Mängel im Überbau Der Künstler Phil Collins setzt in seinem Film Marxism Today obsolete Inhalte noch einmal auf den Lehrplan
Der Unterschied zwischen einer Theorie und einer Ideologie besteht darin, dass sich mit der Theorie besser arbeiten lässt. Darauf legen nicht zuletzt Marxisten Wert, die gegen die Verunglimpfung ihrer Theorie als Ideologie an der Operabilität von Konzepten festhalten: Ausbeutung. Imperialismus. Monopol. Überbau. Basis. Inwiefern Petra Mgoza-Zeckay eine Marxistin ist, geht aus dem Film Marxism Today des Künstlers Phil Collins nicht klar hervor. Aber sie nennt die DDR «mein Vaterland – noch immer», und sie ist nicht zufrieden damit, dass dieses Vaterland 1990 «flöten» ging. Helmut Kohl ließ damals Coca-Cola und Bananen an die Bürgerinnen und Bürger der flöten gehenden DDR verteilen, es versteht sich von selbst – ist aber nicht per se schon marxistisch –, dass Petra Mgoza-Zeckay keine Bananen isst und kein Coca-Cola trinkt. Aus der Perspektive der Konsumenten war die Banane in der DDR eine Luxusware, die auf einen Mangel in der kommunistischen Planwirtschaft verwies. Aus der Perspektive westlicher Linker war und ist die Banane das Produkt einer imperialistischen Wirtschaftsordung, bei dem amerikanische Konzerne wie United Fruit die Profite der Arbeit ausgebeuteter Bauern abschöpfen.
Die unscheinbare Form von Marxism Today lässt leicht darüber hinwegsehen, dass Phil Collins sich mit diesem «Prolog» zu einem größeren Projekt genau für diesen Unterschied zwischen Theorie und Ideologie interessiert, der in den Marxismus eingeschrieben ist. Die drei Protagonisten des Films haben gemeinsam, dass sie in der DDR das Fach Marxismus-Leninismus unterrichteten (im Fall von Marianne Klotz, die an Berufsschulen vortrug, hieß das Fach «Politische Ökonomie»). Sie waren also Proponenten eines Wissens, das 1989 obsolet wurde, zumindest in der Lesart der dominierenden Geschichtserzählung über die Überwindung des Systemunterschieds zwischen den beiden deutschen Staaten.
Andrea Ferber ist die bemerkenswerteste Figur des Übergangs in dieser Konstellation. Sie schloss im März 1990, also noch in der DDR, eine Doktorarbeit über «Neoliberale Theorien der Arbeitslosigkeit» ab, für die sie eine Menge Texte von den «Chicago Boys» lesen musste. Durch diese Lektüre von Theorien, die selbst unter den Bedingungen der freien Marktwirtschaft als ideologisch erscheinen konnten, war sie perfekt vorbereitet auf die Transformation. In den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung war Andrea Ferber sehr erfolgreich, inzwischen arbeitet sie für eine NGO. Nach einiger Zeit stellte sich bei ihr ein Gefühl des Mangels ein, der sich in den Kategorien der marxistischen Theorie nur als widersprüchlich beschreiben lässt. Denn das, was Andrea Ferber fehlte, war eine Idee, die über den Materialismus hinausging. In der DDR war der Materialismus eine Ideologie, in der BRD ist er das auch, aber anders. Andrea Ferber verspürt einen Mangel im Überbau, den die DDR ideologisch immer schon behoben zu haben glaubte.
Die dritte Protagonistin, mit der Phil Collins gedreht hat, tritt mit ihrer Tochter auf. Marianne Klotz musste an Berufsschulen erkennen, dass Theorie für angehende Bäcker nicht so wichtig ist. Ihr Fach war nicht populär, sie selbst ließ nach 1989 auch schnell davon ab und gründete eine Partnervermittlung für Akademiker. Neben ihr sitzt ihre Tochter Ulrike, die in der DDR als Bodenturnerin in das harte System des staatlichen Sports geriet. 1988 nahm sie an den Olympischen Spielen in Seoul teil, die Aufnahmen von einem Pferdsprung, bei dem Ulrike Klotz mit einer Hand leicht daneben greift, aber gerade noch wieder auf die Beine kommt, zeigt Phil Collins in mehrfacher Wiederholung als Emblem einer Taylorisierung des staatlichen Auftretens in der freien Welt. Der Sport wird zu einem Bild der Dressur, das im Massenornament der Menschen, die sich in vieltausendfacher Bewegung zu den Buchstaben des Wortes SOZIALISMUS in Stadiondimension formieren, vollständig wird.
Dieses Massenornament ist eine der geläufigsten Repräsentationsformen der kollektivistischen Gesellschaften im real existierenden Sozialismus, und mit diesem Bild endet Marxism Today von Phil Collins. Doch es wäre verfehlt, hier einfach den erwartbar ironischen Schluss zu sehen, der die drei Protagonisten (und die dazwischen geschalteten Ausschnitte aus DDR-Lehrfilmen) an eine Form von Choreografie zurückbindet, die nicht einmal mehr der Ideologie bedarf, sondern deren leere Floskel ausdrückt. Das Auftreten der drei Frauen (zum Teil mit Familienmitgliedern) schafft vielmehr eine lebensgeschichtliche Vermittlung für einen Zusammenhang, der dialektisch nicht aufgeht. Zwischen der DDR und der BRD gibt es keine Synthese, weil auf der Ebene der Voraussetzungen schon unklar ist, wo denn überhaupt noch Theorie einer gesellschaftlichen Praxis zugrundeliegt. Darauf aber beharrt zumindest Andrea Ferber: Dass der Marxismus gelehrt wurde, um weitergedacht zu werden. Petra Mgoza-Zeckay trat in die SED ein, um von den damit einher gehenden Bildungsprivilegien profitieren zu können – heute ist sie arbeitslos, auch als Theoretikerin wird sie nicht gebraucht.
Phil Collins räumt in Marxism Today selbst ein, dass in der DDRder Marxismus nicht immer theoretisch gebraucht wurde. Zwischen den Aufnahmen mit den Frauen zeigt er Archivmaterial, Filme aus der pädagogischen Praxis der DDR, deren Blabla ihm an einer Stelle so auf die Nerven zu gehen scheint, dass er die Musik allmählich lauter dreht und das Gerede unhörbar werden lässt. Die Frauen aber sprechen klar und deutlich und in einer persönlichen Diktion.
In einer Fortsetzung dieses von der Berlin Biennale kommissionierten Films will Phil Collins die Unterrichtssituation von damals unter heutigen Bedingungen noch einmal herstellen: Studierende aus dem System der freien Marktwirtschaft sollen eine Lehrveranstaltung in Marxismus-Leninismus bekommen. Der Anachronismus, der sich in dieser Idee äußert, trägt in sich das Vermögen der Produktivität – Ungleichzeitigkeit nicht als Ideologie, sondern als Theorie einer Gegenwart, die schon einen Titel wie Marxism Today als in sich widersprüchlich empfindet.