Unmögliches Sehen Phasenbilder der ungeheuren Tendenzen einer Epoche: Zur Eadweard J. Muybridge-Ausstellung in der Tate Britain
Eadweard James Muybridge, der Zergliederer der Bewegung. So ist er in die Geschichte eingegangen. Seine Chronofotografien vom Pferdegalopp wurden zu Ikonen. Mit kürzesten Verschlusszeiten und zwei Dutzend Bildern in der Sekunde gelang es ihm 1878, Bewegungsabläufe in präzise Schnitte zu zerlegen. Diese Analyse ermöglichte erst die kinematografische Synthese von Bewegtbildern, in der Muybridge mit seinem Zoopraxiskop ebenfalls Neuland betrat. Aber so wichtig diese Bildserien in der Prähistorie des Kinos und für andere Pioniere wie Étienne-Jules Marey auch waren, so groß ihr Einfluss auf kommende Generationen von Künstlern, es wäre falsch, das Bild Muybridges darauf stillzustellen. Das zeigt die Ausstellung in der Tate Britain, indem sie die früheren Stadien seiner Arbeit gleichberechtigt: die großen Landschaften, die ethnografischen Aufnahmen, die urbanen Panoramen. In allem ist hier Bewegung – nicht nur in den beiden berühmten Phasenbild-Reihen, sondern auch im Entstehen der jungen Goldrausch-Stadt San Francisco, das Muybridge in einem umgekehrten, zeitrafferischen Verfahren erfasst, wenn er den Bauprozess verschiedener Gebäude über lange Zeiträume dokumentiert. Die «ethnografischen» Bilder wiederum sind bevölkert von Figuren des sozio-ökonomischen Wandels, Migranten, Pionieren. Das Werk Muybridges wird so gleichsam sichtbar als chronofotografisches Phasenbild der ungeheuren Tendenzen der Epoche. Er verkörpert sie auch in seiner Person: ein rastloser Auswanderer und Entrepreneur, der vom Buchhändler zum Fotograf wurde, zum Erfinder und prominenten Vortragsreisenden – die Schau zeigt auch Visitenkarten und Annoncen. Und ein stolzer Abenteurer, der den Liebhaber seiner Gattin erschoss.
Muybridge oszilliert zwischen Kunst und Forschung, die sich in seiner Zeit endgültig trennten. Die Malerei war aus der getreuen Abbildung entlassen, Fotografie und Film betrieben dafür fortan das Spektakel des Realen. Vor allen technischen Wunderdingen erfand Muybridge jedoch auf der langen Suche nach Identität und Auskommen zuerst und immer wieder aufs Neue – sich selbst. Edward J. Muggeridge wanderte aus dem englischen Kingston in die USA aus und änderte seinen Namen wiederholt. Eine Marktlücke fand er in Fotoansichten, die damals, als Zeitungen nur Stiche drucken konnten, sehr beliebt waren. Muybridge schuf dafür eine eigene Marke: Helios – The Flying Studio. Gelegentlich schleicht sie sich ins Bild selbst ein: eine frühe Stereoskopie zeigt die zwischen den Felsen Yosemites ausgebreiteten Laborutensilien, die Muybridge mitschleppen musste: «das fliegende Studio». Das Wort HELIOS ist als Signatur ins Bild gekratzt. Auch sich selbst plaziert er immer wieder in der Komposition, wie in Contemplation Rock, wo er gefährlich nahe am Abgrund hockt. Muybridge produzierte sehr viele Bildkarten in diesem 3D-Format, das sich im 19. Jahrhundert zu einem populären häuslichen Spektakel gemausert hatte: Reportage-Motive vom Modoc-Krieg, chinesische Goldschürfer, Alaska, Mittelamerika. Für die Abnehmer Fernsehen im Wortsinn.
Gleißende Gischt
Schon in den Yosemite-Ansichten ist Bewegung ein Hauptthema: die des Wassers. Stillgestellt, spiegelt es in glatten Seen das Motiv, ein Bild des fotografischen Prozesses. Muybridge betont den Effekt, wenn er in einer der beiden Aufnahmen Mirror Lake die Konturen des realen Bergs in diesigem Weiß verschwimmen lässt, während sie im Wasser glasklar sichtbar sind. Oder wenn in einer der Talansichten Tutokanula die umgekehrte Spiegelung des Bergs im Fluss das Bild dominiert; der Berg selbst liegt ausserhalb des Rahmens. Das fließende Wasser offenbart dagegen ungesehene Schichten der Wahrnehmungswelt. Wasserfälle und Flüsse werden dank langer Verschlusszeiten zu gespenstisch gleißender Gischt. In Muybridges Leuchtturm-Serie schwelt das Meer wie ein höllisches Gas mit trägen Protuberanzen.
Die San-Francisco-Panoramen von 1877 und 1878 wendeten den Blick der Kunden dann aufs Nahe. 13 hochformatige 26 x 13-Zoll-Platten erzeugen surreale Detailfülle. Die Rundumsichten verkauften sich in verschiedenen Formaten blendend. Auch sie sind Übungen in optischer Virtualität, in unmöglichem Sehen: eine berauschend unübersichtliche, vermeintlich perspektivlose Totalansicht von allem auf einmal. Gerade Straßen knicken sich um den Betrachter herum im irrealen Winkel. Im Gegensatz zu den Flüssen Yosemites, deren Bewegung in der Langzeitaufnahme präsent bleibt, sind die emsigen Bewohner der Pionierstadt ausgeblendet. Ihr Gewusel war zu flüchtig für die langen Verschlusszeiten.
Während die monumentalen Landschafts- und Panoramenbilder die Zeit zu einem gespannten stehenden Jetzt verdichten, fächern die Bewegungsstudien sie in die entgegengesetzte Richtung auf. Erneut ist Wasser ein Hauptakteur, fast noch vor den männlichen, weiblichen und tierischen Modellen. Die unzähligen Kaskaden, erstmals in dieser Form zu sehen, gewinnen eine eigene Körperlichkeit, Geisterwesen, nur dem Spiritismus von Muybridges Apparatur zugänglich. Tatsächlich erinnert das Verfahren an gewisse damals übliche Methoden, mit Doppelbelichtungen «Beweise» für Paranormales zu fingieren. Das offizielle Motiv für Muybridges Erfindung lag jedoch in Erkenntnisgewinn: Sein Mäzen Leland Stanford wollte wissen, ob beim Pferdegalopp je alle Hufe zugleich in der Luft sind. Mindestens genau so wichtig war der Renommierfaktor für Leland, den Direktor der Central Pacific Railroad, Ex-Gouverneur und Pferdezüchter.
Nackte Selbstporträts
Nach einem verlorenen Urheberrechtsstreit mit Stanford konnte Muybridge als neuen Förderer die Universität von Pennsylvania gewinnen und die Qualität der Bilder von schattenrissartigen Vignetten zu vollwertigen Fotos steigern. Das experimentelle Dekor wird noch gravitätischer: Muybridge verwendet ein Raster als Hintergrund, die Modelle sind durchnumeriert. In dieser Reihe wird der pseudowissenschaftliche Charakter der Unternehmung aber erst recht deutlich: zu subjektiv wirken die Motive. Die Modelle sind in Alltagskontexten plaziert, Arbeit, Haushalt, Sport. Zwei unbekleidete Ringer mögen noch antikisierende Akademie-Konventionen erfüllen, eine nackt rauchende Frau kaum. Dass Muybridge weibliche Modelle stärker inszenierte, wurde oft beschrieben. Die sexuell aufgeladene Serie Turning around in surprise and running away etwa heißt in seinen Privataufzeichnungen ehrlicher: Ashamed. Doch hat er sich auch selbst oft unbekleidet chronofotografiert. Diese nackten Selbstporträts des Künstlers als alternder Mann sind sicherlich die ersten der Kunstgeschichte.
Muybridges Typenkatalog nackter Leiber inspirierte Künstler von Marcel Duchamp über Francis Bacon bis Hollis Frampton. Die Serialität, das Automatische; das soziale Archiv, der Körperatlas: die Verästelungen ins moderne Bilddenken hinein sind unendlich. Auch ein Grauen liegt in den Sequenzen. Die Reduktion des Menschen auf das bloße animalische Leben weckt Assoziationen an die Lager des folgenden Jahrhunderts. Giorgio Agamben führt Muybridge als ein Beispiel des geschichtlichen «Verlusts der Geste» an: die neuen Bildmedien sind es, wo dieser Prozess prominent stattfindet, wo zugleich auch vergeblich seine Umkehrung versucht wird, in paradoxer Fetischisierung des Verlorenen.
Aber noch etwas anderes gibt die Ausstellung zu denken. Heute wird die binäre Entkörperung des Bilds diskutiert. Doch Fotos wiesen diese ephemere Ontologie von Anfang an auf. Zumal Muybridges Zerlegung des Stufenlosen: wie ein digitales Gerät erfasst sie selektive Punkte, lässt andere aber aus. Ganz ähnlich erzeugt auch der von Ottomar Anschütz zeitgleich eingeführte, heute noch übliche Schlitzverschluss nichts als ein Phasenbild-im-Bild. Denn die Bildpartien werden sukzessiv und selektiv belichtet. Der Schnappschuss zeigt keinen Moment, sondern amalgamierte Aspekte. Lange Veschlusszeiten wiederum akkumulieren Verlaufspunkte zu Lichthaufen wie dem weißen Rauschen der Wasser Yosemites. Der «entscheidende Augenblick» war immer schon eine Konstruktion. Muybridges Sequenzen sind ein Memento der Virtualität aller Lichtbilder.