Berliner Weltkino? Ein Blick aus Nordamerika
I. Der Verkehr der Filme
Eigentlich sollte dieser Essay einfach eine Auseinandersetzung mit vier deutschen Filmen aus diesem Jahr werden, von denen drei ihre Uraufführung bei der Berlinale erlebten, einer etwas später in Cannes. Einfach nur über diese Filme sprechen. Alle kommen sie von wichtigen Filmemachern, zwei von ihnen rund zehn Jahre älter als die anderen beiden. Die zwei jüngeren Regisseure sind zugleich Mitherausgeber einer bekannten deutschen Filmzeitschrift. Es gibt so manche Gemeinsamkeit im Herangehen zwischen den älteren und den jüngeren. Ich wollte Etiketten vermeiden, auch wenn ich damit eine gewisse strategische Naivität vorschützen müsste. Als ich aber gerade dabei war, den Essay fertigzustellen, passierte etwas, das mir sehr deutlich machte, warum eine solche Schüchternheit auf nicht weniger als einseitige Abrüstung hinausliefe.
Es mangelt in den USA an Gelegenheiten, bei denen man sich einen Überblick über den Stand des Kinos der Welt verschaffen könnte. Weil es kaum Subventionen gibt, läuft es auf eine sehr geringe Zahl von Filmfestivals hinaus, die die Agenda fürs «Arthouse-Kino» der je nächsten ein bis zwei Jahre bestimmen. Und die Zugänge zu diesen profilierten Festivals mit Überblickscharakter hält man mit Absicht enger als den Panama-Kanal. Ja, es wird auch noch Zoll erhoben am Wegesrand. Festivalauswahlgremien, Verkaufsagenten, Verleiher und Produzenten bestimmen unter sich, welche Filme am besten geeignet sind für Events, bei denen das Geschäft im Mittelpunkt steht, während gleichzeitig ein Bild der Kultur dabei propagiert wird, und zwar eins, das das Erwartbare und Kontrollierbare präferiert. Manche der Festivals, am prominentesten die in New York und Vancouver, entgehen der Falle, indem sie gleich darauf verzichten, Filme vor Ort und Stelle auch noch zu «verkaufen». Weil sie großzügige Sponsoren haben und sehr engagierte Unterstützer vor Ort, können sie sich mehr oder weniger auf der Seite der Kunst positionieren. Sundance und Toronto geht es im Gegensatz dazu um die Macht.
Es ist nur zu verständlich, dass Filmemacher und Kritiker das Gerede von bestimmten Labels und «Bewegungen» und Pseudo-«Schulen» und allerlei anderem der Faulheit der Schreiber geschuldeten Zeug nicht mehr hören können. Barnett Newmans alter Witz, dass ästhetische Etikettierungen für die Künstler so interessant sind «wie Ornithologie für die Vögel», wird umso wahrer, je flacher und geschichtsloser die gewählten Labels sind. Zugleich habe ich mich gefragt, was es eigentlich bringen soll, so zu tun, als betrachtete niemand Thomas Arslan, Angela Schanelec, Benjamin Heisenberg und Christoph Hochhäusler als Vertreter einer neuen gemeinsamen Kraft des deutschen Kinos, selbst wenn man sich darauf einigt, dass der Begriff «Berliner Schule» in mancher Hinsicht vereinfacht und in die Irre führt. Seit heute, dem 25. August 2010, ist das Programm des diesjährigen Filmfestivals von Toronto – des wichtigsten Filmfestivals auf dem Kontinent – vollständig bekannt. Weil sie so scharf auf Premieren sind, war schon klar, dass die TIFF-Mächtigen weder Heisenbergs Der Räuber noch Schanelecs Orly auswählen würden – beide Filme sind bereits bei anderen Festivals in Nordamerika zu sehen gewesen. (Umso erfreulicher, dass das NYFF Heisenbergs Film trotzdem zeigt, genauso wie sie im letzten Jahr Maren Ades schönen Alle Anderen ins Programm nahmen.)
Aber kein Film ist auf der Berlinale, so weit ich das von hier mitbekommen habe, in der Breite so freundlich aufgenommen worden wie Thomas Arslans Im Schatten. Man hat ihn als künstlerischen Durchbruch betrachtet und in seiner rückhaltlosen Annäherung ans Kriminalgenre auch als einen Schritt von der «Strenge» der Berliner Schule hin zu einer größeren Zugänglichkeit. Hochhäuslers Unter dir die Stadt bekam in Cannes, zugegeben, eher gemischte Kritiken, und während ich ihn als Beinahe-Meisterwerk betrachte (mehr dazu später), ist mir klar, dass es sich um einen objektiv polarisierenden Film handelt. ImSchatten jedoch, der in den USA noch nirgends zu sehen war, ist eine andere Geschichte und ich weiß nicht, wie ich das höflich formulieren soll: Es gibt wirklich keinen vernünftigen Grund, warum der Film nicht in Toronto laufen sollte. Und genau genommen lässt sich auch die Auslassung von Unter dir die Stadtnicht rechtfertigen, nimmt man das Festivals in seinem Ehrgeiz zu möglichst umfassender Präsentation beim Wort.
Es kommt dazu, dass Toronto in diesem Jahr nur drei deutsche Filme zeigt (zählt man die Europudding-Co-Pros nicht dazu). Und einer davon ist vom Regisseur von Vier Minuten! Dabei kann, wer will, nun wirklich wissen, dass seit rund zwei Jahrzehnten Wichtiges im deutschen Kino passiert. Ein Teil der deutschen Film-Intelligentsia kann es schon nicht mehr hören. Hier bei uns jedoch geht es noch darum, der Einflusselite überhaupt einmal klarzumachen, dass das deutsche Kino nicht aus Bernd Eichinger und endlosen Wiederaufführungen des Dritten Reichs besteht. Und deshalb gebe ich meinem Kollegen Marco Abel recht, dass der Einsatz von Gruppenbezeichnungen, so sehr er die Beteiligten nervt, seine taktische Berechtigung hat. In einem vernünftigeren Umfeld könnte man auf das Etikett «Berliner Schule» verzichten. In den USA jedoch begegnet man diesen Filmen noch immer mit weitreichendem Desinteresse, wenn nicht gar mit Feindseligkeit. Und zwar aus Gründen, die nur für diese Filme sprechen: Sie sind nicht ohne weiteres der existierenden Machtbasis des Kinos assimilierbar.
II. Bewegungen im Raum
Jeder der vier aktuellen Filme bedeutet eine signifikante Wendung im Werk des jeweiligen Filmemachers und auch der «Schule» (als heuristisches Konstrukt genommen). Die konkreten, historischen Beziehungen, die gemeinsamen Ausgangspunkte von Schanelec, Arslan, Heisenberg und Hochhäusler scheinen mir unübersehbar. Meine These wäre, dass eine zentrale Gemeinsamkeit dabei in einer bestimmten Philosophie des Raums besteht – und zwar verstanden als konkrete Beziehung zwischen dem filmischen und narrativen Raum sowie den Räumen, die das städtische und vorstädtische Deutschland und seine Grenzen definieren. Und ich würde sagen: Diese Philosophie des Raums hat sich, wie die jüngeren Filme zeigen, entwickelt, und zwar der Tendenz nach verfeinert. (Das gilt im übrigen auch für die letzten Filme von Christian Petzold.) Bewegung, als Versuch, Grenzen zu übertreten oder die vom Raum gesetzten Begrenzungen zu konfrontieren, wird in einigen der Filme nun ausdrücklicher zum Thema. Ich sehe ein größeres Maß an Rastlosigkeit und zugleich eine Zunahme der Hindernisse, denen sich die Protagonisten beim Versuch, sich durch eine unsichere physische Welt zu bewegen, ausgesetzt sehen. (Diese Insistenz, dieses Widerständigwerden von Räumen und Umgebungen ist das direkte Gegenteil des größten Teils des kommerziellen Kinos, das seine Schauplätze als neutrale Container für Handlung und Action betrachtet, als narrativen Golfplatz, den man von Loch zu Loch runterspielt.)
Unübersehbar ist das in Der Räuber, Benjamin Heisenbergs (und Martin Prinz’) Version der Geschichte von Johann Kastenberger (Rettenberger im Film). Konsequent geht es darin – nicht untypisch für die «Berliner Schule» – um harte Oberflächen und physische Gesten eher als um Psychologie. Im Vergleich beschleunigt Der Räuber diesen Aspekt aber noch einmal, teilweise buchstäblich, indem er sich einer so erstmals zu beobachtenden Atmosphäre anfallsartiger Kinetik überlässt. Was natürlich nur zu gut passt zu einer Geschichte über einen Marathon-Champion, der auch ein Solo-Schnell-Rein-und-Schnell-Wieder-Raus-Bankräuber ist. Um Geschwindigkeit und nichts anderes geht es. Heisenberg konstruiert seinen Film aber als Serie in sich geschlossener, fast antidialektischer Szenarien, die sich alle um die Überwindung von Hindernissen drehen. Zwar gibt es ein gewisses Maß an sozialem Kontext – Fernsehkommentatoren, die bei seinem Marathonsieg seine «inspirierende» Geschichte erzählen, die wiederkehrenden Aufdringlichkeiten seines Bewährungshelfers als Stimme des liberalen Gewissens; die Gesamtstruktur von Der Räuber widerstrebt jedoch vehement jedem Versuch einer solchen Schließung. Wir springen von gesellschaftlich akzeptierter Sporttätigkeit in scharfen Schnitten ins Kriminelle und nur die tiefliegenden Augen von Andreas Lust vermitteln dabei den Eindruck des Zusammenhangs der einen Person mit der anderen. Am ehesten scheint es, als «gebe» es Rettenberger nur und gerade in diesem Hunger nach Vortrieb, der etwas wie die Sehnsucht danach zu sein scheint, sich selbst hinter sich lassen zu können. Eine Art Nietzscheanischer Wille zur Desintegration – und Heisenberg vermittelt seinem Publikum diesen Vortrieb als sinnliches Erlebnis zweiter Ordnung. (Eine irre Sequenz, in der der Räuber der Polizei durch ein Gebäude inmitten der Stadt entkommt, grenzt an Parkour, aber schon die Subjektiven vor dem Überfall, in denen er im gestohlenen Wagen mit brülllautem Radio durch die Straßen rast, lassen einen den puren Thrill von Rettenbergers schwindelerregender Nicht-Existenz spüren). Allerdings sind Heisenberg und Prinz, was ihnen hoch anzurechnen ist, klug genug, im letzten Drittel zur Welt der Menschen zurückzukehren, indem sie Rettenbergers Anrennen gegen die Körperlichkeit brutal stoppen. Er selbst wird sich zur finalen Hürde, und das ist die, über die keiner von uns drüber kommt. Heisenbergs Film dreht sich letztlich um ein Sich-Zurückziehen, nicht um die Eroberung von Distanzen. Es gibt einen Grund, warum er – auch wenn man anderes erwarten könnte – nicht «Der Läufer» heißt.
Die Darstellung des kinematischen und soziopolitischen Raums in jüngeren Filmen der «Berliner Schule» bestand häufig in der präzisen visuellen und theoretischen Bearbeitung dessen, was der Anthropologe Marc Augé auf den berühmten Begriff des «Nicht-Orts» gebracht hat. Das betrifft nicht nur die notorisch verdächtigen Lokalitäten wie Autobahnen und Flughäfen, sondern auch die Niemandsländer der Vorstädte sowie die Räume zwischen diesen Nicht-Orten. Am besten exemplifizieren das die letzten Filme von Christian Petzold, mit ihrem Fokus auf Bewegungen durch Netzwerke als fundamentale Bedingung des Lebens sowohl in der globalisierten/neoliberalen ökonomischen Sphäre als auch, spezifischer, im Nach-Wiedervereinigungs-Osten. In weniger offensichtlicher Weise behandeln aber auch frühere Arbeiten von Hochhäusler, Ade, Ulrich Köhler und anderen die Vervorstädterung als Ausweitung eines Niemandslands, in dem man keine Wurzeln schlagen und keine sinnvollen sozialen Beziehungen aufbauen kann. Angela Schanelecs beste Arbeiten, Nachmittagetwa, sind Teil dieser klugen kritischen Untersuchungen. Ihr jüngster Film Orly aber erweist sich, so leid es mir tut, als törichte Literalisierung eines solchen «Lebens im Transit», und ist darum ein völliger Fehlschlag.
Orly ist eine deutsch-französische Koproduktion, besteht aus dreieinhalb Dialogszenen und spielt, der Titel verrät es, im titelgebenden Flughafen. Schanelec wählte die ungewöhnliche und riskante Option, ihre Szenen inmitten des normalen Betriebs ohne jede Absperrung zu drehen; man muss ihr zugutehalten, dass sie die von ihr gewohnte formale Kontrolle behält und nicht in einen Handkamera-Dogmatismus rutscht. Schanelecs Dialoge jedoch, die als im Prinzip von der Situation lösbare Kurzgeschichten funktionieren, sind entschieden preziös und damit geradezu exemplarisch für das, was Truffaut & Co. als unfilmisches In-Szene-Setzen eines Stoffs kritisiert haben. Freunde von Schauspieler-Schauspielerei mögen ihre Freude daran haben, wie Natacha Régnier und Bruno Todeschini sich bei ihrem zögerlichen Midlife-Flirt ins Zeug legen, der freilich so grob geschliffen scheint wie ein Hochzeitsdiamant aus dem Kaufhausregal. In früheren Filmen war Schanelec schmerzhaft präzise in ihrer Wiedergabe empfindlichster Momente menschlicher Interaktion und fand dabei stets noch Raum für das Unerwartete. Orly wird seine Freunde finden – er ist nicht richtig schlecht, nehme ich an – , aber es ist die Sorte wohlerzogener, dialoglastiger Arthouse-Film, die jede Menge anderer Regisseure ganz ähnlich gemacht haben könnten.
Im Schatten dagegen ist ein Film, der nur von Thomas Arslan stammen kann. Und das, obwohl er in eine ganz andere Richtung geht als der Vorgänger Ferien, der seinerseits schon, indem er mit professionellen Darstellern gedreht war, eine Wendung im Werk des Regisseurs bedeutete. Im Schatten ist ein Durchbruch für Arslan. Meisterhaft, zugleich struppig, extrem straff, aber nicht ohne ein signifikantes Maß an Zweideutigkeit, ganz dem Kriminal- bzw. Gangstergenre verpflichtet, aber doch mit einer leichten Distanz zu den traditionell damit verbundenen Mustern. Obwohl mir persönlich das Frühwerk mit seinen nachdenklicheren Tönen näher steht, erstarrt der Dialektiker in mir doch in Ehrfurcht vor Arslans Leistung. Er hat ein Werk geschaffen, das, poliert und vakuumverpackt wie es ist, als eine Art Spiegel für die Zuschauererwartung funktioniert. Auf der Ebene der reinen Unterhaltung ist ImSchatten dabei durchaus «slick», das aber ohne jedes Maß an Anbiederung.
Trojan (Mišel Maticevic, anstrengungslos charismatisch) kommt aus dem Knast, versucht eine alte Schuld einzutreiben und wird plötzlich selbst zum Gejagten. Ein korrupter Cop, eine Freundin auf Seiten der Staatsbürokratie, ein alter Partner, ein letzter Job … Keines dieser Elemente ist neu, aber Arslan orchestriert sie mit Ehrlichkeit und der Bereitschaft, alle Spielsteine mittels Tempo und Schnitt jederzeit ganz klar auf der Spielfläche sichtbar zu machen. Mitternachtsblaue Interieurs, schiefergraue Straßenfassaden und Trojans zerknittertes 70er-Jahre-Gebaren sind die visuell dominierenden Muster, ein zurückhaltend «realistischer» Stil und eine subtile Moll-Musikalität erzeugen einen Kontrast zum grimmigen Determinismus von Trojans Schicksal. (Zugleich zeigt auch Arslan reichlich Nicht-Orte. Der entscheidende Überfall findet statt auf dem leeren Parkplatz hinter einem IKEA-Laden, und eine ingeniöse Geldübergabe ereignet sich in einer Autowaschstraße.) Obwohl Im Schatten klassische Genre-Codes und basale kinematografische Lust klar affirmiert, bietet der Film doch auch die Möglichkeit einer distanzierteren, reflektierteren Lektüre, und zwar gerade als seltsames Nebenprodukt seiner außerordentlichen professionellen Fassade. Viele «Berliner Schule»-Regisseure haben soziale und räumliche Trennungen immer wieder betont, indem sie die Mise-en-scène der Filme mit reflektierenden Fensterscheiben, Glastüren und Rahmen in Rahmen zerteilten. (Ulrich Köhlers Montag kommen die Fenster thematisiert diesen Tic sozusagen ausdrücklich.) Im Schatten ist da keine Ausnahme. Vor allem die fünf Minuten am Anfang sind so voller Lichtbrechungen, dass man sich fast vorkommt, als sähe man einen von einem Avantgardefilmer wie Nathaniel Dorsky inszenierten Gangsterfilm. Wenn man aber die Kommentare zu Im Schatten durchsieht (fast durchweg positiv), dann ist Jean-Pierre Melville der Name, der immer wieder genannt wird. Das ist grundsätzlich zutreffend, aber dieser überklare Schimmer, diese Glas-und-Chrom-Perfektion, die Arslan hier geschaffen hat, stellt zugleich die Frage nach der schieren Plausibilität eines Melville-Manns wie Trojan, eines Möchtegern-existenzialistischen Helden in einer Welt ohne Zentrum.
Keiner der hier diskutierten vier Filme hat jedoch einen so beeindruckenden Sinn für die dezentrierte zeitgenössische Existenz wie Christoph Hochhäuslers Unter dir die Stadt (Drehbuch-Koautor: Ulrich Peltzer), der von den verhandelten als letzter ins Kino kommt (der Starttermin scheint nach einer ersten Ankündigung für diesen Herbst ins nächste Jahr verschoben). Er ist auch derjenige Film mit der unmittelbarsten sozialen und ästhetischen Beziehung zu den Krisen unserer Zeit. Ein ebenso massiver künstlerischer Durchbruch für Hochhäusler wie Im Schatten für Arslan – nur bewegt sich Unter dir die Stadt in die gerade entgegengesetzte Richtung. Statt das Erreichte in Richtung Genre-Kommentar und souverän tariertem Professionalismus zu konsolidieren, stürzt sich Hochhäusler ins unruhige Unbewusste der Semiose des Kunstfilms.
Ergibt Unter dir die Stadt am Ende einen Sinn? Oder hat sich das Ganze am Schluss ins Reich schierer Absurdität bewegt? Unternimmt es der Film auf seiner Oberfläche, gewisse wiedererkennbare Genre-Bewegungen («Kämpfe in der Geschäftswelt»; «das unmoralische Angebot») anzutäuschen, um zuletzt die sichere Position des Zuschauers in einer materiell wirklichen Welt in Frage zu stellen? Zu Beginn des Films entdecken wir, dass der «Banker des Jahres» Roland Cordes (Robert Hunger-Bühler) sich immer stärker aus dem Vorstandsetagen-Universum entfernt, dessen Herrscher er ist. Die jungen Karrieristen im mittleren Management bringen sich unterdessen in Stellung, und einer von ihnen, Oliver Steve (Mark Waschke) hat eine attraktive junge, von Cordes begehrte Ehefrau namens Svenja (Autorin-Regisseurin Nicolette Krebitz).
Diese zunächst irritierend konventionelle Dreiecksgeschichte wird in Hochhäuslers Händen zur selbstverzehrenden, fast Resnais-artigen Erforschung von Mobilität und räumlicher Einschließung, eine Analyse des Ins-Leere-Treibens alles Persönlichen, wenn nicht der Entleerung von Sinn überhaupt – und zwar als menschliche Konsequenz des gegenwärtigen finanziellen Kollapses. (Die Schlussszene von Unter dir die Stadt ist so perfekt und unerklärlich und bizarr wie die von Les herbes folles.) Auch Hochhäusler geht es um Raumfragen, wenn er seine nicht zueinanderpassenden Hohlmenschen-Liebenden in dunkle Nischen, fade Wohnungen ohne menschliche Farbe und vor allem in die undurchdringlichen Glas-Wolkenkratzer des dahinschwindenden Spätkapitalismus drängt. (Die von der wie freischwebenden Architektur erzeugte Stimmung einer auseinanderdriftenden Welt erinnert an Ernie Gehrs Side/Walk/Shuttle, einen Film, auf den sich das Gegenwartskino gerne öfter beziehen dürfte.) Unter dir die Stadthat in Cannes nicht nur Freunde gefunden, aber mein Verdacht ist, dass das mit seiner genuinen Originalität zu tun hat. Statt nur den ökonomischen Kollaps zu narrativieren, lässt Hochhäusler die Ökonomie der Narration kollabieren; seine Figuren queren nicht einfach den filmischen Raum – Unter dir die Stadtjagt den Raum viel eher dem Zuschauer geradezu auf den Hals. Hochhäuslers Film ist beinahe ein Meisterwerk. Und wenn man ein verschlissenes Etikett braucht, um die Leute auf meinem Kontinent auf ihn und all die anderen wichtigen Filme der «Berliner Schule» aufmerksam zu machen, dann erlaube ich mir sehr gern die Grobheit, es auch zu verwenden.
Übersetzung von Ekkehard Knörer