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Punkt, Punkt, Motte, Strich Über die Ausstellung Zelluloid. Film ohne Kamera in der Schirn Kunsthalle Frankfurt

Von Kathrin Peters

In den 1830er Jahren experimentierte William Henry Fox Talbot mit lichtempfindlich beschichteten Papieren. Er legte Blumen, Blätter und Farne auf die von ihm präparierten Papiere, drückte sie mit einer Glasplatte flach und setze das Ganze einige Minuten lang dem Sonnenlicht aus. Was dabei herauskam, waren feine Schattenrisse, Fotogramme in matten Schwarzweiß-Abstufungen. Talbot nannte sie photogenic drawings, womit ausgedrückt ist, dass diese Bilder ihm einerseits als akkurate Zeichnungen galten, die aber andererseits von keiner zeichnenden Hand angefertigt worden waren. Das Licht selbst schien sie hergestellt zu haben. Die Kombination dieses chemischen Abdruckverfahrens mit dem optischen Apparat Camera obscura folgte den Experimenten auf dem Fuß. Und auch wenn seither die Kamera den Dreh- und Angelpunkt fotografischer Praktiken ausmacht, so ist doch das Material der Aufzeichnung – das Papier, die Glasnegative oder das Zelluloid – und alles, was sich auf und mit diesem Material ereignen kann, unabdingbarer Teil dieses medialen Dispositivs, auf dem auch der Film beruht.

Ungefähr 130 Jahre später ordnete Stan Brakhage Pflanzenteile und Mottenflügel auf durchsichtigen Klebestreifen an und kopierte diese auf Filmmaterial. In der Projektion sieht Mothlight, so der Titel des 1963 entstandenen Films, aus wie ein demontiertes Herbarium oder ein flackernder Mottentanz. War bei Talbot der zentralperspektivische Apparat Kamera noch gar nicht installiert, will Brakhage ihn 130 Jahre später wieder loswerden und stattdessen Farben und Strukturen sich auf der Bildfläche überlappen lassen. Zu sehen bekam man Mothlightjüngst in der Ausstellung «Zelluloid. Film ohne Kamera» (Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main), die 26 direct films versammelte. Talbots Fotogramme, die längst verblasst heute nur noch als Reproduktionen existieren, kamen in der Ausstellung zwar nicht vor, aber als medienhistorische Folie lassen sie sich ganz brauchbar in Gedanken mitführen. Denn den Raum der künstlerischen Moderne, den die meisten der Exponate adressieren – die 40er bis 60er Jahre bilden eindeutig eine Kernzeit des direct film –, ist von einer Reflexion der medialen Verfahren und Materialien nicht zu trennen, die die frühen fotografischen Aufzeichnungen eröffnet haben: Die Arbeit mit chemischen Prozessen, der merkwürdige Präsenzcharakter des Abdrucks, die Fragen nach Handzeichnung und mechanischer Aufzeichnung, die unvorhersehbaren Verschiebungen, die zwischen dem Filmmaterial einerseits und dessen Kopie, Reproduktion oder Projektion andererseits immer stattfinden – all dies durchzieht auch die künstlerischen Experimente mit «kameralosen Filmen».

Kratzmalerei

Es war eine gute Entscheidung der Kuratorin Esther Schlicht, die Filme auf frei stehenden Projektoren abzuspielen und auf diese Weise das Zelluloid – so weit verfügbar und nicht bereits auf DVD übertragen – auch in der Ausstellung sichtbar zu machen. So konnte man durch die abgedunkelten Räume wandernd seinen Blick in zwei verschiedenen Richtungen auf die jeweiligen Filme wenden: zum einen auf die Projektion, zum anderen, wenn auch mit etwas Mühe und in Eigeninitiative, von schräg unten auf den Filmstreifen, der durch den Projektor ratterte. Schließlich macht, darauf stößt einen das Ausstellungsthema unweigerlich, ja erst beides – das Zelluloid wie dessen Projektion – «den Film» aus. Einige Künstler/innen nehmen sich den Filmstreifen in seiner ganzen Länge vor, ohne auf Kaderabstände Rücksicht zu nehmen: Len Lye, auf den die Praxis des handgemalten Films zurück gehen soll, praktizierte u.a. eine Art gestische Kratzmalerei (Free Radicals, 1958); Dieter Roth lochte die Filmrolle mit einer Gürtelzange oder ritzte Buchstaben hinein, die dann ziemlich hektisch im Bild hin und her springen (Dot, 1956-62; Letter, 1962). Andere verätzten die Emulsionen von teilweise bereits belichtetem Footage (Jennifer Reeves, Cécile Fontaine u.a.). Und Luis Recorder öffnete eine Box, in der eine unbelichtete Filmrolle lagerte, einen Spalt breit und ließ so einen Film entstehen, der anders als die meisten der gezeigten überhaupt nicht flackert, sondern über 12 Minuten lang einen Farbverlauf präsentiert (Available Light: Yellow-Red, 1999).

Manchmal hat man es beim direct film mit Effekten zu tun, wie sie mehr oder weniger auch aus Versehen entstehen könnten – durch Überlagerung des Filmmaterials etwa, durch Hitze, Abnutzung oder Lichteinfall. Nur, dass das, was sonst als Störung, Unfall oder Defekt gilt, hier willentlich herbei geführt wurde, ohne dass während des Bearbeitens des Zelluloids vorauszusehen gewesen wäre, was am Ende als Film zu sehen sein würde – falls das überhaupt wichtig war.

Aber nicht alle der vertretenen Künstler/ innen haben dem Zufall oder der Chemie die Kontrolle über den Film derart umfassend abgetreten wie Tony Conrad, der Filmrollen nach den Maßgaben von Kochrezepten zubereitete (Food Films, 1973). Andere haben den Filmstreifen mit Filmkadern so bemalt, als hätte man tatsächlich mit einer Kamera gedreht. Der Animationsfilmer Norman McLaren zum Beispiel, von dem ein schönes Beispiel in der Ausstellung zu sehen war, das in zwei Minuten eine kleine Erzählung aus blauen Punkten auf rotem Grund entwickelt (Dots, 1940), McLaren zeichnete nicht nur Einzelbild um Einzelbild, sondern sogar noch die Tonspur. 1949 gab er auch eine Anleitung zur Herstellung von kameralosen Filmen heraus, in der erklärt wird, wie man mit einfachen Mitteln einen Produktionstisch herstellt – in Zeiten vor Schmalfilm und Video kein unerhebliches medienpädagogisches Projekt. Und Harry Smith entwickelte in den 40er Jahren eine Stempeltechnik, mit der er bunte geometrische Muster erzeugte, die er mit Musik (von The Fugs) unterlegte oder gleich im Club und zu Live-Musik vorführte. Von diesen Arbeiten und den Werkzeugen ihrer Erzeugung, von den Farbfiltern und Projektoren, die Smith erfand, und von den Workshops, die McLaren veranstaltete, hätte man gerne mehr gesehen und gewusst.

Do it yourself

Obgleich die Ausstellung ausdrücklich auf der Materialität des Filmischen besteht, bleibt sie bei den konkreten Herstellungstechniken und Vorführpraktiken oft vage. (Der gut gemachte Katalog liefert ein paar wenige Auskünfte sowie Produktionsbilder mehr.) Es scheint, als ob die Ausstellung zu sehr dem Anliegen verpflichtet sei, eine «eigene Kunstform» extrahieren und konturieren zu wollen, was sich zwar aus einer kunsthistorischen Gattungslogik erklärt, aber den Blick auf die Resultate, d.h. auf die Filme selbst verengt. In einer solchen Perspektive auf ein ja doch recht übersichtliches Korpus wird dann schnell aus jedem Praktiker ein Pionier, und aus jedem Experiment eine kleines abstraktes Kunstwerk, ein Kunstwerk, zu dem der Begleittext oft nicht viel mehr zu sagen weiß, als dass es die Wahrnehmung irritiere oder irgendwie sinnlich wirke. Aber sind die vielen dots und lines, die man zu sehen bekam, tatsächlich einer abstrakten «Bildsprache» oder nicht eher dem Material geschuldet – wer kann und will schon filigrane Zeichnungen und Bewegungsabläufe auf 16mm oder gar 8mm- Formaten ausführen? Was sich die Ausstellung entgehen lässt, ist, die Verbindungen des kameralosen Films zu jenen Bereichen zu knüpfen, in denen die meisten der Künstler/innen ohnehin hauptsächlich arbeiteten, zum Animationsfilm nämlich oder zum Musikfilm (mit Ausgriffen auf das Musikvideo) oder auch zu Malerei und Zeichnung. Die filmpolitischen Implikationen, die mit den Do-it-yourself-Praktiken einhergingen, Fragen nach den Orten und konventionalisierten Längen von Filmvorführungen, die von den Künstler/inne/n durchaus aufgeworfen worden sind, kommen nur in Andeutungen vor. Wie auch der Umstand unbedacht bleibt, dass Kratzer, Schlieren und Farbverschiebungen nicht an sich schon eine Avantgarde-Ästhetik ausmachen, sich diese vielmehr bei dem bedient hat, was zur alltäglichen Materialität fotografischer und filmischer Medien gehörte und sich gerade dann zeigte, wenn die entstandenen Bilder nicht gelungen waren. Ein Großteil dieser Materialien ist ohne Zweifel im Verschwinden begriffen, aber das muss kein Anlass für Zelluloid-Nostalgien sein. Denn man kann sich sicher sein, dass die digitalen Bildtechniken längst ihre eigenen Zusammenbrüche und Neustarts zustande gebracht haben.

 

Zelluloid. Film ohne Kamera | Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2. Juni – 29. August 2010 | Katalog hrsg. von Esther Schlicht und Hans Hollein, Bielefeld (Kerber Verlag 2010)