Einleitung
Systemfragen zwingen häufig zu begrifflichen Ungetümen: Leben wir in den west-europäischen Ländern derzeit tatsächlich in demokratischen Staatsformen mit freier Marktwirtschaft? Oder nicht doch eher in Scheindemokratien mit einer neoliberal auf Kapitalinteressen konditionierten Ökonomie? Die Alternativen zu diesem krisenanfälligen System sind nicht weniger schwierig zu fassen: Kommunismus? Sozialismus? Marxismus? Wir untersuchen am Beispiel dreier aktueller Filme und neuerer theoretischer Bücher, welche Optionen 1989 zu Recht untergingen (der poststalinistische Personenkult in Rumänien, die verknöcherte Marxismus-Leninismus-Pädagogik der DDR), während das reflexive Potential der marxistischen Theorie in ihrem Verhältnis zur demokratischen Praxis vielleicht erst jetzt so richtig erkannt wird (wie sich bei der Lektüre einiger vor allem französischer Bücher erweist). Jean-Luc Godard bestimmt den Sozialismus wie gewohnt sehr eigenwillig: als intellektuelle Odyssee im Zeichen der Melancholie.
Herr Sivan, ihr neuer Film trägt den Titel Jaffa – An Orange’s Clockwork. Wie kommt ein dokumentarisches Werk über eine Zitrusfrucht zu einer doch sehr deutlichen Anspielung auf Stanley Kubrick?
Wir haben es hier mit einem Projekt zu tun, das sich über viele Jahre erstreckt hat und das ich zwischendurch auch einmal aufgegeben hatte. Der Arbeitstitel lautete dabei immer: «Jaffa – Story of a Brand Name». Denn darum geht es: Wie aus den Orangen, die in Palästina angebaut werden, eine international bekannte Marke wurde, die viel über den Staat Israel und seine Vorgeschichte erzählt. Der heutige Titel geht auf einen Vorschlag meiner Cutterin und langjährigen Mitarbeiterin Audrey Maurion zurück. Wir saßen im Schneideraum und sprachen über Bildproduktion und Gewalt, und haben gemeinsam die Texte von Walter Benjamin über Fotografie und das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit noch einmal angesehen. Und dann hat Audrey gesagt: Wir sprechen hier über die technische Reproduzierbarkeit (reproduction mécanique) der Orange. Und damit war der Bezug zu Kubrick gesetzt: Denn der französische Titel von A Clockwork Orange lautet Orange mécanique (im Hebräischen kommt auch der Begriff Mechanik vor). Und so kam es zu diesem Titel: Die technische Reproduzierbarkeit oder, wenn wir so wollen, die Mechanik der Bilder von der Orange produziert Gewalt. Die Mechanik der Orange ist die Produktion von Gewalt, der Titel spielt also auf Kubrick an, aber gelesen durch Walter Benjamin.
Die Beschäftigung mit den Bildern, die es von den Jaffa-Orangen gibt, ergibt in der Summe so etwas wie eine Geschichte des Staates Israel mit allen problematischen Aspekten derselben. Es ging Ihnen wohl von Beginn an um das «größere Bild», das zugleich eine Revision geläufiger Bilder ist?
Eine der wichtigsten Fragen in der dokumentarischen Produktion ist die nach dem strukturierenden Prinzip: Wie organisiere ich, was es zu zeigen gibt? Die Orange ist ein landwirtschaftliches Gut, sie ist aber auch ein Produkt, das auf Bildern und Projektion beruht. Wir kaufen nicht einfach eine Frucht, sondern damit verbundene Inhalte. Wenn man an Jaffa denkt, denkt man an die konsumierende Generation nach dem Krieg, an Kibbuz, an Mandarinen zu Weihnachten. Ganz konkret fiel mir aber vor allem auf: Eine Orange hat keine Seite, sie ist kugelförmig und als solche ein perfektes strukturierendes Prinzip, ein Vorwand, um eine Geschichte Palästinas zu erzählen, die tatsächlich immer eine Revision sein muss, also eine Re-Vision, eine Sicht auf vorhandene Bilder in einer anderen Perspektive. Die Spuren dessen, was verborgen ist, sind noch da. Das Bild kann sich nicht verstecken, in neuem Kontext zeigt es, was die Propaganda uns nicht sehen lassen wollte. Die Zionisten filmten Palästina als Wüste, wo es sich doch gerade zu der Zeit, in der sie kamen, in einem Prozess der Modernisierung befand. Wir stellen das, was verdrängt wurde, ins Zentrum. Das Archiv enthält alles, auch die Gegenbedeutung zum propagandistisch intendierten Sinn. Deswegen beginnen wir im Archiv.
Wie verlief die Recherche?
Wir haben vier Jahre in verschiedenen Archiven recherchiert. Die Bilder von der Orange existieren, aber sie wurde kaum einmal als eigenes Stichwort genommen. Man musste also dort suchen, wo es um Tourismus oder Hotellerie und solche Sachen ging. Es gibt einen riesigen Bilderbestand, vieles davon Open Source wie in der Library of Congress, vieles aber auch in teuren Archiven wie Pathé in Frankreich. Wir haben auch deutsche Archive konsultiert zum Beispiel bei der ARD. Ein Problem war, dass Werbeagenturen häufig lange keine Archive hatten, sie haben keine Beziehung zur Geschichte. Es waren aber gerade Werbeagenturen, die an der Kreation von Jaffa als einer Marke ganz entscheidend beteiligt waren. Ein eigenes Jaffa-Archiv gibt es nicht, dabei wäre das durchaus lohnend.
Sie sprechen in Ihrem Film mit verschiedenen Forschern, mit Historikern und Bildwissenschaftlern. Konnten Sie dabei auch auf Arbeiten zurückgreifen, die sich schon eigens diesem Thema gewidmet haben, das sie nun in Jaffa – An Orange’s Clockwork untersuchen?
Zu dem spezifischen Thema ist mir keine Untersuchung bekannt. Der israelische Kunsthistoriker hat über Obstgärten in der zionistischen Kunst geschrieben, und einer der beiden palästinensischen Historiker hat sich mit der Tagespresse in der Stadt Jaffa beschäftigt, da spielt das durch die Werbung natürlich hinein. Und es gibt klarerweise Forschungen zur Geschichte von Jaffa im Osmanischen Reich. Geschichte hat keinen Anfang, denn es geht von Beginn an um die Neuerfindung der Geschichte von Palästina.
Bevor wir gelernt haben, Jaffa mit den Früchten zu assoziieren, war dies der Name einer Stadt. Wie verhält es sich mit dem Namen genau?
Der Ausdruck Jaffa (gesprochen: «Dschaffa») ist schon ein Anglizismus des arabischen Wortes. Jaffa war bis 1948 eine der größten Städte in Palästina. Die Briten schreiben den Namen mit J, dadurch wurde es Dschaffa, auf Hebräisch: Jafo, auf Arabisch Jaffa. Die Stadt Jaffa wurde 1950 zu einem Teil der Stadt Tel Aviv, dadurch wurde der Name gewissermaßen frei für eine Neubesetzung, und die ist gründlich gelungen. In Holland sagt man zum Beispiel heutzutage, wenn man Orangen kauft: Ich möchte zwei Kilo Jaffa. Und längst gibt es zum Beispiel spanische Jaffas. Das ist Iconeconomy.
Inwiefern hängen Zionismus und die Jaffa-Früchte zusammen?
Der Zionismus entsteht genau zu der Zeit, in der das Kino entsteht. Zionismus ist eine Bewegung, die die Technologie der Zeit benützt: Bilder. Hier kommt Kubrick wieder ins Spiel: Die Orange enthält eine Mechanik der Gewalt in dem Moment, in dem sich der Zionismus ihrer bemächtigt und sie zu einem Zeichen für den Staat Israel macht. Dahinter verschwindet eine ältere Kultur des Zusammenlebens in Palästina, und die Bilder, die sich darüberlegen, zeichnen einerseits das Land als Wüste, die von den Zionisten kultiviert wurde, andererseits bleiben aber Reste der Vorgeschichte erhalten, denn sie bedienen ein Bedürfnis nach Exotik, das auch zu Jaffa gehört. In meinem Film geht es nicht um die ursprüngliche Inspiration des Zionismus, sondern um die dokumentarische Frage: Um die Beziehung zwischen Projektion und Realität, um den Spalt dazwischen, den die Bilder von der Jaffa-Orange zu erkennen geben.
In Ihrem Film kommt eine Aufnahme vor, in der zu sehen ist, wie ein Bagger einen Obstgarten in Gaza schleift. Ist das ein dokumentarisches Bild, oder nicht doch eher ein metonymisches, das einen größeren Prozess veranschaulichen soll, nämlich die Zerstörungskraft des israelischen Sicherheitsbedürfnisses?
Es ist beides, ich würde aber doch eher sagen, dass es ein dokumentarisches Bild ist, nicht so sehr aufgrund dessen, was es unmittelbar zeigt, sondern weil es etwas vorhersieht und vorwegnimmt: Es kündigt an, was in Gaza nach diesem Moment im März 2003 geschehen würde, und diese Antizipation ist das Dokumentarische. Es zeigt, dass Gaza nur um den Preis seiner Existenzgrundlagen den Rückzug Israels bekommen kann. Der konkrete Anlass für diese Schleifung waren tatsächlich Sicherheitsaspekte. Die israelische Armee nahm an, dass aus diesem Obstgarten Raketen abgeschossen wurden.
Kommen wir auf das stärkste (propagandistische) Leitmotiv zurück, das in Jaffa – An Orange’s Clockwork dekonstruiert wird: das Bild von Palästina als einer Wüste, die durch den Zionismus fruchtbar gemacht wird.
Der Zionismus ist ein europäisches Phänomen. Es gibt eine Denkschule, die auch von israelischen Forschern vertreten wird und die den Zionismus als protestantischen Einfluss in der Geschichte des Judentums deuten. Denken wir an folgende Vorgänge: Die anglikanische Kirche schickt während der Darwin-Debatte Fotografen nach Israel, um zu beweisen, dass das, was in den biblischen Texten steht, Realität ist. Nur vor diesem Hintergrund konnte das zionistische Ideologem von einem Land ohne Volk und einem Volk ohne Land entstehen. Von diesem Moment an und mit den bewegten Bildern entsteht ein europäischer Kolonialismus, und wir wissen, dass Kolonialismus immer auf Texten und Bildern beruht. Die Bildersprache des Zionismus war von vornherein europäisch, die Palästinenser mussten auf eine Übersetzung abzielen, das vertritt in meinem Film Halil Rads Werk, das im Westen wenig bekannt ist. Der Zionismus benützte die Ästhetik des sozialistischen Realismus, um den westlichen Märkten ein reines Bild von Palästina zu geben. Heute erfüllt Israel eine Funktion, weil es die Avantgarde der Bekämpfung des radikalen Islams bildet, früher diente es als strategischer Partner gegen die Sowjetunion. Es gelingt dem Land immer, sich auf den neuesten Stand der Legitimation zu bringen.
Noch einmal zum Begriff des Orientalismus: Wie funktioniert dieser hier?
Orientalismus ist nach Edward Said eine doppelte Sache: der Orient erregt Verdacht und Furcht, aber auch Sehnsucht. Frauen im Harem sind eine erregende Vorstellung, die aber auch Angst macht, etwa wenn man sich vorstellt, dass eine Frau in einen Harem verschleppt werden könnte. Der Schleier steht genau für diese Ambivalenz: Er verbirgt etwas, was möglicherweise sehr attraktiv ist, er bildet aber auch eine Begrenzung der Freiheit. Orientalismus ist Stereotyp und Faszination. Der blonde Junge mit den blauen Augen, der auf vielen Werbebildern für Jaffa-Orangen auf einem Kamel zu sehen ist, das sind wir, die westlichen Adressaten.
Die Frage der Kontrolle von Bildern ist in der Gegenwart zu einem der wichtigsten Bereiche der staatlichen Sicherheit geworden. Heute, da wir dieses Gespräch führen, ist es erst wenige Tage her, dass Israel durch einen Angriff auf Hilfsschiffe für Gaza in internationalen Gewässern die Weltöffentlichkeit erregt hat. Die Bilder sprachen da sehr eindeutig gegen das Vorgehen Israels. Trotzdem ließ Israel sich von diesem Angriff nicht abbringen. Ist das Arroganz?
Israel hat auch in diesem Fall noch versucht, die Bilder von dem Ereignis zu kontrollieren und sich als Opfer darzustellen. Das geht über die Frage des Zionismus hinaus und betrifft Themen, die ich auch in meinem Film Aus Liebe zum Volk behandelt habe, in dem ich mich mit Überwachungsmaterial der DDR-Staatssicherheit beschäftigt habe: Wie kann ich Aktionen so darstellen, dass sie legitim erscheinen? Auch Eichmann …
Über dessen Prozess sie den Film Ein Spezialist gemacht haben …
… hätte nie gesagt: Wir wollten Juden töten. Er hätte gesagt: Wir wollten eine bestimmte Gesellschaft schaffen. Im Zionismus haben wir das auch: Der Kibbuz ist ein positives Bild, hinter dem die Frage verschwindet: Wem gehört das Land? Der Kibbuz ist eine radikal-demokratische Institution, alle seine Angehörigen stehen auf der gleichen Ebene. Aber was für ein Egalitarismus ist das, der rein jüdisch konzipiert ist und in dem Araber nicht vorkommen können?
Das Bild des Kibbuzes hat heute allerdings stark von seiner Strahlkraft verloren, in der internationalen Öffentlichkeit dominieren die Bilder von der Besatzung, von Checkpoints und fallweise Anschlägen.
Heute wurde ich von einem deutschen Fernsehsender angerufen. Ich sollte ein Interview vor der Kamera geben, und zwar zu folgender Frage: Wie kann Israel sein Image in der Welt verbessern? Das ist bezeichnend, denn selbst die Medien haben schon diese Perspektive übernommen, in der es nicht mehr um Aktionen oder Moral geht, sondern schon ums Image. Ärzte nach Haiti und Bomben auf Gaza. Die Realität verschwindet hinter einem Schleier. Selbst das Autorenkino in Israel dient einem Zweck der Imagebildung, es simuliert einen Willensbildungsprozess, es zeigt einen Staat, in dem es Kritik gibt, zugleich aber die armen israelischen Soldaten, die in den Krieg müssen für eine Sache, deren moralische Glaubwürdigkeit nicht grundsätzlich in Frage steht.
Lässt sich für Bilder heute überhaupt noch verlässlich ein «spin» konstruieren – sehr viele dieser Konstruktionen gehen doch inzwischen in die andere Richtung los?
Es gibt Bilder, die funktionieren, und solche, die nicht funktionieren. Wenn die amerikanische Armee etwas sagt oder zeigt, erregt sie Argwohn. Wenn die israelische Armee etwas sagt, beansprucht sie moralische Glaubwürdigkeit. Von dem aufgebrachten Schiff, das nach Gaza unterwegs war, zeigen sie Bilder von «Waffen», die gefunden wurden: ein paar Messer, Ketten, Werkzeuge – eine Installation. In Europa aber sind es immer noch für viele Menschen die Überlebenden von Auschwitz, von denen diese Bilder kommen, und diese Überlebenden faken keine Bilder. Darauf, auf dieses positive Vorurteil, verlässt sich Israel. Das Paradigma von Übermensch und Untermensch, das die Rassisten geschaffen haben, hat sich verändert. Heute geht es um Überopfer und Untertäter. Überkontrolle des Bildes führt aber zum Verlust des Bildes, das ist der Stasi-Aspekt der Angelegenheit.
Es bleibt jedenfalls der Eindruck, dass Israel bei den Schiffen vor Gaza in eine Bilderfalle gegangen ist, die leicht zu durchschauen war.
Die Armee in Israel sagt genau das: Sie konnten nicht anders, denn die Provokation ging von den Schiffen aus. Sie rechtfertigt sich gerade damit, dass sie sich diplomatisch ungeschickt verhält. Das beruht auf einer Logik der Sonderbehandlung (Deutsch im Original), die Israel immer noch in Anspruch nimmt, nun aber nicht mehr als Opfer, sondern um Vernichtung zu rechtfertigen. Deswegen dieser Akt der Piraterie in internationalen Gewässern, den Außenstehende schwer verstehen. Die Aktivisten, darunter Prominente wie Henning Mankell, wollen das Thema Gaza auf die internationale Agenda setzen, und das ist ihnen gelungen. Das Verbrechen ist, dass Gaza nach dem Rückzug von Israel über dreieinhalb Jahre zu einem Ghetto gemacht wurde.
In Ihrem ersten Film haben sie das eigentlich schon vorweggenommen. In Aqabat-Jaber – Passing Through haben sie palästinensische Flüchtlinge gefilmt, die in einem Lager im Westjordanland in einem Dauerprovisorium lebten – zum Teil seit 1948, also vierzig Jahre lang.
Meine Positionen waren damals noch nicht so artikuliert. Ich fühlte mich den Siedlern zugehörig: Menschen, die nach Palästina kamen, auch schon vor 1948. Ein großer Teil des israelischen Kinos beschäftigt sich mit der Okkupation, als wäre vor 1967 (als Israel nach dem Sieg im «Sechstagekrieg» das Westjordanland und den Gazastreifen okkupierte, Red.) alles okay gewesen. Mein erster Film setzte 1948 an, und es geht darin vor allem darum, eine unterschiedliche Beziehung zum Land, zum Eigentum an Grund und Boden herauszuarbeiten. Für uns ist Land nicht so sehr ein Thema, denn wir sind keine agrikulturelle Gesellschaft. Die meisten Palästinenser sind agrikulturell geprägt. Sie wollen im Camp nichts anrühren, weil sie nicht das Gefühl haben, dass dies ihr Land ist. Sie haben das Gefühl, an ein permanentes Provisorium gekettet zu sein, sie glaubten damals zu großen Teilen noch fest an die Rückkehr auf ihren Besitz. Soll man also nach vierzig Jahren in einem Flüchtlingslager dort einen Baum pflanzen? Es würde die Umstände lebenswerter machen, aber es wäre wie eine Anerkennung des Provisoriums. AquabatJaber – PassingThrough war neu, weil 1948 darin das zentrale Thema war, nicht 1967. 1985, als wir gedreht haben, habe ich mich, glaube ich, noch nicht als Antizionist verstanden, vielleicht als Kritiker des Zionismus. Ich komme aus einer Flüchtlingsfamilie, die Großeltern starben in der Schoah, meine Eltern gingen aus Polen nach Uruguay und später nach Israel. Ich konnte die Stimmung von Flüchtlingen offensichtlich leicht verstehen. Aber diese Beziehung ist in Israel gekappt, denn das Ich und die Anderen werden auseinandergenommen wegen dieses Exzeptionalismus, der aus der Schoah abgeleitet wird. Mich hat bei Aquabat Jaber – Passing Through interessiert: Wie sieht ein Tag im Leben der Flüchtlinge aus? Sie wollen die Zeit vergehen sehen bis zu ihrer Rückkehr, von der sie nicht ablassen wollten. Der Film wird mit jedem Jahr aktueller, denn was ist Gaza anderes als ein Flüchtlingslager für 80 Prozent seiner Bevölkerung? Zweitens ging es mir um die Funktion von Erinnerung.
Dieses Thema griffen Sie 1990 in Izkor wieder auf, der den Untertitel «Sklaven der Erinnerung» trägt.
Das Ende von Izkor, in dem ich mich mit der Rolle des Holocaust in der israelischen Schulpolitik beschäftige, zeigt diese 18jährigen Jugendlichen, die stolz bekennen, dass sie für die Freiheit von Israel sterben würden. Das ist das Ergebnis der Indoktrination: Junge Menschen, die bereitwillig an Kriegsverbrechen teilnehmen und Repression mitmachen,weil sie mit einem übermächtigen Opfergedanken großgeworden sind. Sie sind immer schon gerechtfertigt, weil sie Opfer sind. Dieses System ist kohärent und bequem. Immer wenn ich nach Deutschland komme, kommt mir das komplementäre Phänomen wieder unter: Wir sind die Schlechten. Das ist ebenso bequem, weil es auf Generalisierung aufbaut. In Israel hat neulich ein großer Leitartikler einen offenen Brief an Netanjahu geschrieben: «Unser Auschwitz-Kredit ist fast aufgebraucht.» In einer deutschen Zeitung würde dieser Gedanke immer noch als antisemitisch gelten.
Bei Izkor müssen wir an einen neueren Film denken: Defamation von Yoav Shamir, in dem es um ganz ähnliche Fragen geht. Der Höhepunkt ist die Reise einer Schulklasse nach Auschwitz – junge Menschen suchen ein wenig ratlos nach Tränen, weinen am Ende aber dann doch über das Schicksal der Juden, und man bekommt unweigerlich den Eindruck einer gewissen Autosuggestion.
Ich habe Defamation nicht gesehen, aber Izkor hat ihn nach Shamirs eigenen Angaben inspiriert. Mein Film wurde zu einem Ausgangspunkt für vieles.
Israel begreift sich als Staat, der auf einem Genozid gründet, und leitet daraus ab, ein besonderer Staat zu sein.
Korrigiere: es gründet auf einem Genozid von Europäern. Es gibt viele Staaten, die auf einem Genozid beruhen, aber dieser war klinischer und perfekter, auch wenn zum Beispiel der Genozid in Ruanda viel «perfekter» war, weil er enorme Opfer in ganz kurzer Zeit gefordert hat, aber das Töten dort war «barbarischer», man verwendete Macheten statt Gas.
In ihrem Dokumentarfilm Route 181, den sie 2002 gemeinsam mit dem palästinensischen Kollegen Michel Khleifi veröffentlichten, zeigen sie den Alltag an den Grenzen dieses Staates. Der Eindruck, der dabei entsteht, ist der eines permanenten Kriegszustandes seit 1947, als diese Grenzen in einem UNO-Beschluss 181 festgelegt wurden.
Natürlich, das stimmt. Die Existenz von Israel beruht auf diesem Zustand. Friede wäre das gefährlichste für Israel, denn es würde zu einem normalen Zusammenleben nötigen, zum Zusammenleben mit Arabern und Palästinensern unter Bedingungen von Gleichheit und nicht unter den Bedingungen existenzieller Bedrohung.
Gab es, als sie Aquabat Jaber und Izkor machten, Kontakt zu den «neuen Historikern» in Israel, zu Leuten wie Tom Segev oder Benny Morris, die eine ähnliche Zielrichtung mit ihren Büchern verfolgten?
Das verlief parallel. Als Segev The Seventh Million über den Holocaust und den Staat Israel schrieb, war Izkor fest fertig. Wir trafen uns, und ich gab ihm viel Material. Es war die Zeit, in der Shimon Peres den ganzen Diskurs um die atomare Bewaffnung Israels führte – um ein neues Auschwitz zu «verhindern». 1987 kam Aquabat Jaber heraus, zugleich veröffentlichte Benny Morris The Birth of the Palestinian Refugee Problem, eine genaue Rekonstruktion der Ereignisse von 1948. Aber erst der Libanonkrieg eröffnete die Möglichkeit einer Revision. Man ging nach der Kritik an den Massakern in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatila wieder in die Archive. Das lag daran, dass es ein dummer Krieg war. Bis 1982 führte Israel immer «wars of nonchoice», also Kriege, bei denen es keine Wahl hatte. So wurden wir erzogen. Mit dem Libanonkrieg wurde das anders, darüber wurde gestritten. Benny Morris traf ich damals, mit Tom Segev hatte ich enge Beziehungen. Er war einer der wenigen Unterstützer von Izkor, denn der Film wurde von einer linken Regierung verboten mit dem Argument, dass es keine Genehmigung für die Dreharbeiten in den Schulen gegeben habe. Deswegen durfte er in keiner Institution gezeigt werden, für die das Ministerium für Kultur und Unterricht (das war damals eine Behörde) zuständig war, und das betraf auch die Kinos. Izkor hatte dann eine große Samisdat-Präsenz. Sehr viele Lehrerkandidaten sahen ihn, es ist ein sehr bekannter Film geworden. Sie sind ein wenig älter als ich, aber die Soldaten von 1982 bilden den Kern dieser Generation.
Segev und Morris provozierten in Israel einen Historikerstreit, so wie es in Deutschland in den 80er Jahren auch einen Historikerstreit gab, und im Grunde könnte man den Streit, der zwischen Ihnen und Claude Lanzmann um Route 181 entbrannte, auch als einen Historikerstreit sehen. Es geht in allen Fällen um die Einzigartigkeit der Schoah, und um die Konsequenzen, die man aus dieser Feststellung zieht.
Das ist eine schöne Idee, das so parallel zu sehen. Lanzmann und ich – da fallen zwei Dinge zusammen. Eine Kinodebatte überdeckt eine politische Debatte und umgekehrt. Eine Debatte übrigens, die es nie gab. Sie wurde nie direkt geführt. Es beginnt 1990 mit Izkor – Sklaven der Erinnerung. Lanzmann hat sich über diesen Film sehr empört. Er beanspruchte das Recht, darauf zu reagieren, zu antworten. Lanzmann sah, dass in Izkor eine Bedrohung seines Films Shoah liegt, denn das ist nicht nur ein großer Film, sondern ein Mittelstück zwischen Pourquoi Israel und Tsahal, und damit ein politisches Statement. Shoah wurde mit Geld gedreht, das Menachem Begin für den Nobelpreis bekam, und es gab auch viel deutsches Geld dafür, das inoffiziell floss. Was zwischen uns in Frage steht, betrifft eigentlich zwei Dinge: Die Unmöglichkeit der Repräsentation von Auschwitz, das ist die Frage nach der Heiligkeit, nach der Exzeptionalität eines Ereignisses, für das es keine Mittel der Darstellung gibt. Für ein außergewöhnliches Verbrechen braucht es einen außergewöhnlichen Film, der so außerhalb der Ordnung steht wie der Vorgang der Schoah selbst. Für mich sind Juden normale Menschen, für Lanzmann sind sie, wegen ihres besonderen Leidens, etwas Besonderes. Es geht also ständig um Exzeptionalität und die (Un-)Möglichkeit, diese zu repräsentieren. Es gab aber keine Debatte, denn Politik und Kino laufen immer durcheinander.
Interessant ist dabei, dass sich im deutschen Historikerstreit ja die Position derer durchgesetzt hat, die auch auf der Exzeptionalität des Holocaust bestanden – gegenüber der Rhetorik von Ernst Nolte, der den größeren Zusammenhang eines Weltbürgerkriegs konstruieren wollte.
Es kommt auch in erster Linie darauf an, was man aus dieser Exzeptionalität macht. Lanzmann steht in einer Perspektive des Zionismus. Mit Shoah macht er Politik. Uns hat man in der Schule beigebracht, dass es gute Juden gab und schlechte. Die guten Juden leisteten Widerstand, die schlechten gingen wie Schafe zur Schlachtbank. Das Schulbuch. Lanzmanns Film endet wie Schindlers Liste: am Ende steht der Widerstand, der Kibbuz. Wenn du nicht Widerstand leistest, dann bist du ein Kollaborateur. In Tsahal, den er nach Shoah gemacht hat, geht es sehr lange um den Panzer. Der Panzer ist die offensive Gaskammer, die Gaskammer, die kämpfen kann. Man kann darin verbrennen. Als ich in einem Panzer saß, sagt jemand, konnte ich nicht atmen und habe nur nach meiner Mutter gerufen. Das Problem ist, dass Lanzmann der schlechteste Botschafter seines Films ist, wegen der Idee der Einzigartigkeit. Der Holocaust ist nicht nur einzigartig, weil er ein unvordenklich modernes, industrielles Verbrechen war, sondern weil er auch eine Einzigartigkeit schafft – deren Anspruch sich in Israel als Staat verwirklicht.
Er hat sie für Route 181 wegen verschiedener Szenen angegriffen. Eine betrifft einen palästinensischen Friseur in Lod. Während er Michel Khleifi die Haare schneidet, erzählt er von einem Massaker an Palästinensern in Lod während des Unabhängigkeitskriegs von 1948. Er berichtet von Vergewaltigungen, von einem «Ghetto» genannten Ortsteil, in dem die palästinensische Bevölkerung versammelt wurde, und davon, wie die israelischen Soldaten von ihm verlangten, die Leichen zu verbrennen. Die Szene endet mit einer Einstellung der Eisenbahnschienen in Lod und greift damit ein Motiv auf, das nicht nur in Shoah für die Deportationen der europäischen Jüdinnen und Juden in die Konzentrationslager steht. «Das Plagiat ganzer Sequenzen aus Shoah von Claude Lanzmann illustriert eine perverse und systematische Praxis, deren Logik die einer Umkehr der Opfer in Henker ist», hat ihnen damals Alain Finkielkraut vorgeworfen.
Der Angriff wegen der Friseurszene trifft mich nicht, denn wenn Lanzmann sagt, dass der palästinensische Friseur eine Fiktion ist, dann ist Lanzmanns Szene mit dem Friseur Abraham Bomba auch fiktional. Fiktional ist der Moment, in dem er sagt: Wir müssen sprechen, die Kamera zoomt, und Bomba beginnt zu weinen unter diesem Imperativ des Sprechens. Dieser Zoom ist die Fiktion. Das Paradox ist, wenn man über den Friseur aus Route 181 sagt, dass es dieses Massaker, von dem er spricht, nicht gegeben hat, dann hat es vielleicht Treblinka auch nicht gegeben.
Diese Szene in Lod war aber selbstverständlich als Anspielung beabsichtigt?
Natürlich. Aber es ging nicht darum, einen Gegenentwurf zu Shoah zu machen. Lanzmann hat immer gesagt, wir würden schon dadurch eindeutig zu erkennen geben, dass wir einen Gegenentwurf zu Shoah im Sinn hatten, dass Route 181 vier Stunden lang ist. Tatsächlich aber hat sich die Länge aus dem gedrehten Material ergeben. Zudem ist das Vorbild für unseren Film ein ganz anderes, und zwar schon im Titel offensichtlich: Route One von Robert Kramer. Bei Kramer befährt Doc, die Hauptfigur, diese Straße, die Route One. Unsere Route ist die Grenzziehung von 1948. Wir blicken zurück in die Vergangenheit, das macht Route One nicht. Wir hatten Shoah wirklich nicht im Sinn. Als wir nach Lod kamen, sahen die Menschen uns mit der Kamera, und man verwies uns an den Friseur. Dieser Ort wird Ghetto genannt, und zwar seit 1948 in Hebräisch. Erst in diesem Moment dachte ich an den Friseur von Lanzmann, und dann fiel mir ein, das so zu machen, wie es nun im Film zu sehen ist: Der Friseur von Lod schneidet Michel die Haare. Michel kannte die Szene aus Shoah nicht. Diese Szene ist möglich, weil wir von der Schoah wissen. Die beiden Friseure sind auf der selben Seite der Münze. Was wir gemacht haben, ist eigentlich eine Fortsetzung der Szene bei Lanzmann. Godard hat erst neulich gesagt, dass unser Problem ist, dass wir nicht zitieren. Man hat ihn dann gefragt, ob er auch immer die Autorenrechte einhält, und er hat gesagt: es gibt keine Autorenrechte, nur Autorenpflichten.
Auf einer etwas allgemeineren Ebene bleiben die Vergleiche in Route 181 aber problematisch. Sie bringen einen Wachturm ins Bild, der an ein Lager denken lässt – das Palästinensergebiet als Lager? Als Konzentrationslager?
Mein Begriff wäre nicht Vergleich, sondern Analogie. Analogische Erinnerung. Ich halte es für einen stupiden Diskurs, Israel mit den Nazis zu vergleichen. In dem Moment, in dem man ein System des Vergleichs etabliert, ist Arafat Hitler, Ahmadinedschad ist Hitler, Hamas sind Nazis, Israel ist faschistisch. Ich bin selbst ein Resultat dieser zionistischen Erziehung, die uns gelehrt hat, dass Auschwitz die Richterskala in historischen Belangen bildet. Man kann aber nicht sagen: es ist unmöglich zu vergleichen, denn das impliziert schon einen Vergleich. Vergleich aber produziert immer neue Vergleiche. Für mich steht Auschwitz am Ende eines Prozesses. Eine Reihe verschiedener Fehlentwicklungen, Entscheidungen für das Falsche, die zu etwas Schrecklichem geführt haben. Für mich ist nicht die Frage, warum Israel eine so falsche Politik macht. Es ist ein Staat wie jeder andere, er beruht auf ideologischer Erziehung, was kann man also groß erwarten? Für mich wird die Analogie an einer bestimmten Stelle relevant. Es gibt diese Szene in Izkor, in der die Soldaten bei der Ablegung ihres Eids gezeigt werden. Sie schwören unbedingten Gehorsam. Und das ist der Punkt, wo ich denke, dass – bei Berücksichtigung von Analogien – Israel ein Bewusstsein dafür haben sollte, dass dies ein Grundprinzip der Schoah war: Befehlsausübung und Delegierung von Verantwortung. Man hat mir gesagt, dass ich die israelischen Soldaten in dieser Szene «nazifiziere». Aber nicht ich stelle diese Analogie her, sie stellt sich ein.
Wo steht denn nun genau dieser Wachturm, der in Route 181 zu sehen ist?
Der Wachturm ist kein Wachturm. Das ist ein Modell einer zionistischen Siedlung aus den 30er Jahren. Lanzmann ist schockiert, weil ich so wie er einen Friseur zeige. Mich schockiert, dass zionistische Siedlungen wie Lager gebaut wurden. Mich schockiert, dass wir ein ganzes Land hinter einer Mauer einschließen, denn das ist der eigentliche Effekt: vollständige Abschließung. Mich schockiert, wenn Menschen ihr Tun auf Gehorsam aufbauen.
Wie fügt sich ihr Film über Eichmann in den größeren Zusammenhang ihres Werks? Ein Spezialist besteht aus einer Montage von Videobildern, die während des Eichmannprozesses in Jerusalem 1961 entstanden sind.
Der größte Erfolg des Films war in Japan, weil er dort nicht als Film über den Zweiten Weltkrieg und über den Genozid gesehen wurde. Dort hat eine große Zeitschrift geschrieben: Das ist ein Film über japanisches Management. Der Schrecken ist, dass Eichmann wie der Vorstandsvorsitzende einer großen Firma spricht. Ich sage damit nicht, dass die CEOs von multinationalen Konzernen Nazis sind. Auch hier hat man mir Vorwürfe gemacht – ich hätte den Bürokraten der Judenvernichtung als einen Gentleman erscheinen lassen. Für mich ist dieser Mann aber ein Horror, und das geht auch schon aus dem hervor, was er gesagt hat. Er spricht über Deportationen. Aber die Leute wollten ihn unbedingt dazu bringen, dass er über Morde spricht.
Man könnte den Eindruck haben, dass sie zumindest mit der Tonspur den Eindruck der Harmlosigkeit, den Eichmann verbreiten möchte, zu zerstreuen versuchen. Der Sound von Ein Spezialist wirkt wie eine nachträglich dann doch notwendige Dämonisierung der von Hannah Arendt befundenen und von ihnen bekräftigten Banalität. Sind Sie mit diesem Soundtrack immer noch zufrieden?
Ja, ich bin immer noch zufrieden damit. Es geht darum, wie man das Archiv auf die Bühne bringt. Natürlich ist der Ton anfechtbar. Er etabliert eine Opernstruktur, er orchestriert das Material, er trägt zu seiner Dramatisierung bei – ging das zu weit? Ich kenne diese Kritik. Man sprach von Fiktionalisierung, die auch durch den Soundtrack kam. Aber die Fiktionalisierung kam aus dem Archiv.
Eine Fiktionalisierung, die dann durchaus ähnlich auch in ihrem Stasifilm Aus Liebe zum Volk auftaucht, zu dem es eine Stimme aus dem Off gibt, die den Überwachungsaufnahmen eine subjektive Perspektive gibt.
Axel Prahl hat das in den Korridoren des Gebäudes in der Normannenstraße eingespielt, wo das Ministerium für Staatssicherheit gesessen hat. Das ist natürlich eine Fiktion. Das ist die Lektion von Nuit et Brouillard: es muss nach dem Verbrechen erst wieder eine Beziehung zur Realität geschaffen werden. Wir wissen, dass wir nicht live beim Eichmann-Prozess sind, sondern dass wir einen Film darüber sehen. Lanzmann glaubt zutiefst, dass Shoah ein dokumentarisches Monument ist. Wenn er Bilder aus der Gaskammer gefunden hätte, würde er sie vernichten. Er glaubt an eine Heiligkeit der Bilder, an die ich nicht glaube. Eichmann bekommt Bilder aus den Lagern vorgeführt, er entdeckt das Bild von etwas, auf das er nur eine bürokratische, distanzierte Perspektive hatte. Er sah einen fiktionalisierten Film wie ein reines Dokument. Das versucht Lanzmann zu etablieren: das absolute Dokument, nicht eine Perspektive.
In Deutschland ist nun gerade ein Buch herausgekommen, das eine sehr kritische Perspektive auf den Staat Israel als «Ethnokratie» einnimmt. Shlomo Sand beschreibt in Die Erfindung des jüdischen Volkes, dass die ethnische Kontinuität der jüdischen Identität seit den Tagen der Diaspora, die mit der Schleifung des zweiten Tempels durch Titus im Jahr 70 begonnen hat, eine historische Konstruktion sei. Eine der größten Provokationen in dem aus vielen guten Gründen umstrittenen Buch ist, dass die Fellachen, die heute als Palästinenser in den Flüchtlingslagern leben, nach Meinung von Sand ethnische Juden sein könnten, die aber nach der Invasion der Araber zum Islam konvertierten.
Sand hat die Ehrlichkeit, zu sagen, dass er eigentlich nichts Neues schreibt, sondern nur Dinge zusammenträgt, die schon bekannt sein sollten. Dahinter steht die postlinke Diskussion darüber, ob es überhaupt ein Volk Israel gibt oder nicht. Sand erreicht einen postsäkularen Moment: Aus Religion wird eine Nation, die sich nach ethnischen Kriterien abschließt und einen Staat für sich beansprucht, der nicht allen Bürgern die gleichen Bürgerrechte gewährt.
Vor diesem Hintergrund nun aber doch noch die Essentialismusfrage: In welcher Hinsicht fühlen sie sich persönlich als Jude?
Teil der Geschichte des Judentums ist auch das Privileg, nicht die Macht ergreifen zu müssen. Der einzige Moment eines jüdischen Nationalismus, der mich interessiert, sind die Tannaim, das war eine rabbinische Gruppe, die in permanenter Verhandlungsopposition gegen Machtbeziehungen im Römischen Reich stand. Das ist ein Element meiner jüdischen Identität. Das andere ist die messianische Idee. Ich lese Benjamin als sehr jüdisch. Der Messias wird kommen. Die ständige Befragung von Macht, auch von Bildern der Macht, das ist meine jüdische Identität.
Woran werden Sie den Messias erkennen?
Wir werden ihn erkennen, wenn wir das Bild sehen und nicht das Imaginäre. Wenn wir nicht projizieren.
Mit Eyal Sivan sprachen Bert Rebhandl und Simon Rothöhler