Sinnsuspendierer Momentaufnahme plus Methode als Hybrid: Zur ersten vollständigen deutschen Ausgabe von Roland Barthes’ Mythen des Alltags
Roland Barthes und das Kino: ein schwieriges Verhältnis. In einem berühmten Interview (mit Michel Delahaye und Jacques Rivette, kurz nach Rivettes Machtübernahme bei den Cahiers, September 1963): «Ich gehe nicht oft ins Kino, einmal die Woche vielleicht.» Dies «nicht oft» war durchaus ernst gemeint. Barthes war kein Cinephiler, und wenn er etwas liebte (und bei Barthes heißt lieben stets: fetischisieren), dann das Kino, kaum den einzelnen Film. Seinen kurzen Text «Zum Verlassen des Kinos» beginnt er mit dem Satz: «Es gilt zuzugeben: der hier Sprechende liebt es, das Kino zu verlassen.» Im folgenden beschreibt er, dass er das Kino aufsucht, um sich darin in einen erotisch aufgeladenen quasi-hypnotischen Zustand versetzen zu lassen, der die noch größere Lust, die ihm das Verlassen bereitet, möglich macht: «still, kein Interesse, den Film gleich zu diskutieren, etwas betäubt, in mich selbst gehüllt». Darum gilt: «Wenn ich das Wort Kino höre, denke ich unwillkürlich an Saal, nicht an Film.»
Im Gespräch mit Delahaye und Rivette begibt Barthes sich auf die Suche nach einer strukturalistischen Beschreibung des Kinos; eher widerwillig, denkt man, vieles bleibt ein wenig vage, schwer verständlich – und entspricht genau damit sicherlich den Erwartungen der Interviewer, denen das Kino allein nicht mehr genügte, weshalb sie die Cahiers zu diesem Zeitpunkt programmatisch (gegen den Konservativen Rohmer) für die Theorie und ihre Abstraktionen öffnen wollen. Also geht es um die mögliche Anwendung des Strukturalismus auf den Film, eine Forschung, die, wie Barthes gleich zugibt, am Anfang steht: «In Anwendung strukturalistischer Methoden müsste man filmische Elemente isolieren und sehen, wie sie verstanden werden, welchen Signifikaten sie in diesem oder jenem Fall «entsprechen» und, indem man sie variiert, prüfen, in welchem Moment der Variation des Signifikanten eine Variation des Signifikats erfolgt» (übersetzt von Hanns Zischler für den deutschen Nachdruck des Interviews in der Filmkritik, April 1977). Aus diesem Anfang wurde bei Barthes, einem glücklichen Liebhaber ausführlich skizzierter, aber zur Methode dann doch nicht ausgearbeiteter Systematiken, nichts mehr weiter – stattdessen: großer Auftritt Christian Metz, die 70er Jahre.
In Sachen Skizze und Systematik sind Barthes «Mythologien» (um die es hier gehen soll) ein seltsamer Fall. Ihre Form: Momentaufnahme plus Methode als Hybrid. Drei Viertel des Texts, wie er im 1957 erschienenen Buch steht (in der gekürzten Erstübersetzung von 1964 verwandelte sich das in ein Verhältnis von fifty-fifty), sind für die Zeitschrift Lettres Nouvelles aus Tagesanlass entstandene Einzeluntersuchungen von Phänomenen. Im Anschluss daran kommt der Methodenteil, ein seltsames «Plus», eine nachgeschobene Systematik, Fundament oder Pseudo-Fundament für das, was voranging: voilà, dies wird meine Theorie gewesen sein. Barthes erklärt unter der Überschrift «Der Mythos heute» die Methode seiner Lektüren (als wäre es eine gewesen), entwirft, sichtlich nachträglich, eine strikt strukturalistische Zeichentheorie zur übrigens recht orthodoxen Ideologiekritik der Gesellschaft. Er systematisiert, er bringt eine etwas gezwungene Ordnung ins zuvor schön Zerstreute, macht, was sich an Phänomenen der französischen Gegenwart entzündet hatte, zu einer Methode, für die nun allerdings Gesellschaftstheorie ein sehr großes Wort wäre.
Immer historisieren
Die im Theorieteil entwickelte Semiologie des Mythos ist eine Art Variation auf die Hegelianische Dialektik von Einzelnem und Allgemeinem (aber, versteht sich, gegen Hegel, bei dem immer das Allgemeine gewinnt). Der Mythos, wie Barthes ihn begreift, naturalisiert das gesellschaftlich Gemachte, er raubt dem Zeichen die Fülle – oder auch Leere: jedenfalls raubt er, entstellt, verbaut Wege, lässt das Zeichen, die Dinge verarmen, macht sie allzu leicht lesbar. Der eine Imperativ für den Entzifferer der Mythen, der das Potenzial des Signifikanten wiederherstellt, lautet dann: Gib dem scheinbar Natürlichen seine Kontingenz, seinen Kontext zurück, «always historicize!». Es ist völlig okay, Barthes hier das viel spätere Kampfwort Fredric Jamesons unterzuschieben. Spätestens über den kurzen Umweg Jameson wird einem klar, wie nah Roland Barthes hier der Frankfurter Schule steht, besonders Adorno. Daneben, dazwischen (merkwürdiges plus) schon der Zug zur poststrukturalistischen Pointe, ein Plädoyer für das Literale, für das Stehen lassen des Signifikanten, gegen seine Subsumtion unter irgend ein Signifikat, einen Sinn, der es festlegt. Im Cahiers-Interview findet sich dieser Zug dann schon deutlicher: «Ich glaube, daß der Film es schwer hat, einen klaren Sinn zu produzieren und daß er dies beim heutigen Stand der Dinge auch nicht sollte. Die besten Filme sind (für mich) jene, die den Sinn am besten suspendieren.» Als Beispiel: Buñuels Würgeengel. Der Name Antonioni fällt erst im vorletzten Satz: «So zwiespältig die Kunst Antonionis ist, vielleicht berührt sie uns gerade deshalb und erscheint uns bedeutsam.»
Das Kino hat in den «Mythologien» einige Auftritte. Nicht sehr viele, es dominiert, was die Künste angeht, das Theater. Als Schreckbild in seiner bürgerlichen Form. Welch große Lust Barthes aber daran hat, das Catchen als zeitgenössische, ehrlichere Form des Theaters zu analysieren und dadurch zu adeln! Durch genaueste Kenntnis besticht auch «Die Tour de France als Epos», da liefert Barthes – weniger episch als wiederum theatral – im Anhang eine hinreißende Auftrittstypologie der einzelnen Fahrer: «KÜBLER, genannt Ferdi oder der Adler des Adziwil – Eckig, schlaksig, trocken und launisch, gehört Kübler zum Thema des Galvanischen. Sein jump scheint manchmal etwas Künstliches zu haben (nimmt er Drogen?).» Beide Texte, der zum Catchen und der zur Tour, waren wie manch anderer der reizvollsten Artikel (wie etwa «Minou Drouet und die Literatur» oder «Der vom Streik betroffene Bürger» oder «Romane und Kinder») in der deutschen Erstübersetzung weggelassen. Für zu datiert, zu spezifisch französisch hielt man das wohl. Als wäre nicht die Idee, nur das Exemplarische auszuwählen, selbst schon sehr mythologisch – man braucht den ganzen Barthes nicht, wenn man in der Auswahl nur die «Barthesität» einfängt.
Zurück zum Kino. Der Text zum «Gesicht der Garbo» war bekannt. Bezeichnend ist er insofern, als Barthes (nicht nur) in den Mythen des Alltags dem Kino sich eigentlich immer über die Stillstellung nähert. Sein theoretischer Zugriff produziert freeze frames und macht in den so ins Medium der Fotografie geholten Bildern dann etwas sichtbar. Das Bewegtbild wird unbewegt – entweder, indem Barthes es (in «Vom Verlassen des Kinos») zum hypnotisierenden Bild-Lichtstrom fetischisiert, «zusammenwachsend (Signifikant und Signifkat verschmolzen), analog, total, prägnant», oder indem er zum Deuter von Stills wird (exemplarisch: «Der dritte Sinn», in dem er Einzelbilder von Eisensteins Iwan, der Schreckliche untersucht). In Roland Barthes über Roland Barthes benennt er ausdrücklich seinen «Widerstand gegen das Kino»: «unablässiges Kontinuum der Bilder … wie ein geschwätziges Band: gesetzlich verankerte Unmöglichkeit des Fragments, des Haikus». Es macht ihn sehr ungehalten, das Kino, weil es sich im Kinosaal nicht anhalten lässt. So richtig produktiv wird dieser Widerstand aber nicht. Über die Filme selbst erfährt und lernt man bei Barthes, anders als über sein Verhältnis zum Kino, recht wenig.
Kurz zurück zu den Mythen. Aus der Perspektive des Kinos neu zu entdecken sind darin vor allem zwei Texte. Zum einen «Ein sympathischer Arbeiter», über Elia Kazans Film On the Waterfront, der strikt ideologiekritisch gelesen wird als Versuch einer Impfung des Zuschauers gegen wahre Gesellschaftskritik durch Pseudokritik. Und dann, sehr kurz und sehr schön, die Skizze «Gewalt und Lässigkeit» über die Gesten, die «lässigen Gesten» im französischen Gangsterfilm. Ohne größeren philosophischen oder ideologiekritischen Anspruch steht dieser Text als bescheidener Anhalter auf einem der vielen Wege, die zu Godards Ausser Atem geführt haben. Als aus dem Vergessen wieder aufgetauchten Zeitzeugen drucken wir ihn mit freundlicher Genehmigung ab.