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Ursprüngliche Akkumulation Zur Ausstellung Das Potosí-Prinzip im Berliner Haus der Kulturen der Welt

Von Nikolaus Perneczky

Hinter dem enigmatischen Wohlklang von «Potosí» verbirgt sich ein Wort aus der Quechua-Sprachfamilie: P’utuqsi, der Lärm. Im 16. Jahrhundert stieg die gleichnamige Minenstadt auf dem Territorium des heutigen Bolivien (damals zum Königreich Peru gehörig) zu einer der größten und wohlhabendsten Städte der Welt auf. Das riesige Silbervorkommen vor den Toren Potosís wurde von den indigenen Bewohnern der umliegenden Hochebene unter Zwang abgebaut und anschließend nach Europa geschafft, wo es einen entscheidenden Beitrag zur Dynamisierung der noch jungen kapitalistischen Wirtschaftsordnung leistete.

Pünktlich zum Bicentenario, dem zweihundertsten Jubiläum der lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen, hat im Berliner Haus der Kulturen der Welt ein ambitioniertes Ausstellungsprojekt Quartier bezogen, das sich an einer politischen Ökonomie der Neuzeit in globalgeschichtlicher Perspektive versucht. Sein Modell hat dieser Versuch an der lärmenden Minenstadt Potosí, einem jener peripheren Orte, wo die gewaltförmigen Bedingungen des Kapitalismus offener zutage treten als in dessen vermeintlichem Zentrum. Zugleich erweist das Beispiel Potosís die Enteignung der Kolonisierten als Initialzündung der Kapitalisierung. Die Scheidung der Massen von ihren Subsistenz- und Produktionsmitteln, wie Marx diese «ursprüngliche Akkumulation» beschreibt, kam damit aber nicht zum Stillstand. Im Gegenteil setzte sie sich quer durch die Epochen und über den Niedergang des Kolonialismus hinaus bis in die Gegenwart fort, als strukturelle Abhängigkeit ebenso wie in der «archaischen» Form physischer Gewaltanwendung.

Dass die Plünderung Potosís keine Ausnahme, sondern den historischen Regelfall darstellt, klingt im Titel der Ausstellung an: «Das Potosí-Prinzip». Der anbei gestellte Untertitel – «Wie können wir das Lied des Herrn im fremden Land singen?» – gibt eine genauere Bestimmung des Weges, auf dem die Kuratoren Alice Creischer, Max Jorge Hinderer und Andreas Siekman sich ihrem Gegenstand nähern. Bestand die Mittäterschaft der Kirche bei der Ausbeutung der Kolonien doch unter anderem in der Produktion von Bildern und Vorstellungswelten zur Konsolidierung und Legitimation kolonialer Macht. Es sind diese «kolonialen Bilder», wie es im Ausstellungsführer heißt, an denen «Das Potosí-Prinzip» sich abarbeitet; die es analysiert, dekonstruiert, aktualisiert und endlich um Gegenbilder erweitert.

Strukturiertes Wimmelbild

Über fünfzig Exponate aus einem Zeitraum von bald vierhundert Jahren sind – zu Füßen, auf Augenhöhe und über den Köpfen der Besucher – zu einem dichten, aber strukturierten Wimmelbild angeordnet, dem mit herkömmlichen Kriterien (Stichwort: Blick- und Wegeführung) nur bedingt beizukommen ist. Noch von den Stufen, Podesten und Hochsitzen aus, die über den ganzen Raum verteilt sind, sperrt sich die Ausstellung gegen jede Übersichtlichkeit. Es sind immer nur Objektgruppen auszumachen, die in wechselnden Konstellationen aus dem Ganzen hervortreten, nie das Ganze selbst. Die einzelnen Arbeiten sind zwar klar demarkiert, stehen aber trotzdem stets in Relation zu anderen, denen sie zu- oder abgeneigt sind; die sie überragen oder unterlaufen. In einer etwas schlichten materialistischen Geste entblößen die historischen Gemälde, aufgespannt zwischen schlanken Metallpfeilern, ihre Rückseite: Ein Topos, der von den aktuellen Arbeiten immer wieder aufgegriffen und mit Bedeutung aufgeladen wird. Mitunter – wie im Fall der Videoarbeit THE TOWER des russischen Kollektivs Chto Delat, von der ein rotes Stoffseil zu einer Dreiergruppe historischer Gemälde verläuft – nehmen es sich die Kuratoren sogar heraus, materiale Ergänzungen an den Ausstellungsstücken vorzunehmen.

Dass die schlichte Topologie von Vorder- und Rückseite, wie sie der ungewöhnlichen Hängung unterliegt, präzise gewendet werden kann, beweist Harun Farockis Videoessay DaS SILBER UND DAS KREUZ. Eine Stadtansicht aus dem Jahr 1758, Gaspar Miguel de Berrios «Descripción del Cerro Rico e Imperial Villa de Potosí», wird darin auf jene Gewalt hin befragt, die sie ausspart oder ästhetisch sublimiert. Auf zwei Bildhälften, die meist alternierend, manchmal zugleich aufleuchten, gibt Farocki Bilddetails zu sehen oder zeichnet in langsamen pans entlang der Bildoberfläche die suchende Bewegung seines Blicks nach. Der Off-Kommentar lässt den Mitayos, den Zwangsarbeitern, die zu Hunderttausenden in den Minen vor Potosí umkamen, Gerechtigkeit wiederfahren, indem er ihre Arbeits- und Lebensumstände in die Leerstellen des Gemäldes einträgt. DAS SILBER UND DAS KREUZ wird auf die Rückseite jenes Bildes projiziert, das der Essay analysiert.

Petitionen in Peking

Orientierung bieten am Boden angebrachte Piktogramme. Sie symbolisieren thematische Knotenpunkte und weisen den einzelnen Werken statt Titel und Urheber eine Nummer zu, bei der man im Ausstellungskatalog nachschlagen muss, was zu ihr gehört. Eine Maßnahme zur Umgewichtung der Aufmerksamkeit; weg von Autor und Werkzusammenhang, hin zu jenem Kontext, den erst die Ausstellung schafft. Um Paarbildungen zu insinuieren, sind etliche dieser Nummern zweifach vergeben; als schwarze Zahl auf weißem Grund und umgekehrt als weiße Zahl auf schwarzem Grund. Meist setzen sich die Paarungen aus einem historischen Gemälde und seiner heutigen Bearbeitung, in der Mehrzahl eigens für «Das Potosí-Prinzip» konzipierte Auftragsarbeiten, zusammen. Einige wenige Exponate sind anderen, dem hiesigen Kunstbetrieb fernen Zusammenhängen entliehen, etwa jene drei Transportkisten in der Mitte des Raumes, auf deren Oberfläche Fotografien des Culture and Arts Museum of Migrant Workers prangen. In einem angrenzenden Schaukasten sind zwei Putzlappen und eine Spachtel wie Keilinstrumente in einer ethnografischen Schau arrangiert: Typische Arbeitsutensilien chinesischer Wanderarbeiter.

Auch Zhao Liangs PETITIONERS findet das Potosí-Prinzip in der heutigen Volksrepublik China wieder. Die Bittsteller sind Bürger, zumeist aus der Provinz, die ihre Anliegen vor einer Stelle zur Einreichung von Petitionen in Peking vortragen wollen. Vor Zhaos Digitalkamera sprechen sie von Unrecht, das ihnen widerfahren ist: Enteignungen von Land, Vertragsbrüche, Misshandlungen. Ob ihre Probleme mit der Transformation Chinas in eine Art Staatskapitalismus begannen oder weiter zurückreichen, wird nicht immer deutlich. Dass in vielen der vorgebrachten Fälle die verheerende Dynamik der ursprünglichen Akkumulation greift, steht indes außer Frage. Neben acht Bildschirmen, auf denen die dokumentarischen Aufnahmen ablaufen, baumeln weiße Hemden und Hosen von der Decke. Sie sind beschriftet und wie Lampions illuminiert. Davor wurden sie von den Petenten getragen, als Mittel, den Protest nach außen zu kehren.

Das am Eingang ausgehändigte Begleitheft, das auf 43 dicht bedruckten Seiten einen Parcours durch die Ausstellung vorschlägt und theoretisch absichert, gerät in seinem erläuternden Duktus etwas bevormundend. Wem es, mit dem Heft in der Hand, trotzdem gelingt, einer eigenständigen Suchbewegung nachzugehen, wird dafür mit einer instruktiven Lektüre belohnt. Mit sympathischer Nonchalance legen die Kuratoren ihre Überlegungen und Verstehensgrundlagen offen, schildern Arbeitsprozesse und machen sich angreifbar.

Emanzipatives Versprechen

Im Eingangsbereich verfängt der Blick an der Rückseite zweier von Quirin Bäumler besorgter Silberstiftzeichnungen auf transparenter Kopierfolie. Es sind dies maßstabsgetreue, ansonsten aber defizitäre Platzhalter jenes Bilderensembles, das eigentlich hier hängen sollte: Darstellungen von Tod, Jüngstem Gericht und Hölle aus der Kirche von Caquiaviri, einem früheren Verkehrsknotenpunkt für den Silberhandel mit Potosí. Dass die Gemeinde sich, wie auf einer angehängten Schautafel erläutert wird, gegen die Ausleihe dieser so genannten Postrimerías gesperrt hat, ist in Anbetracht des Gebrauchs, den «Das Potosí-Prinzip» von ihnen – und übrigens von den meisten der historischen Gemälde – macht, nicht weiter verwunderlich. Nicht, dass man dem umfänglichen Ausstellungsführer widersprechen wollte, wenn er den Terror solcher Höllendarstellungen als «Mediator par excellence für die koloniale Hegemonie» herausstellt. Aber wie sich die Aufgabe der historischen Gesprächspartner in aller Regel darin erschöpft, die Komplizität von Kunst und kolonialer Gewalt zu illustrieren, lässt ihre ästhetische Eigenart seltsam unterbestimmt.

Neben den Postrimerías von Caquiaviri gibt es noch einige andere Objekte, die lediglich in dieser schattenhaften Form, als Rekonstruktion ihrer eigenen Unverfügbarkeit, zugänglich sind. Auch wenn die Bemühungen der Kuratoren, die Schwierigkeiten der eigenen Arbeit offenzulegen, gelegentlich einen etwas larmoyanten Tonfall annehmen, möchte man ihnen diese Offenheit dennoch zugute halten. Wann sonst macht eine Austellung nachvollziehbar, was sie nicht zeigt oder zeigen kann?

Die unverhohlene Didaktik des Begleithefts, zusammen mit materialen Interventionen und der Einbeziehung kunstferner Objekte, erhärten den Eindruck, dass die Souveränität von Werk und Autor hier im Sinne eines gegensätzlichen Kalküls angetastet werden soll. Wenn man den Kuratoren glauben darf, so ist «Das Potosí-Prinzip» indes keine jener kosmogonisch-selbstherrlichen Rauminstallationen, die – wie zuletzt John Bocks «FischGrätenMelkStand» in der Temporären Kunsthalle – den Werkbegriff aus den falschen Gründen unterminieren, sondern das Ergebnis einer kollektiven Anstrengung und Absprache mit allen Beteiligten. Was hier gegen die künstlerische Autonomie ins Treffen geführt wird, ist das alte Versprechen einer emanzipativen Praxis im Kollektiv. Bei aller Ironie, die viele der Arbeiten durchdringt: ganz im Ernst.

 

Nach einer ersten Station im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía in Madrid ist «Das Potosí-Prinzip» nun bis einschließlich 2. Januar 2011 im Berliner Haus der Kulturen der Welt zu sehen.