König Oprheus Kaja Silverman sucht in Arbeiten von Terrence Malick, James Coleman und Gerhard Richter nach Blicken der Anerkennung: Flesh of My Flesh
Noch einmal: Erst kurz sind der Sänger Orpheus und die Nymphe Eurydike verehelicht, da stirbt Eurydike an einem Schlangenbiss. Orpheus gelingt es, mit seinem Gesang und Leierspiel Persephone, die Göttin der Unterwelt, dazu zu bewegen, Eurydike freizugeben. Die Bedingung für diese Freigabe ist, dass sich Orpheus auf dem Weg aus dem Hades heraus nicht nach Eurydike, die ihm folgt, umdrehen darf. Er tut das bekanntlich doch, Eurydike verschwindet mit dem Blick, der sie trifft, unwiederbringlich und Orpheus verbringt den Rest seines Lebens in völliger Abgeschiedenheit. Von jeglicher menschlicher Gesellschaft, besonders der von Frauen, zurückgezogen gibt er sich in abgelegenen Bergwäldern allein seinem sagenhaften Leierspiel hin, bis seine Frauenverachtung einige Mänaden derart aufbringt, dass sie ihn töten und in Stücke reißen. Seinerseits im Hades angekommen, sucht Orpheus Eurydike wieder auf und beide bleiben von da an ungetrennt zusammen.
Der Mythos von Orpheus und Eurydike sei, so Kaja Silverman in ihrem neuen Buch Flesh of My Flesh, nicht weniger als eine Ur-Erzählung westlicher Subjektivität. Für Silverman ist die Figur des Orpheus mindestens so bedeutsam wie die des Ödipus – und das ist keine unerhebliche Aussage für eine Theoretikerin, die sich seit ungefähr 30 Jahren mit psychoanalytischem Denken befasst. Aber es geht in Flesh of My Flesh nicht darum, die Psychoanalyse zu verabschieden. Eher knüpft Silverman an ihre vorherigen Projekte an – an die Frage nach brüchiger Männlichkeit zum Beispiel (Male Subjectivity at the Margins, 1992) und an den Versuch, mit dem Konzept der Liebe ein hierarchisch strukturiertes Blickregime zu durchkreuzen (Threshold of the Visual World, 1996). Aber Silverman wendet ihre Aufmerksamkeit nun anderen Figuren zu, sie verschiebt die Referenzen ihrer Theoriebildung. So, wie sich ja auch mit Mythos verschiebt.
Einsame Männlichkeit
Im ersten Teil ihres Buches, «then» überschrieben, zeichnet Silverman ein Geflecht aus Personen, Bildern und Texten nach, das sich von Nietzsches Fröhliche Wissenschaft (1882) bis zu Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939) erstreckt und in dem die Orpheus-Figur ungemein produktiv hin und her gewendet wurde. In dieses Geflecht ist die frühe Psychoanalyse ebenso verwickelt, wie aus ihm ein gewissermaßen orpheisches Modell moderner Männlichkeit hervorgegangen ist. Besonders Rainer Maria Rilke, der sich gegen Ende seines Lebens immer weiter und immer unglücklicher in Schweizer Alpentäler zurückgezogen hatte, verkörperte diese einsame Männlichkeit, deren verquälte Schaffenskraft keinen Platz für irgendjemanden anderen ließ, von Frauen ganz zu schweigen. Rilke, die Malerin Paula Modersohn-Becker und die spätere Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé, die außer mit Rilke auch mit Nietzsche und Freud zeitweise sehr spezielle Freundschaften oder – mit Silverman gesprochen – eigentlich Verwandtschaften unterhielt, sind Knotenpunkte dieses Beziehungsgewebes, das Silverman zu einem sehr aufmerksam und zugleich gelassen erzählten Textgewebe gefügt hat.
Den deutschsprachigen Leser/inne/n dürfte die Personenkonstellation nicht ganz unbekannt sein: Klaus Theweleit hat vor ca. 20 Jahren die Virulenz der Orpheus-Figur um die vorletzte Jahrhundertwende mit teils ganz ähnlichem Personal in allen Einzelheiten und unzähligen Seitenwegen ausgebreitet. Sein Buch der Könige Bd. 1 «Orpheus und Eurydike» (1988) ergab, dass letztere in diesem Mythos eigentlich nicht vorkomme, weswegen Theweleit das «und» zwischen den beiden Namen glattweg durchstrich und die nächsten 2.000 Seiten ohne Eurydike weitermachte. Das heißt, Eurydike war nicht wirklich verschwunden, weder aus dem Mythos noch aus dem Buch der Könige, sondern als Verbindungsfrau zur Unterwelt, als «mediale Frau» im Leierspiel des Orpheus gleichsam aufgehoben. Die Frau als Leier, als Schreibmaschine, als Schatten, Stimme oder Psychoanalytikerin – man kann Silvermans Buch gut als (impliziten) Gegenentwurf zu dieser Variante deutscher Medientheorie lesen.
Denn Silverman kommt es auf das «Und» gerade an. Alles hängt in Flesh of My Flesh an dem oft vernachlässigten, wenn nicht gar unterschlagenen Ende der Geschichte: an der Wiederbegegnung von Eurydike und Orpheus. Dann nämlich wird ein wechselseitiges Blickverhältnis möglich und damit eine Revision jenes ersten Blicks, der sich nachträglich als ein abweisender und verwerfender darstellt, kurzum, als zutiefst heterosexueller Blick, unter dem sich jede Angebetete buchstäblich in Luft auflösen muss. Was es stattdessen hieße, Heterorelationalität, Relationalität überhaupt, zu leben, also eine Anerkennung des Anderen und der Andersheit zu praktizieren, das ist es, was der letzte Teil des Mythos und mit ihm Kaja Silverman zu denken geben. Ein turn? Vielleicht. Immerhin tritt an die Stelle Ödipus’ Orpheus, an die Jacques Lacans Lou Andreas-Salomé und mit ihr das Denken von Analogie statt von Differenz. Verbundenheit und Verwandtschaft – den Anderen als Fleisch des eigenen Fleisches zu erkennen – rücken in und die eigene Endlichkeit und Sterblichkeit niemals aus dem Blick. Nicht weniger als eine psychoanalytische Ethik ist damit umrissen.
Silverman ist es immer darum gegangen, in künstlerischen und filmischen Arbeiten Potenziale der Umkehrung von Blick- und damit von Machtverhältnissen auszumachen. Die Frage, die sie nun an die Bilder richtet, könnte man so fassen: Wie lässt sich im Schatten von Krieg und Terror ein gewaltförmiger, zurückweisender, vernichtender Blick in einen der Anerkennung umwenden? Silverman findet hierfür in einem zweiten, «now» überschrieben, Teil ihres Buches drei, allerdings ziemlich heterogene, Beispiele: Terrence Malicks Thin RedLine (1998), in dem soldatische Blicke, alles Heroische abstreifend, sich in sehnsuchtsvolle, verstreute und streunende wandeln. Außerdem ein Projekt des Künstlers James Coleman, das sich wiederum mit Leonardo da Vinci beschäftigt und zwar weniger, um einmal mehr dessen Unsterblichkeit zu untermauern, sondern um die sowohl symbolische als auch sehr materielle Selbstauflösung, die Leonardos Werk gewissermaßen vom Beginn seiner Fertigstellung an erfasst habe, sichtbar werden zu lassen.
Betty Meinhof
In einer Lektüre von Gerhard Richters Stammheim-Zyklus 18. Oktober 1977 (1988) kulminiert schließlich Silvermans Studie. Während sich Richter in den 70er Jahren an einem recht zynischen Projekt abgearbeitet hatte, in dem er versuchte, KZ-Bilder mit pornografischen zu parallelisieren – tatsächlich möchte man solche Analogiebildungen nicht sehen müssen – sei es ihm laut Silverman im Durchlaufen biografischer Ereignisse gelungen, sich als Teil der deutschen Geschichte und nicht als ihr unbeteiligter Beobachter zu verstehen: In Betty (1977), einem Gemälde, das Richters Tochter zeigt, erkennt Silverman eine Totenfotografie Ulrike Meinhofs wieder, wie sie umgekehrt im Stammheim-Zyklus Gudrun Ensslin als Schulmädchen verkörpert sieht. Mit Benjamin gesprochen, blitzt hier das Vergangene im Jetzt auf, oder auch das Andere im Eigenen. In Betty, das auch das Coverbild von Flesh of My Flesh abgibt, kondensiert die orpheische Blickkonstellation: Wer schaut hier wen an, wer wendet sich von wem ab und wem zu? Für Silverman ist das eine Frage der Analogie, nicht zuletzt der medialen: Die Fotografie scheint hier schließlich ein besonderes Verhältnis zum Vergangenen zu unterhalten.
Silvermans Buch ist selbst sehr analogisch gebaut. Der Text und die in ihn eingelassenen Bilder werfen Blicke vor und zurück, spüren Ähnlichkeiten und Verwandtschaften auf. Man mag dieses Flüstern und Schauen, dass das Buch so einnehmend entfaltet, gar nicht stören. Aber einige Fragen drängen sich am Ende doch auf: Zum Beispiel die nach der Auswahl der Gegenwartskünstler: Malick, Coleman, Richter – ist deren kunst- bzw. filmhistorischer Rang nicht bereits von allen möglichen Seiten her abgesichert worden? Wo wäre aber heute zum Beispiel eine Lou Andreas-Salomé zu finden? Und warum taucht im Richter-Kapitel, gerade wenn es um Beziehungsgeschichten geht, Isa Genzken nicht auf? Zumal deren Arbeiten – man denke zum Beispiel an die skulpturalen Portraits ihrer Freunde – so deutlich um Analogien und Verwandtschaften kreisen. Wie symbolisch – oder vielleicht doch konkret? – sind Geschlechterpositionen und Verwandtschaftsverhältnisse bei Silverman eigentlich zu verstehen? Auch die Konzeptualisierung der Fotografie als Medium der Analogie schlechthin provoziert Fragen. Bleibt doch etwas diffus, was genau gemeint ist – Abbildhaftigkeit oder ein Barthesscher Moment der Berührung? Nun, man kann diese Fragen aufschieben und an das nächste Buch richten. Silverman hat es bereits angekündigt, es soll von der Fotografie in den ersten zwei Jahrzehnten nach ihrer Erfindung handeln. Also noch einmal: Sich umwenden und zurückschauen.
Kaja Silverman: Flesh of My Flesh (Stanford University Press 2009)