Targets 17. November 2010
Zwei Nachrichten aus den vergangenen Monaten. Am 29. September sah sich das deutsche Innenministerium dazu veranlasst, verschiedene Medienberichte über Pläne «islamistischer Terroristen» für Anschläge in Deutschland und anderen europäischen Ländern zu entkräften – Gefahr sei gegeben, aber nur «längerfristig». Sechs Wochen später, am 17. November, gab Innenminister Thomas de Maizière auf einer Pressekonferenz bekannt, dass in Deutschland eine «erhöhte Terrorgefahr» bestehe und wiederholte die Botschaft in mehreren erkennbar gut vorbereiteten Fernsehauftritten. Was zwischen diesen beiden Ereignissen geschehen ist, kann die Öffentlichkeit im Detail nur bedingt nachvollziehen, es hat in jedem Fall mit «nachrichtendienstlichem Aufkommen» zu tun und wird nicht einfach dem neuen Tatendrang einer Kanzlerin zuzuschreiben sein, die nun auch ihre besonneneren Mitarbeiter aus der Reserve holt.
Zum Zeitpunkt, da wir diesen Text schreiben, lebt das Land mit einer offiziellen Terrorwarnung, und zum Zeitpunkt, da er erscheinen wird, hat diese sich entweder bestätigt – oder sie wurde abgeschwächt, vergessen, verschärft, präzisiert. Der Möglichkeiten sind zahllose, und es ist übrigens auch denkbar, dass sich demnächst ein terroristischer Anschlag ereignet, der mit der aktuellen Warnung gar nicht gemeint war. Sicher ist: Unter den politischen Verlautbarungen ist die Terrorwarnung eine besonders widersprüchliche. Sie dient der Aufrechterhaltung eines alltäglichen Lebens, das nun allerdings im Modus der «Sorge» (nicht aber der «Hysterie») und mit «Wachsamkeit» gelebt werden soll. Sie soll auf etwas vorbereiten, worauf man sich genau genommen nicht vorbereiten kann. Die Warnung bildet ein Netz, in dem sich möglicherweise ein Ereignis verfängt, am besten noch bevor es sich ereignet hat.
Weniger ermittlungsstrategisch gesehen handelt es sich aber zunächst einmal um ein Netz, das im medienöffentlichen Raum gestrickt wird: aus den schon lange etablierten Subkategorien des Terrorwarnbildes. Eine Art Montage-Dreischritt: (1) Das symbolische Hauptstadtbild (Reichstag, Brandenburger Tor, Alexanderplatz) blendet in ein deutschlandweit anschlussfähiges, weil unspezifisches Transitraumbild über (Bahnhöfe, Flughäfen, andere Nicht-Orte oder, weltanschaulich konnotiert, Weihnachtsmärkte), das umgehend ins Polizeibild kippt (meist untersichtig gefilmte, entschlossen dreinblickende Staatsdiener in schweren Schutzwesten tragen überdimensionale Schusswaffen über belebte Bahnsteige). (2) Weil die einzig konkret visualisierte Bedrohung in dieser Bildfolge eher mit dem staatlichen Gewaltmonopol assoziiert ist (massiv behängte Polizisten umgeben von friedlich Verspätungen ertragenden Bahnreisenden), führt ein Schnitt ins offenbar nur alle zehn Jahre aktualisierte Fernseharchiv, zu Bildern einer engagiert trainierenden «Gefährdergruppe», die in einem nicht-lokalisierten Woanders paramilitärischen Aktivitäten nachgeht (vermummte Menschen in karger Landschaft fahren Jeeps durch die Gegend und üben Schießen). (3) Zum Abschluss dann wieder der personell verkörperte Staat, in Form von Politikern, die «Gesetzgebungsaktivismus» praktizieren (die notorischen Landesinnenminister) bzw. mit überparteilichem Gestus vor diesem warnen (de Maizière).
Das akute Terrorwarnbild ist in seiner Formelhaftigkeit fast schon redundant; abgesehen vom abgesperrten Reichstag unterscheidet es sich nicht von jenem, das zum «längerfristigen» Szenario gehörte. Die visuelle Seite der Terrorwarnung kann sich auch gar nicht eskalieren, solange die «Gefährder» unsichtbar bleiben und als in der Anonymität der Großstadt «untergetauchte Schläfer» vorgestellt werden, deren potenzielle Anwesenheit sich nur vermittels Aufnahmen herrenloser Koffer im öffentlichen Raum bildlich insinuieren lässt. Wie bei der Finanzkrise müssen Lückenbüßerbilder für eine qualitative Veränderung der Lage einstehen – eine Einschätzung, deren Plausibilität uns trotz fehlender visueller Evidenz sehr wohl erreicht.
Was verändert eine solchermaßen lancierte Terrorwahrnehmung an unserem Blick auf die Welt? Erstens: Wir nehmen Deutschland wieder stärker als ein Land mit Grenzen wahr, als ein Land, in das die potentiellen Täter einreisen werden, um darin unterzutauchen, bis sie losschlagen. Dass die Terrorwarnung mit einem konkreten Datum für die Einreise der Terroristen versehen war, erscheint einem Laien widersinnig, denn jeder vernünftige Mensch mit einem Anschlagsplan würde umdisponieren – es sei denn, er fühlt sich danach umso sicherer, weil die Behörden damit rechnen, dass er umdisponiert. Werden die Umbuchungen, die Flüge an diesem Tag betreffen, global überprüft? Wieviele Menschen kommen eigentlich an einem durchschnittlichen Montag nach Deutschland? Zweitens macht die Terrorwarnung natürlich aus uns allen auch Terrorphantasten, Szenariendurchspieler, Attentatsentwerfer. Das geht so weit, dass wir unsere exzessivste (und keineswegs schwierig zu realisierende) Phantasie nicht beschreiben wollen, weil sie nicht einmal in Ansätzen heraufbeschworen werden soll. Sie unterliegt der Selbstzensur, so wie auch die Massenmedien nicht alles schreiben, was sie wissen, weil der performative Charakter von Nachrichten (und Phantasieszenarien) nirgends deutlicher wird als in einer Situation, die durch eine Terrorwarnung akzentuiert wurde, zu der es eine Entwarnung gar nicht geben kann.