«Ein Trainer arbeitet wie ein Regisseur» Christoph Biermann im Gespräch
Herr Biermann, wir wollen darüber sprechen, wie man ein Fußballspiel sieht, und was man da alles sehen kann, mit freiem Auge und mit medialen Hilfsmitteln. Dazu vielleicht ein Quereinstieg: Wenn Sie ins Kino gehen, wo setzen Sie sich da hin?
Ich gehe sehr selten ins Kino, und wenn, dann versuche ich mittig in der Mitte zu sitzen. Gibt es da etwas daraus abzuleiten? Ich habe mir noch nie Gedanken darüber gemacht, das ist eine komplett instinktive Wahl.
Abzuleiten gibt es nichts, aber im Kino kann man sich auch entscheiden, ob man näher dran sein will oder einen besseren Überblick über das Bild bevorzugt. Im Stadion ist das ganz genauso. Wo sitzen Sie denn da am liebsten?
Die besten Presseplätze, die ich kenne, sind entweder in Köln oder in Bochum. In Köln haben sie die Presseplätze in den Unterrang getan, der fängt in ungefähr 1,20 Meter Höhe an. Das ist also nicht ganz das englische Modell, wo der Unterrang ja auf Grasnarbe beginnt. In Köln sind die Presseplätze unterhalb der Ehrentribüne, das Ergebnis ist fantastisch: man hat eine gewisse Aufsicht und ist doch ganz nah dran. In Bochum sind die Presseplätze in zwei Zonen rechts und links von den Honoratiorenblöcken gelegt, das hat einen vergleichbaren Effekt: ich bekomme neben der Aufsicht doch noch ein Gespür für das Spiel. In den meisten Stadien sind die Plätze der Berichterstatter im Oberrang. In Barcelona ist es besonders absurd. Dort habe ich selber zwar noch nie auf einem Presseplatz gesessen, aber da ist die Pressetribüne unter das Dach gehängt, und zwar hinter Glas, wie so eine Kanzel. Ich hatte selber allerdings eine normale Karte und habe das deswegen von außen gesehen.
Gibt es so etwas wie eine Formel für den optimalen Blickwinkel auf ein Live-Fußballspiel?
Es gibt ein schönes Buch von Simon Inglis, das heißt Sightlines und handelt von Orten, an denen Fußball gespielt und gesehen wird. Da gibt es auch eine Skizze, wie sich der beste Blickpunkt gewissermaßen errechnet. Der verändert sich aber natürlich je nach Gegebenheit. Im Maracana-Stadion in Rio de Janeiro, wo ich noch nie war, ist man auf dem Rang sicher zu weit weg. Ich selbst habe keine Formel dafür, man sollte aber nicht weiter als 40 Meter von der Seitenauslinie entfernt sein.
Verändert sich auch der Stadionblick vor Ort, wenn sich die Standards der Fernsehübertragung ästhetisch weiterentwickeln, zum Beispiel durch HD?
Ich habe neulich das Hinspiel im Semifinale der Champions League zwischen Inter Mailand und dem FC Barcelona zum ersten Mal in HD gesehen, bei einem Freund, der sich ein großes Gerät hingestellt hat, und ich war wirklich erschlagen davon. Ich würde am liebsten nur noch zu ihm gehen. Der Fußball im Fernsehen hat sich ja wirklich enorm verändert im Lauf der Zeit. Die Fußballregie in Deutschland bekam eine neue Form, als die Bundesligarechte an Sat1 gingen. In der Sendung ran hat man angefangen, die Spiele dramaturgisch aufzulösen. Man hat Zweikämpfe mit Umschnitt gezeigt, oder Spieler, die einen Konflikt mit dem Trainer haben, oder die beiden Trainer in der Coachingzone, die irgendeine Kontroverse austragen. Das erzeugte eine zusätzliche narrative Ebene, die Übertragung oder der Bericht rückten näher ans Spielfeld und gingen von der Totale ein wenig weg. Marcel Reif war Sportchef von RTL und vertrat eine Art Gegenrichtung bei der Übertragung der Champions League, für die RTL damals die Rechte hatte. Reif bevorzugte eine Regie, die stärker an der Totale orientiert war. Das war eine eher puristische Haltung, und da hat es richtig Proteste dagegen gegeben. Da war das Publikum schon umgewöhnt. Es gab da also durchaus eine historische Entwicklung. Wie das allerdings ins Stadion zurückwirkt, das weiß ich nicht, da habe ich keine These dazu. Ich gucke aber auf jeden Fall immer noch lieber das Spiel im Stadion.
Wenn man im Stadion sitzt, muss man selbst eine Art Montage erstellen – der Blick muss sich für etwas entscheiden, man sieht ja vieles gleichzeitig.
Der normale Blick im Stadion ist einfach totaler. Jeder, der im Stadion sitzt, mit welcher Vorstrukturierung auch immer, sieht mehr als der Zuschauer vor dem Fernseher. Im Stadion weiß man früher, ob ein langer Ball ein Befreiungsschlag ist oder ein toller Pass, das ist im Moment und ohne Kameraschwenk geklärt. Ich glaube, ich habe beim Schauen schon eine ganze Menge Parameter im Kopf. Interessant ist es vor allem, wenn man eine Mannschaft kennt, wenn man sie häufig gesehen hat, und dann darauf achten kann: Was machen sie heute anders? Ich schaue aber auch immer auf so etwas wie Gesamteindruck, zum Beispiel habe ich neulich den FC Fulham einmal genauer gesehen, im Uefacup-Spiel gegen Hamburg. Fulham ist einfach eine gute Mannschaft, mit schlechten Spielern und einer total antiquierten Spielidee. Man sitzt dann vor dem Fernseher und fragt sich: Was ist das da? Was macht die denn eigentlich gut? Das habe ich immer, wenn ich ins Stadion gehe, dass ich das herauszufinden versuche über eine Mannschaft: Was ist die Idee, was ist die Haltung, was ist die Vorgehensweise?
Lassen sich mit einem geschulten Blick auch Spielsituationen antizipieren?
Ja, das würde ich schon sagen. Die Mannschaften üben ja, zu einem gewissen Teil zumindest, Muster ein, und das kann man bis zu einem bestimmten Grad antizipieren – gerade auch in der Abweichung. Bei den meisten deutschen Mannschaften ist das Spiel gegen den Ball relativ klar organisiert, man weiß dann vorher zum Beispiel schon ein wenig, in welcher Spielsituation sie draufgehen und in welcher sie es nicht tun.
In der Bundesliga war Hoffenheim eine Weile ein Beispiel für eine Mannschaft, die sehr gut «gegen den Ball» gespielt hat – dann haben sie diese Qualität wieder verloren. Woran kann so etwas liegen?
Bei Hoffenheim gab es sehr viele Diskussionen um das Training. Ich glaube, dass die teilweise nicht richtig trainiert haben, weil sie nämlich zuviel gemacht haben. Man braucht ja auch eine Frische am Spieltag. Als es noch sehr wenig Erkenntnisse über Trainingslehre gab, waren die Spieler am Samstag oft müde. Das ist aber nur ein Aspekt. Mannschaften sind komplizierte soziale Gebilde, geprägt auch von Stimmungen und psychischen Dispositionen.
Fußball lebt vom Gestalten und vom Verhindern. Welcher Aspekt ist wichtiger?
Je nachdem. Nehmen wir José Mourinho. Er ist der Meister aller Spielverderber, selbst mit Chelsea hat er eine Art Underdogfußball gespielt, was ja bizarr ist, wenn man auf die Summen sieht, über die sie dort verfügen. Aber auch das ist eine Art von Gestaltung.
Worauf muss man achten, um ein Spiel auf dieser Gestaltungsebene zu sehen?
Wenn man geübt ist, etwas anzuschauen oder wahrzunehmen, sei es ein Film oder Bildende Kunst oder Literatur, dann reagiert man nicht nur auf den stärksten und eindeutigsten Reiz, sondern auch noch auf den sechsten: auf ein Detail, eine unauffällige Szene. Wenn man Filmemacher kennt und irgendwie weiß, wie jemand prinzipiell arbeitet, dann bekommt man allmählich ein Bild: Welche Themen hat ein Regisseur, welche Aussagen hat er dazu gemacht, welche Ökonomie bestimmt seine Arbeit? Hier sehe ich Vergleichspunkte: Wieviel Geld habe ich für ein Bild oder für eine Spielszene zur Verfügung? Welche Akteure kann ich mir leisten? Die Arbeit eines Regisseurs hat durchaus strukturelle Ähnlichkeiten mit der eines Trainers.
Das Spiel hat allerdings keinen Autor, während es beim Inszenieren um Intentionalität geht. Digitale Hilfsmittel sollen nun möglicherweise dazu dienen, die Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit des Spiels zu erhöhen. Wie weit wird das gehen?
Für mich heißt Digitalisierung des Fußballs, dass wir technische Mittel zur Verfügung haben, die es ermöglichen, Fußball bis zu einem gewissen Grad zu zählen. Die interessante Frage ist, ob es möglich ist, statistische Verfahren noch weiter zu systematisieren. Im Moment werden diese Daten relativ einfach verarbeitet. Der Fitnesstrainer liest die Laufleistung der Spieler und versucht daraus etwas abzuleiten. Die Frage, die ich für mich noch nicht beantwortet habe, ist, ob wir künftig einmal durch intelligente Aufbereitung der Daten zu einem Muster kommen, das zu einem wirklich erweiterten Verständnis des Spiels beiträgt. Eine Formel wird es nie geben, aber das ist die Richtung der Suchbewegung.
Welche Rolle spielt das Bild in dieser Analytik?
Eine ganz große. Das Bild ist ja stärker als das Wort, auch stärker als die Zahl. Es wird also vor allem in der Didaktik eingesetzt. Das kommt noch vor den Zahlen. Videoanalyse ist vor 15 Jahren noch sehr umständlich gewesen – seit wann gibt es Festplattenrecorder?
Seit fünf Jahren vielleicht.
Eben. Früher saßen Assistenten mit zwei Videorecordern und schnipselten mühsam herum, heute kannst du Spielszenen taggen: alle Umschaltaktionen, alle Pässe über die rechte Seite … Das ergibt Material, um es der ganzen Mannschaft, oder aber nur der Abwehr oder einzelnen Spielern zu zeigen. Das klassische «Du hast heute nicht gut gespielt» wird heute detailliert belegbar.
Was dient als Ausgangsmaterial? Das Fernsehbild?
Es gibt viele unterschiedliche Modelle. Es gibt in vielen Stadien inzwischen fest installierte HD-Kameras, meistens jeweils für eine Spielhälfte, die produzieren ein anderes Bild, das kompletter ist als das inszenierte Fernsehbild. Die Analysefirma Amisco bietet zum Beispiel eine Kombination aus Animationen und Fernsehbild an.
Wieweit ist eine Software in der Lage, ein Spiel zu lesen?
Man bekommt bei der Auswertung eines Spiels diese ganzen physischen Daten (Laufwege, Pässe etc.), aber die Interpretation geht nicht automatisch. Du musst ja auch vorher Kriterien festlegen, denn es gibt unterschiedliche Vorstellungen davon, was ein gewonnener Zweikampf ist oder was eine Umschaltsituation ist. Daran arbeiten im Moment viele Menschen, Spiele so aufzubereiten. Amisco zum Beispiel hat die Zentrale in Nizza, da werden an einem Samstag 150 oder 200 Leute sitzen, um die Spiele für die Kunden so herzurichten, dass sie an den Spielanalytiker des Clubs gehen können. Dort setzen dann die Fragen ein: Wie haben wir heute verteidigt? War unser Rechtsverteidiger an allem Schuld? Und falls das so ist, holt man sich den Rechtsverteidiger und zeigt ihm bestimmte Szenen oder entscheidet man sich dafür, einen neuen Rechtsverteidiger zu suchen?
Bei einem öffentlichen Gespräch, das Sie einmal mit Lucien Favre geführt haben, dem gescheiterten Hertha-Trainer, stand bald die Frage im Raum: Sieht ein geübter Trainer nicht mit freiem Auge genauso viel wie diese ganzen Beobachtungsmedien?
Ich will das auf einem Umweg beantworten. Auf die Trainingssteuerung wird heute großer Aufwand verwendet. Ich glaube allerdings, dass jemand wie Otto Rehagel oder Hans Meyer nach vierzig Jahren auf dem Trainingsplatz einen Spieler nur laufen sehen muss, um zu sehen, was mit dem los ist. Aber wer hat diese Erfahrung? Und wieviele Fehler muss man auf dem Weg zu dieser Erfahrung machen? Ich glaube, dass es einfach ein extremes Hilfsmittel ist, den eigenen Blick zu schärfen. Wenn man sich einen Film im Kino ansieht, und wenig später noch einmal auf DVD, ergibt das auch ganz unterschiedliche Erkenntnisse, da bin ich mir sicher.
Wie gut können Spieler das verarbeiten, wenn sie sich hinterher bei der Arbeit zusehen?
Man muss das dosieren. Das werden in der Regel nicht viel mehr als zwei Minuten sein, die man ihnen zeigt, und auch dann nicht einfach der ganzen Mannschaft, sondern einzeln oder bestimmten Teilen der Formation. Dann können sie da schon etwas über sich erkennen. Beliebt sind übrigens auch immer noch Motivationsfilme. In Köln wurden einmal alle Spielerfrauen dazu aufgefordert, zu so einem Filmappell beizutragen. Sie haben sich vor die Kamera gestellt und in der jeweiligen Muttersprache des Spielers gesagt: Heute kämpfst du für mich, für deine Mannschaft, für uns alle. Das hat offensichtlich einen großen Effekt gehabt.
Die abschließende Frage muss einem großen Streitfaktor gewidmet sein: Es gibt viele Fehlentscheidungen der Schiedsrichter, immer wieder wird eine Korrektur durch den sogenannten Videobeweis gefordert. Wie sehen Sie das?
Es ist ja wirklich eine komplett absurde Situation. Zwei Mannschaften spielen ein WM-Finale. Die ganze Welt sieht zu, es gibt eine umstrittene Szene auf dem Platz, und eine Milliarde Leute weiß nach ein paar Sekunden, ob richtig entschieden wurde. Nur die Spieler auf dem Platz, die Schiedsrichter und die 70 000 im Stadion sind ahnungslos. Seltsamerweise finde ich aber okay, dass es so ist. Die Idee dieser Lordsiegelbewahrer des Fußballs ist ja, dass Fußball überall gleich ist und überall im gleichen Maß nicht-technisiert ist. Zwischen einem Kreisligaspiel in Lichterfelde und einem WM-Finale gibt es keinen prinzipiellen Unterschied, denn das Feld ist gleich groß, die Markierungen sind dieselben, die Regeln auch. Das gehört zur Kraft des Fußballs irgendwie mit dazu.
Der Videobeweis würde vielleicht auch die epische Dimension des Spiels zerstören, die Dreiviertelstunde einer Halbzeit, die ja im Vergleich zu sequenzierten Spielen wie American Football oder Basketball ein ganz eigenes Erzählformat darstellt, in dem auch leere Momente möglich sind.
Ich weiß nicht, ob der Videobeweis das zerstören würde, das hinge auch von der konkreten Umsetzung ab. Der Fußball ist da auch recht resistent, aber er würde halt anders werden. In dem universalen Ansatz, dass für alle Spiele auf allen Niveaus die gleichen Bedingungen gelten sollten, steckt schon was drin, denn eine Verbindung zwischen mir, der ich mit einer Graupenmannschaft spiele, und Messi ist dadurch einfach da. Wir spielen unter den gleichen Bedingungen, zumindest theoretisch.
Mit Christoph Biermann sprachen Bert Rebhandl und Simon Rothöhler
Die Fußball-Matrix. Auf der Suche nach dem perfekten Spiel ist 2009 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen