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State of the Arthouse (II) Ästhetik: Kleine Wunder

Von Bert Rebhandl

Was sind eigentlich Arthousefilme? Ein Bestimmungsversuch anhand einer Zufallsmenge

Mammut (2009)

© MFA+

 

Vier Männer sitzen vor einem Kiosk auf einem Platz irgendwo in Athen. Sie haben nichts weiter zu tun, manchmal geht Stavros in den Laden und verkauft Zigaretten oder sonst eine Kleinigkeit. Die Männer beobachten einen kleinen Hund, von dem sie sicher sind, dass er nur bellt, wenn ein Albaner vorbeikommt. Meistens allerdings bleibt der Hund teilnahmslos, denn der Verkehr auf diesem Platz ist relativ gering. Die vier Männer, alle in mittleren Jahren, vertreiben sich die Zeit mit Erinnerungen an ihre große Zeit. Damals, als Rory Gallagher in Athen gespielt hat, «es war das erste Konzert nach der Junta», damals «haben wir alles zerlegt». Noch heute trägt Stavros, einer der vier Männer, die Haare lang, noch heute sieht er aus wie ein Rocker, der jederzeit wieder etwas zerlegen würde. Denn Stavros hat in dem Film Kleine Wunder in Athen von Filippos Tsitos eine lupenreine Midlifekrise. Er ist ein Junggeselle mit hinfälliger Mutter, er hat ein mäßiges Auskommen mit seinem Kiosk. Alles, was ihm geblieben ist, sind diese drei anderen Männer, die sich immer wieder auf diesem Platz einfinden, um mit ihm gemeinsam die Zeit totzuschlagen.

Straßentaugliche Philosophie

Die Geschichte geht in dem Moment so richtig los, in dem ein Mann in diese kleine, überschaubare Welt tritt, der sich als Nikos vorstellt, der aber eigentlich ein Fall für den Hund wäre. Bellt er, oder bellt er nicht? Nikos ist nämlich Albaner, Angehöriger der einzigen Nation, auf die griechische Männer noch herunterschauen können, zumal, wenn sie das eigene Territorium bewachen – einen öffentlichen Platz, auf dem die Behörden nun ausgerechnet ein «Interkulturelles Denkmal» errichten wollen, das Stavros und seine Freunde schon «zerlegen», als es bloß erst eine Baustelle ist. Und als wäre das der interkulturellen Provokationen nicht schon genug, erfindet der deutsch-griechische Regisseur und Drehbuchautor Filippos Tsitos noch eine viel grundlegendere Kränkung für Stavros. Seine Mutter, der nach einem Schlaganfall nicht mehr in jeder Hinsicht alles ganz klar ist, erkennt in dem Albaner Nikos ihren lange verlorenen Sohn Remzi, den sie vor vielen Jahren in Albanien zurücklassen musste.Sie ist selbst Albanerin, und Stavros ist somit Albaner, oder albanischer Grieche. Ob ihn das schon zu einem «interkulturellen» Europäer macht, ist eine Frage des Horizonts des Films von Filippos Tsitos, die der deutsche Titel eigentlich auch schon beantwortet: Kleine Wunder in Athen. Der Originaltitel spielt mit einem berühmten Motiv: Platons Akademie war eine Gruppe von Männern, nur ist die Philosophie von Stavros und seinen Kumpanen deutlich straßentauglicher und eindeutig weniger idealistisch. Kleine Wunder in Athen fällt in eine Kategorie von Kino, die schwer zu definieren ist, obwohl es dafür ein eindeutiges Label gibt: Man würde wohl von einer Arthouse-Komödie sprechen, die durch Lokalkolorit und universellen Witz zu überzeugen versucht. Stavros ist ein Typus, wie er so oder ganz ähnlich in nahezu jeder nationalen Ausprägung vorliegt: ein Verlierer, der sich aber nicht unterkriegen lässt; ein Lakoniker, dessen Stoizismus immer wieder ganz gute Pointen provoziert. Die gesellschaftlichen Probleme Griechenlands tauchen in Kleine Wunder in Athen so auf, wie sie die Welt betreffen, die Stavros mit seinem eingeschränkten Aktionsradius (er fährt ein Moped, wenn er doch einmal ein bisschen weiter weg muss) definiert. Und obwohl diese Probleme (Apathie, Bürokratie, Xenophobie, …) in ihrer zeitgenössischen Ausprägung durchaus deutlich die Komödienstruktur prägen, bilden sie doch eher so etwas wie einen vagen nationalen Hintergrund für eine Geschichte, die ins Allgemeine strebt: Ein Mann wie Stavros braucht kein Visum, er überschreitet jede Grenze.

Beim Versuch, den Arthouse-Sektor im gegenwärtigen Kino näher zu bestimmen, stößt man schnell an prinzipielle Grenzen: Zu heterogen ist allein das, was im Sommer 2010 in die deutschen Kinos kommt und im weitesten Sinn in diese Rubrik fällt. Mammut von Lukas Moodysson, Mahler auf der Couch von Percy und Felix Adlon, La Nana – Die Perle von Sebastián Silva, Women without Men von Shirin Neshat. Ein skandinavischer Versuch der Bestimmung von Weltbürgertum zwischen New York und Thailand, ein deutsch-österreichisch-öffentlich-rechtliches Prestigeprojekt über die Begegnung zwischen einem Giganten der Musik und dem Begründer der Psychoanalyse, ein Kammerspiel über ein chilenisches Dienstmädchen, eine poetisch-allegorische Erzählung vom Leid der Frauen im islamisch-fundamentalistischen Iran. Dazu die Geschichte von Stavros. Das ist die Zufallsmenge, die diesem Text zugrundeliegt, in dem es um den Versuch geht, Arthouse zu verstehen.

Der dritte Weg

Ich könnte auch noch den türkischen Film Tatil kitabi (Summer Book) von Seyfi Teoman hinzuzählen, doch sträubt sich da etwas in mir, und das könnte vielleicht helfen, eine Differenz zu markieren zwischen jenem mittleren Bereich, für den das Label «Arthouse» geläufig geworden ist, und einem dritten Bereich, den ich versuchshalber als «Weltkino» bezeichnen würde (de facto handelt es sich dabei um Nationalkino, das mit jedem Film seinen Status im Weltkino aushandelt). «Arthouse» ist natürlich einfach ein Arbeitsbegriff, den Kinobetreiber, Verleiher, Schilderaufsteller in DVD-Stores und Kritiker brauchen, die den Begriff häufig in Analogie zu einem Genre verwenden. Dabei zeichnet sich der Bereich gerade dadurch aus, dass er eher negativen Kriterien entspricht: Arthouse-Filme sind auf eine weniger ausdrückliche Weise kommerziell, sie verzichten aber auch so weitgehend auf Formexperimente und reflexive Strategien, dass sie in der Regel problemlos zu konsumieren sind. (Ausnahmen wie Lars von Trier verweisen auf die komplizierte Geschichte des Arthousebereichs, der sich ja nur sehr allmählich aus dem Kunst- und Programmkinobereich der Nachkriegsepoche bis 1989 heraus entwickelt hat – von Trier ruft diese große Tradition ständig auf, während es zu den Charakteristiken von Arthousefilmen gehört, dass sie tendenziell ahistorisch sind.)

Mammut von Lukas Moodysson zeigt einige der Tendenzen des Bereichs sehr gut auf. Ein Regisseur aus Schweden, der anfangs durch lokal und zeitgeschichtlich spezifische Geschichten auf sich aufmerksam gemacht hat (Tilsammans, 2000), legt hier seine erste globale Erzählung vor: Ein Paar in New York (gespielt von Gael García Bernal und Michelle Williams) mit Tochter im Grundschulalter und philippinischer Nanny wird aufgrund einer Geschäftsreise des Ehemanns getrennt. Er fliegt nach Bangkok, um einen bedeutenden Deal in der Computerspielbranche zu finalisieren, sie bleibt in New York und operiert Notfallpatienten. Mammut ist ein Versuch, auf allen Seiten der globalen Erfahrung zugleich zu sein: auf Seiten der philippinischen Kinder, der thailändischen Prostituierten, der amerikanischen Ostküstenelite, die aber durch Kreativität und sozialen Sinn ausgewiesen ist und nicht einfach durch altes Geld. Das Kind wird zur universalen Projektionsfläche, es lernt Tagalog und starrt durch ein Teleskop in den Himmel, denn nur der Kosmos taugt schließlich als Metapher für den großen Horizont, den Moodysson im Auge hat.

Verteidigung der Langeweile

Mammuti st ein Update von Babel, dem ersten amerikanischen Film des mexikanischen Regisseurs Alejandro González Iñárritu, und wie dieser zielt er ein wenig zu direkt auf die Möglichkeit, sich ein Bild der interdependenten Welt zu machen. Nicht zufällig bilden in beiden Fällen weiße, liberale, heterosexuelle Paare mit Kindern den archimedischen Punkt, auf den hin die panoramatische Montage bezogen ist. In dem chilenischen Film La Nana – Die Perle taucht eine ganz ähnliche Familie auf, nur mit dem Unterschied, dass die Unterschiede hier strikt auf das eigene Land bezogen sind: Das Dienstmädchen Raquel (Catalina Saavedra) identifiziert sich hier so stark mit ihrer Aufgabe und mit den damit zusammenhängenden Verzichtsleistungen, dass sie erst durch einen Zusammenbruch wieder mit ihrer eigenen Geschichte und mit dem chilenischen Hinterland in Verbindung kommt. La Nana ist eine Komödie über den Klassenunterschied, für den die latente Hysterie von Raquel zum Symptom wird, die aber auch gleich wieder kuriert wird. Die vage Erinnerung an die surreale Gesellschaftskritik eines Buñuel, die in La Nana noch steckt, ist beinahe zur Gänze einem stereotypen Komödienschema gewichen, das mit dem von Kleine Wunder in Athen fast deckungsgleich ist. Raquel und Stavros sind widerspenstig durch Frustration, sie erweisen sich als Störfälle für eine Ordnung der Langeweile gerade deswegen, weil sie ihre eigene Langeweile verteidigen.

Diese gemütliche Komik ist ein Indiz für Arthouse, wie es auch die gravitätische Verhandlung von Kontingenz in den ernsten Filmen des Bereichs ist. Die unverstellte Ausbeutung kulturellen Prestiges in einem Film wie Mahler auf der Couch, in dem der österreichische Volksschauspieler Karl Markovics sich als Sigmund Freud lächerlich macht («Zwangsneurose hin oder her – das grenzt an Beleidigung!»), aber auch in Shirin Neshats Women without Men, in dem die persische Poesie zum Sehnsuchtstopos politischer Befreiung wird, wäre ein drittes Element.

In Tatil Kitabi (Summer Book) von Seyfi Teoman steht ein Junge im Grundschulalter im Mittelpunkt. Der Film spielt in Silifke in der Provinz Mersin in der Osttürkei. Auch hier erscheint früh und markant das Bild einer Verbindung zwischen Zentrum und Peripherie: Veysel, der ältere Bruder von Ali, steigt aus einem Bus aus Istanbul. In dem Sommer, von dem Seyfi Teoman erzählt, löst sich auf tragische Weise der Konflikt mit dem autoritären Vater. Er erleidet eine Hirnblutung, die wie das Symptom seines Starrsinns und seiner Zornbereitschaft erscheinen mag. Interessant ist, wie sich hier individuelle und nationale Geschichte verbinden. Das «Sommerbuch», von dem im Titel des Films die Rede ist, stammt aus dem Unterrichtsministerium. Die Kinder sollen auch in den Ferien nicht einfach für sich sein, sondern mit der Schule und damit mit der Nation in Verbindung bleiben. Das Buch von Ali wird ihm gleich zu Beginn von einem älteren Schüler abgenommen – er muss nun gewissermaßen sein eigenes Sommerbuch schreiben, und Seyfi Teoman schreibt mit seinem Film eine Nationalgeschichte «von unten», aus der Perspektive eines Kindes, das die Nationalhymne zwar mitsingt und von Atatürk lernt, aber einen ganz anderen Horizont hat.

Es ist ein Horizont, der auch über den engen Bereich des Arthousekinos hinausweist auf eine Position, die sich der Tatsache bewusst ist, dass der universale Anspruch des Kinos (den Arthouse mit einigem Pathos hochhält) immer konkrete Verhandlungssache ist: mit einem System des Weltkinos, das weitgehend auszublenden das relevanteste Charakteristikum der meisten Arthousefilme ist.