Attraktive Abstraktion Über Lee Child und seinen Serienhelden Jack Reacher
Jack Reachers Lieblingsmaler ist Piet Mondrian. Das passt. Es gibt in den Reacher-Romanen nur gerade und klare schwarze Linien und Weiß- und Farbflächen, keine Ornamente und Arabesken. Seltsam attraktive Abstraktion. Kein Interesse an Grautönen, alles Fläche und Farbe. In den gelegentlich raffinierten Plots keine Lust an verschlungener Unübersichtlichkeit, sondern die Freude an der Entfaltung einer mehr oder minder komplizierten Mechanik. Noch die Überraschungen und Twists, die es nicht selten gibt, sind nicht eigentlich Verwindungen und Verwringungen des Geschehens. Es erweist sich nur die Notwendigkeit zur Neubeschreibung und Refiguration der Fronten und Linien. Mag sein, man hat sich darüber getäuscht, wer gut und wer böse ist. Die Grenze zwischen Gut und Böse bleibt dennoch stets so scharf wie unbedingt tödlich gezogen.
Jack Reacher ist ein Mann der Tat, nicht der Introspektion. Tun heißt für ihn allerdings zweierlei: Denken und Handeln. Im Denken zieht er Schlüsse und schätzt die Denk- und die Kampfkraft von Menschen als Gegnern ein. Gemäß Schluss und Einschätzung handelt er. Dumm kämpft keineswegs gut. Jack Reacher denkt mit dem Rücken zur Wand und kämpft frontal antizipativ. Eines vor allem gilt es: dem Gegner voraus zu sein durch Sondierung der Lage. Lee Child präsentiert den Action-Helden als Mann auf der Suche nach Situationsmächtigkeit durch präzises Blicken, durch knappes Sprechen und ökonomisches Handeln (durch Blick, Spruch und Tat).
Sofort genausogut anderswo
Los geht es stets anders als im klassischen Hardboiled-PI-Roman. Keine damsel in distress kommt durch die Bürotür auf der Suche nach Hilfe beim white knight in a trench coat. Jack Reacher ist stets auf amerikanischen Straßen, in amerikanischen Städten unterwegs. On the road noch dann, wenn er in New York im Café sitzt und seinen Kaffee trinkt. Eisern sein Wille zur Unverortbarkeit, er trägt nichts als den Pass und die Zahnbürste mit sich. Seine jederzeit und sofort genausogut anderswo sein könntest. (Anderswo: in den Staaten.) Wenn er sich neu einkleidet, wirft er die alte Kleidung sofort weg. Ein Held, der sich stets neu entpuppt und dabei immer derselbe bleibt. Genauer kann man das Begehren, ein US-Amerikaner zu sein, nicht auf den Punkt bringen. Reacher sucht nicht das Abenteuer, er sucht nicht den Streit, das Abenteuer und der Streit suchen seit vierzehn Romanen stets ihn.
Jack Reacher ist eine Variation des Helden als aus den Zwängen des gesellschaftlichen Realen entbundene Outlaw- und Loner-Figur. Die Nähe der Romane zum Western wird oft und zu Recht konstatiert. Es verkörpert sich in diesen Figuren der unmögliche Traum, drinnen und draußen zugleich zu sein. Soziologisch gesprochen: über die eigene Exklusion aus dem Gesellschaftlichen, die Grenzen selber ziehend, noch zu verfügen. In Reacher wird die äußerste Beweglichkeit und Flexibilisierung des Subjekts in den Zeichen- und Kapitalströmen des US-Kapitalismus noch einmal als ex- wie inklusionsmächtiger Linienzieher und Selbstgesetzgeber gedacht. Das ist der mythische Anteil der Figur. Allen Entzugsversuchen zum Trotz findet jedoch die Reterritorialisierung des exemplarischen Individuums Reacher im Realen der Gesellschaft immer aufs Neue statt: in der Erzählung, als Beginn jeder Erzählung. Das Begehren der Narration spürt den Helden überall auf und versetzt ihn als Agenten der Gerechtigkeit in eine unweigerlich sozial und politisch formatierte Kampfsituation. Reacher ist wie jeder Superheld eine imaginäre Gegenmacht, die mächtiger ist als die Macht. Das weite Feld der anfallenden Total- und Kollateralschäden bedient dann die Lust der Leserin und des Lesers an der Action.
Übermenschliches Tier
Ein Held mit Vorgeschichte als Militärpolizist bei den Marines. In bislang nur einem einzigen Roman springt die Serie in diese Geschichte, an den Anfang der 90er Jahre zurück. Biografische Fakten werden an die Figur hier und da angestückt. Die perfekte, instinktiv auf die Minute genaue Zeitorientierung, die Preise, die er für seine Treffsicherheit gewann, der Bruder (tot), die Mutter (tot), die Geburt in Berlin (Militär). Weil Jack Reacher seinem Wesen nach von Anfang an fertig ist, erfährt man damit nichts Neues. Realitätseffekte erzeugt Lee Child, der Mann, der als James D. Grant in Großbritannien beim Fernsehen arbeitete und sich nach seiner Entlassung in den USA als Bestsellerautor neu erfand, durch Detailfetischismus: von der Bauart der Waffen (Dingfetischismus) über die unkonventionelle Benutzung des Fetts der Drüsen der Nase (Fetischismus des exotischen Wissens) bis zur dichten Beschreibung der gründlich abgearbeiteten amerikanischen Geografie (Fetischismus der Topografie). Jack Reacher ist weniger eine psychologisch plausible Figur – als solche wäre er eine reine Pathologie – denn ein Wesen, dem die Intelligenz und der Gerechtigkeitssinn zum Instinkt werden, ein Krieger, der fremde Situationen in Richtung der eigenen Handlungsmacht umstrukturiert. Ein übermenschliches Tier, das vor Ort genau hinschaut, das alles tötet, was ihm dumm kommt, das dabei, um menschlich zu scheinen, auch einmal Fehler macht und Sex hat mit schönen, auch einmal älteren Frauen, an die Reacher sich nach Möglichkeit nie länger bindet.
Bild und Gegenbild
Ein Roman beginnt so: «Five Minutes to three in the afternoon. Exactly sixty-one hours before it happened.» Der andere so: «Eldridge Tyler was driving a long straight two-lane road in Nebraska when his cell phone rang. It was very late in the afternoon.» Humorlose Verortung im Hier und im Jetzt einer Erzählung, die anfängt. 61 Hours ist ein Countdown, ein Roman, in dem der zweite Satz schon wie ein Pfeil aufs Ende zielt, ein Roman, in dem alles sich schließt und in dem Reacher sich auf den gegebenen Ort einlässt, die herrschenden Kräfte sind zentripetal. (Es geht tief hinab, in eine Höhle, aus der es beinahe keinen Ausweg mehr gibt.) Worth Dying For erzählt im Offenen, transitorisch, Reacher bindet sich nicht, das Zentrifugale ist das bestimmende Moment. (Jagden im Gelände, das grenzenlos scheint.) Erstmals hat Lee Child seinen 1-Jahr-1-Roman-Rhythmus verlassen. Die beiden neuen, im Abstand weniger Monate veröffentlichten Bücher, verhalten sich zueinander nicht als Roman und Sequel, sondern wie Bild und Gegenbild.
Das gilt auch fürs Mischungsverhältnis der beiden kategorial unterschiedenen Spannungsfiguren, die das Genre in seine beiden primären Typen ausprägen. Figuren der Erstreckung von einem Anfang an ein Ende, Aufspannung eines narrativen Raums zwischen zwei starken Polen: einerseits die Fortgangsspannung des Thrillers (Idealtypus Steigerungform: Dezimationsgeschichten) und die Abduktions- und Deduktionsspannung des Detektionsromans (Idealtypus Auflösungsform: analytische Struktur, von der Leiche zum Täter, vom Geheimnis zu seiner Aufklärung). Thrill vs. Rätsel, Handeln vs. Denken, Vorwärts vs. Rückwärts, Aktiv vs. Passiv, Verfolgtwerden vs. Verfolgen, Zentrifugales vs. Zentripetales. Wie bei kaum einer anderen Serie kommt in den Romanen Lee Childs, der seinem Helden ewige Treue geschworen hat, beides immer zusammen, wobei in jedem Roman eine der beiden Figuren dominiert und Child die Grundstruktur beider Spannungsformen oft sehr gekonnt variiert und manipuliert. 61 Hours, in dem Reacher im Winter in einem Kaff in South Dakota beinahe festfriert, lässt lange nach der Identität der Verräterfigur rätseln, während immerzu eigentlich gar nichts passiert. Der Clou: Auch wer das Rätsel schnell gelöst hat, fiebert beim Warten auf Dinge, die ewig nicht eintreten, mit. In Worth Dying For ist dagegen sehr schnell klar, wo der Feind steht. Was folgt, ist einfallsreich variierte Dezimation. Virtuos, oft ein beinahe Videospiel-sublevelartiger Rätsel- wie Realitätseffekt, integriert Child Binnenspannungen als ziselierte Mise-en-abyme – etwa in 61 Hours die Suche nach einem Schlüssel, ein Katz-und-Maus-Spiel mit des Lesers Lust am Mitraten und, auf der Thrill-Seite, das in Nichts aufgelöste häusliche Warten auf einen Täter, der einfach (nicht) kommt.
Lee Childs Sprache ist einen Schlussabsatz wert. Sie ist immens karikierbar, ist also ein höchst eigener Stil. Kurz sind die Sätze, ihre Lakonik reicht von der Poesie vollkommener Effizienz in Bereiche des unfreiwillig Komischen, das jeder Übertreibung als Gefahr innewohnt. Die Welt scheint in der Sprache dieser Romane, die mit dem Blick des Helden auf sie weitgehend deckungsgleich sind, vor allem beschreibbar. Sie wird wie durch ein Fadenkreuz nach relevanten Gegenständen, Bewegungen, Instrumenten, Risiken abgesucht. Diese Sprache erweckt den Eindruck höchster Funktionalität. Reacher zieht in ihr krumme Linien gerade. Der Exzess an Gewalt, an Blut, an Vernichtungslust wird unter die geraden klaren Sätze gekehrt und kehrt doch in aller Nüchternheit als rückseitig stets miterhaschte Pathologie der Figur zurück. Lee Childs Romane sind Kompositionen in Rot, Gelb und Blau, in denen das Rot stark dominiert.
61 Hours und Worth Dying For sind in diesem Jahr im Original erschienen