7. bis 9. Mai 2010 Windows of Opportunity
Die deutsche Bundeskanzlerin hält sich in der Regel mit starken Worten zurück. Am Wochenende vom 7. zum 9. Mai aber griff sie zu einer dramatischen Formulierung, als es darum ging, einen «Rettungsschirm» für die europäische Gemeinschaftswährung aufzuspannen. «Wir müssen eine systemische Antwort (auf die Krise des Euro) finden», so zitiert sie der Spiegel, und dann der Appell: «Wir haben nur einen Schuss.» Angela Merkel ist Politikerin genug, dass ihr bewusst sein musste, dass sie in diesem Moment auch eine dramaturgische Aussage traf. Das politische Handeln verengte sich an diesem Freitagabend auf eine eindeutige Perspektive. Bis zum Montagmorgen, bis zur Eröffnung der internationalen Finanzmärkte zuerst in Sidney, zwei Stunden später dann in Tokio, mussten die europäischen Regierungschefs eine überzeugende Strategie gefunden haben, um die Käufer und Verkäufer von Staatsanleihen und der damit zusammenhängenden Finanzprodukte aus aller Welt zu beruhigen.
Die Politik stand vor einem «Fenster der Gelegenheit», das mit dem abendlichen Glockenschlag an der Börse in New York begann und mit dem Wochenbeginn endete – beinahe so, als wäre dann auch das Mandat der Politik zu Ende, und der Kampf aller Investoren gegen alle anderen Investoren wäre dann wieder nackte Realität. Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren sind wir Zeugen eines Vorgangs geworden, den wir eigentlich nur aus Filmen zu kennen glaubten, in denen das Regierungshandeln durch außergewöhnliche Herausforderungen unter den Druck einer Deadline gerät. Nun aber ging es darum, die «Kernschmelze» des Finanzsystems zu verhindern – so war das schon 2008, als die Hypo Real Estate in einer durch Telefonschaltungen quer über die Republik erweiterten Nachtsitzung «gerettet» werden musste, und so war das nun auch wieder im Mai dieses Jahres im Justus-Lipsius-Gebäude in Brüssel, wo die Politiker mit dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank zusammensaßen. Die Fernsehbilder, die uns von diesen bevorzugt nachts kulminierenden Verhandlungen erreichen, sind immer die gleichen: Rangezoomte Politiker-Silhouetten in hell erleuchteten Büroräumen, anonymisiert hinter dicken Fensterscheiben.
Selbst «24», die Serie, die politisches Handeln durch umfassende terroristische Bedrohungen unter besonders extremen Zeitdruck brachte, war noch auf individuelle Motivationen für den Problemdruck angewiesen: Irgendjemand musste den Nuklearsprengsatz aktivieren oder das Virus in Umlauf bringen, dem die Exekutive dann hinterjagen konnte («Where’s the bomb?»). In Brüssel aber brachte Angela Merkel mit ihrer Formulierung zum Ausdruck, dass Problem und Lösung sich nicht mehr komplementär zueinander verhalten, sondern schief (die Bombe ist das System, der «Schuss» ist eine Bürgschaft). Eindeutig war nur der Faktor Zeit: Bis Montag früh musste das Signal kommuniziert sein, dass sich die europäischen Wirtschaftsmächte stark genug fühlten, ihre offenen Flanken zu schützen. Prozedural gibt es an diesem Wochenende Szenen, die sich – folgen wir der Kolportage-Ästhetik des Spiegel – wie Drehbuchauszüge lesen: «Dresden 16 Uhr: Innenminister Thomas de Maizière ist auf einem Waldspaziergang, als ihm einer seiner Personenschützer das Handy mit einem Anruf der Kanzlerin weiterreicht: Schäuble sei ins Krankenhaus eingeliefert worden, sie bitte ihn, die Verhandlungen zu übernehmen. Während de Maizière nach Hause eilt, verlegt die Flugbereitschaft eine ihrer Maschinen nach Dresden. Um 18:15 Uhr ist der Innenminister in der Luft nach Brüssel.»
Was auf dem Spiel steht, sind aber – wie schon in «24» – Fragen der Souveränität, praktische wie prinzipielle. Praktisch geht es darum, wer für wen spricht (de Maizière für Schäuble für Merkel für Deutschland) und wer welche Entscheidung trifft (die EZB setzt sich über den Vertrag von Maastricht hinweg und macht damit europäische Verfassungspolitik). Prinzipiell geht es darum, ob und wie sich die Politik gegen das «Spiel der Spekulanten» (Der Spiegel) zu behaupten vermag, das am Montagmorgen wieder beginnt. Dass die Politik insbesondere seit den 90er Jahren auch an normalen Wochentagen offen stehende «Fenster der Gelegenheit» ungenutzt ließ, um dieses Kapital-Spiel mit politischen Regeln zu versehen, dass sie also den Systemzwang, dem sie sich jetzt gegenübersieht, systematisch mithergestellt hat, ist die Kehrseite der Medaille: Die Deregulierung der Finanzmärkte beschert der Politik Deadline-Regeln, die sie nicht mehr einholen kann, ohne den Systemwechsel zu wagen, der alle Regeln aufheben würde.
Die 56 Stunden von Brüssel lesen sich in der Rekonstruktion wie ein Thriller, mit Drängern und Bremsern, Twists und toter Zeit, mit Parallelmontage, Plot Points und Last Minute Rescue. Dass etwas nicht stimmt, wenn Politik nur noch als Thriller erzählt werden kann, ist auch an «24» abzulesen – einer Serie, die in ultrabeschleunigten Plot-Point-Ketten oft über die Inkonsistenzen der eigenen Dramaturgie hinwegtäuschen konnte, deren Spannungskurven und Cliffhanger man genoss, obwohl man wusste, dass die Rhetorik ständig ablaufender Fristen ein (von Staffel zu Staffel schaler werdender) Erzähltrick ist, der einem gelassenen (retrospektiven) Blick nicht stand halten würde und irgendwann in ideologische Geschwindigkeitsbehauptungen umschlägt. War der Terror in «24» nicht immer auch hausgemacht? Im Thriller geht es jedenfalls um das Gesetz des Handelns, und darum ging es auch in Brüssel: Wer hat am Montag das Heft in der Hand? Ein Schuss ins Dunkel wird diese Frage nur vorübergehend klären.