Kamera scheint sich in jeder Einstellung gegen Zeit- und vor allem gegen Raumregime zu stemmen. Die – bis auf zwei Farbeinstellungen – stark viragierten Schwarz-Weiß-Aufnahmen bleiben in langen Einstellungen immer wieder in ungewöhnlichen Kadragen hängen, fasziniert von Details, auch im Akustischen, von Geräuschen raschelnder Blätter, dem Klickern von Gebetsketten. Beshirs Montage ist metonymisch: Bilder von Rauch, Nebel, Dampf, Schleiern und Gardinen werden mit Bewegungsunschärfen oder Schattenbildern montiert. Im Akustischen reiht Beshir Gesang, Rufe, Gebete, rhythmische Erzählungen und das langsame Khat-Geschwatz sowie Traumprotokolle zu Montagefolgen, die nie synchron zu den Bildern geschnitten sind. Sehr langsame Schwenks und Travelings desorganisieren die Realitätsgrade der Räume so, dass das Mediale sowohl des Films als auch der Droge zum Gegenstand wird. In Bildern aus einer Kinoruine sind am Ende Traum-, Drogen- und Filmvisionen, Raumerfahrung und Traumerfahrung kurzgeschlossen. Der Film selbst endet nachts auf einer Strasse, auf der die Kinder versuchen, mit den gleichen Lastwagen den nörgelnden drogenabhängigen Alten des Dorfes zu entkommen, in denen das Khat abtransportiert wird.
Konkreter in seinen dokumentarischen Formen und zugleich irrer und surrealer ist Aisha Mackys Film Zinder, der mit seinen Protagonist:innen durch die unübersichtlichen Gassen und Gegenden des einst für Leprakranke gebauten Viertels Kara Kara der Stadt Zinder in Niger zieht und dabei Geschichten unsäglicher Gewalt und dann wieder großer Fürsorge in der Armut sammelt, Interviews in Zimmern, Geschäften, Frisörsalons, Hinterhöfen, in Rikschataxis oder Kraftmeierstudios unter freiem Himmel führt, bei Tag und bei Nacht. Darunter geben im Gegenlicht ihres Zigarettenrauchs Frauen Auskunft, die sich als «freie» bezeichnen, weil die aus allen islamisch kodierten Räumen herausfallen, die ihr eigenes Geld verdienen, auf der Straße, illegal, vielleicht als Sexarbeiterinnen, vielleicht aber auch nicht. Auch Macky verfolgt ihre Protagonistinnen in Grenzgebiete, moralische, politische, legale. Zuletzt sind es die des Benzinschmuggels. Die starke Organisatorin der Schmuggelei bezeichnet sich selbst als hermaphroditisch, eine Zuordnung, die gar nichts klärt, sondern neue Fragen von Zugang zu Räumen und Positionen als Fragen von Handlungsmacht, Verantwortung und Versorgung immer weiter ausdifferenziert. Zinder erweist sich als überraschende, mikropolitisch präzise und sehr feinmaschige Studie einer Stadt in Niger als vielfach kolonisierte Gesellschaft. Umso erstaunlicher die banale Eröffnungsszene einer aufsteigenden Drohnenaufnahme, der Versuch eines Überblicks, der eher als Signatur einer bekannten Fernsehanstalt erscheint, die diesen verstörenden Film verdienstvoll koproduziert hat, aber vor die ganze Unordnung, die er aufwirft, eine ordnende Einstellung setzt. Postkoloniale Redaktionen verstellen den Blick.
In seinem Buch Colonising Egypt (1991), einer wegweisenden Studie zur Macht und Ohnmacht des Kolonisierens, berichtet Timothy Mitchell, wie dieselben jungen Männer, die im 19. Jh. in Paris und London fleißig am Orientalisieren mitgearbeitet hatten, die Bild- und Fotobände zu den Städten Nordafrikas und des mittleren Ostens zusammengestellt, Romane und Reiseberichte verfasst, Szenarien und Partituren für orientalisierende Opern geschrieben, Panoramen gemalt oder 1889 an der Weltausstellung in Paris mitgearbeitet hatten, auf der Suche nach dem Original ihrer Visualisierungen, Narrativisierungen, Sonifizierungen in die Städte der Levante reisten, aber dort nichts von ihren schönen Vorstellungen erkennen oder genauer: wiedererkennen konnten. Gustave Flaubert, Gérard de Nerval, Théophile Gautier, oder Herman Melville, David Roberts und Edward Lane hatten – und nicht einmal das merkten sie auf ihren Reisen – weniger an einem Orient als an der Zurichtung der eigenen Wahrnehmung gebastelt. Daher blieb ihnen verborgen, was sich in Tunis, Algier, Kairo, Damaskus oder Aleppo vor ihren Augen abspielte. Um überhaupt zu sehen, mussten sie diese Augen zuerst auf einen Aussichtspunkt, in eine gute Sichtachse manövrieren, seien es Hügel, Telegraphenmasten, Pyramiden oder gleich, wie Jeremy Bentham, auf «ein Ding, das sie Minarett nennen», eine Besteigung, die ihm Ärger einhandeln sollte. Erst von solchen Stand- und Blickpunkten her konnten die Reisenden einen Plan in den Städten, im Leben, in der Politik der Leute der Levante erkennen, einen Plan, den es in diesen Städten zwar noch nicht gab, den aber Leute wie Bentham und sein Biograf John Bowring, Eisenbahn-Unternehmer und Berater des osmanischen Gouverneurs Mehmed Ali Pascha in Kairo, versprachen, im Sinne des Panoptismus zur effektiven Ausbeutung der Länder als koloniale Universalmaschine zu installieren. Um die vielfältigen nomadischen, bäuerischen, urbanen und Handels-Kulturen der Gegend in eine gigantische monokulturelle Baumwollproduktion zu transformieren, die Unübersichtlichkeit Ägyptens, seiner Souks und Harems in eine funktionierende Kolonie, schrieb Bentham an Ali Pascha: «it remains to determine the plan».
Es ist dieser epistemo-koloniale Plan, der mich an die eigene Planung erinnert, wenn es darum geht, Filme zu sehen, «zu sichten», zu beschreiben, die von etwas handeln, das unbekannt und fremd sein könnte. «We need to understand how the West has come to live as though the world were divided into two» schreibt Mitchell: In Repräsentation und Realität, eine doppelte Struktur, mit der auch Filmanalyse nicht weiterkommt. Aber wohin schauen, damit wir sehen, was den Augen konstitutiv entzogen ist?
Was Mati Diops Film Atlantique zuerst verweigert, ist die Position des Zuschauens als Vor-Stellen, als, eben, Repräsentation. Die Unterscheidung zwischen einem echten Dakar und einer filmischen Fiktion ist nicht zu machen. Dakar ist die Erfahrung der verwinkelten Häuser und Höfe, die Erfahrung der Mädchen und Frauen, sich elegant durch seine Gassen zu bewegen, aber auch die, dass es da keine Zukunft gibt. Dakar ist die Erfahrung der Bauarbeiter und die Wunschökonomie einer Megacity, die Baustelle des siebentorigen Theben zugleich. Der Atlantik ist Reichtum und Schönheit des Senegal, dessen Weltgewandtheit, und zugleich ein Grab seiner Leute, im Sklavenhandel und jetzt, in der Migration seiner Jugend. Was sehen wir, wenn wir die Wellen des Atlantiks sehen? Der Wunsch nach stilistischer Trennung von Realismus einerseits und surrealer Dystopie andererseits bleibt unterkomplexes Refugium jener Metaphysik der Moderne, die, nach Mitchells Diagnose, den Konnex von Investition und Gewalt, Extraktion und Genozid Tag für Tag mühelos ausblenden kann.
Die allererste Einstellung des Films von Mati Diops Altlantique integriert eine Variation aller Visionen afrikanischer Megacities: ein riesiges weißes Ding, eine aufgeblasene Schlierenstruktur von einem Gebäude, phallisch und non-deskript, das eine gewisse Affinität zum Burj al Arab in Dubai aufweist, aber im Laufe des Films auch die Ähnlichkeit mit Entwürfen Schweizer Repräsentationsarchitektur nicht los werden wird. Das weiße Hochhausding schiebt sich in die Einstellungen windiger Baustellen, auf denen die Jugendlichen arbeiten, von deren Ende und Wiederkehr Diop erzählt. Die Schichtungen filmischer Realitäten, nicht nur des Realismus’, bleiben neo-, sur-, super- und hyperrealistisch verdichtet. Kamerafrau Claire Mathon verstärkt das, wenn sie zwischen Nahaufnahmen und Totalen, jenen insistierenden des großen atlantischen Ozeans zum Beispiel, den sie mit Teleobjektiv und Handkamera aufnimmt, wechselt, und wenn Dakar, dessen Strände, Straßen, Baustellen durch einen ständigen Schleier oder vielleicht Sandsturm hindurch aufgenommen sind, als wären die Leute eigentlich nicht wirklich «da». Als könnten wir nicht wirklich sehen. Es ist dieser Turm, der nicht nur als postkoloniale Kapitalisierung das Leben der Leute, die nicht anders als bei multinationalen Konzernen Arbeit finden – aber keine angemessene Bezahlung – bedroht. Er steht auch da als Zerstörung jener vielfach vernetzten Räume, jener «presence of a fluid space» die, wie Berardi schreibt, minutiös geregelt und geschützt ist, «nur unter bestimmten Bedingungen und in bestimmten Zonen, durch Grade, Stufen oder Ebenen von Zugang oder aber Wachsamkeit oder Aufmerksamkeit einen Zutritt erlaubt». Das weiße Ding steht da und droht mit ökonomischer, moralischer, optischer supremacy, Übermacht. An dieser Stelle wäre es vielleicht hilfreich, einen Blick in die Diplomarbeit jenes Studenten der Stadtplanung zu werfen, der die zerstörerische Rolle der Hochhausarchitektur in Aleppo auf die Räume der Frauen und Kinder untersucht hat, deren Bewegungsfreiheit, so die Diagnose der Arbeit, sich auf den Dächern und über den Dächern der Stadt abspielte. Die Arbeit kann man aber nicht lesen, weil sie den Augen der Öffentlichkeit entzogen wurde. Der Autor heißt Mohammad Atta.
Ich danke Bernd Schoch und Don Edkins für Hinweise auf Filme und für alle Gespräche. Und ich danke den Studierenden des Seminars Que[e]re Filme im Frühjahrssemester 2023 für Interventionen, Ideen und Kritik