Von rechts nach links und wieder zurück
Im Oktober wollte ich mir endlich Ellis Island ansehen. Die Schlange an der Fähre war so lang, dass wir drei Stunden warten hätten müssen. Also setzten wir nach Staten Island über. Wir gingen ein wenig spazieren, sahen hinüber auf Manhattan (der Dunst, die Stelle, wo die Türme gestanden hatten), lasen die Namen auf dem Monument für die Toten des 11. September (ein Feuerwehrmann, ein Feuerwehrmann, schau mal, eine Frau in deinem Alter), wir sahen den Möwen nach und hörten dem Rasensprinklerzischen im Baseballstadion zu (glaubst du, schaffen es die Yankees heute?), es war alles, wie es sein sollte, an einem Tag, der nichts anderes tat, als schön zu vergehen. Ich könnte sofort hierher ziehen, sagte ich, ja, lass uns, sagte sie, ich könnte Apple Pie mit den Frauen backen. So geht meine Erinnerung an Staten Island.
Wenn wir tatsächlich auf Staten Island leben würden, sähe ich mir ständig Auftritte des PS 22 Chorus an, des Schülerchors der Primary School 22, den ein gewisser Gregg Breinberg leitet, ein freundlicher Lehrer mit Pferdeschwanz und einer der Menschen, die ich beneide, um ihr Sosein, die Art, wie sie sind. Das Repertoire: Lieder von Lady Gaga, Beyonce, Phoenix, immer wieder Tori Amos, weil Gregg Breinberg ein Tori Amos-Fanboy ist. Es gibt ein Weblog, auf dem Breinberg berichtet, was den Kids und ihm widerfährt, und einen eigenen Youtube-Kanal, auf dem man die Proben und Auftritte des PS 22 Chorus verfolgen kann. Die Videos haben Amateurqualität. Eine manchmal recht wackelige Kamera schwenkt von links nach rechts und wieder zurück, eine menschenfreundliche Kamera, der es nur darum zu tun ist, dass die Kinder alle zu sehen sind, keines soll übersehen werden, Vollständigkeit ist wichtiger als Drama (meine seltsame Gerührtheit immer bei den Filmen, die möglichst alles drauf haben wollen statt zur Sache zu kommen). Gregg Breinberg sagt, dass es gleich losgeht, ein paar Aufwärmakkorde auf seinem Klavier oder seiner Gitarre, dann singen die Kinder los, und bei fast jedem Lied dauert es nicht länger als zehn, fünfzehn Sekunden, bis mir Tränen in die Augen schießen. Das hat nichts mit mir zu tun, in einem Interview mit dem Guardian hat auch der Sänger von Phoenix erzählt, wie sie alle Tränen in den Augen hatten, als sie das Video mit der «Lisztomania»-Version des PS 22 Chorus sahen, und der Gitarrist Christian Mazzalai meinte, das «würde sogar einem SS-Offizier Tränen in die Augen treiben», wahrscheinlich stimmt das nicht, aber die Tendenz stimmt, keine Panzerung bewahrt einen davor, bei diesen Schulkindern aus Staten Island jedes Mal einzuknicken, obwohl sie nie etwas anderes tun, als in der Musikhalle ihrer Schule unruhig auf ihren Stühlen zu sitzen und die Lieder zu singen, die ihnen Gregg Breinberg vorgeschlagen hat (und manchmal sie ihm, «Eye of the Tiger» zum Beispiel, Breinberg ging auf den Vorschlag nur ein, weil er dachte, es könnte dem Selbstbewusstsein des Jungen zuträglich sein, und dann: eine Wahnsinnsperformance …), mehr ist das nicht, ein paar Dutzend hibbelige Kinder, die sich zweimal in der Woche zu Chorproben treffen, jedes Schuljahr scheiden ein paar aus und kommen ein paar andere dazu, er besteht nicht darauf, dass sie alle musikalisch sind, sagt Breinberg, manche Kids will er im Chor haben, weil er ahnt, dass es ihnen gut täte, dabei zu sein, weil er ahnt, dass der Chor ihnen helfen könnte gegen ihre Schüchternheit, gegen ihre Traurigkeit, gegen ihre Ernsthaftigkeit. Es sind ja ganz normale Kinder, die da singen, öffentliche Schule, drei Viertel der Schüler an der PS 22 kommen aus so armen Familien, dass sie Anspruch auf ein kostenloses Mittagessen haben, für viele ist Englisch nicht die Muttersprache, so ungefähr ist die Ausgangssituation dieses Chors, man kann sich das alles gut vorstellen, es ist die ganz normale Ausgangssituation ganz normaler Schulkinder in einem ganz normalen westlichen Land. Nicht gut vorstellen kann man sich: Wie diese Kids singen. Wie dieser Lehrer ist. Wie dieser Chor ist. Wie diese Kinder, dieser Lehrer, dieser Chor geblieben sind, obwohl sie alle mittlerweile durch Youtube berühmt geworden sind (17 Millionen Internet-Hits, Auftritte in Fernsehshows und so weiter). Wie sie ihr Ding immer noch durchziehen, eine Kamera, die von rechts nach links und wieder zurück schwenkt und darauf achtet, dass niemand übersehen wird, niemand verloren geht. So müsste das immer sein.