medienwissenschaft

It’s not HBO, it’s TV Zum exzellenten Fernsehen jenseits des Qualitätskanons

Von Thomas Morsch

Obwohl der Begriff des «Quality Television» schon in anderen Zusammenhängen Verwendung gefunden hat – etwa in Bezug auf Prestige-Produktionen der englischen BBCoder mit Blick auf die thematischen Innovationen im US-Fernsehen der 70er Jahre – gehört es zu den bemerkenswerten Aspekten der Konjunktur der amerikanischen Fernsehserie in der vergangenen Dekade, dass sich in ihrem Zuge «Quality TV» als eine Art Genre etabliert hat, das nicht durch seine Struktur oder Semantik, seine Figuren oder Themen, sondern allein durch seinen ästhetischen Exzellenzanspruch definiert ist. Avancierte Beispiele seriellen Erzählens wie die bekannten HBO-Produktionen oder in jüngerer Zeit Breaking Bad und Mad Men haben zu einem veränderten Blick auf das Fernsehen geführt. Zu den immer wieder angeführten Merkmalen der Qualitätsserien gehören eine gewachsene Bedeutung und Visibilität des Autors, höhere Budgets, größere kreative Freiheit, innovative Themen, die Weiterentwicklung von Genreformeln und distinkte visuelle Konzepte, vor allem aber eine gesteigerte narrative Komplexität, die multiperspektivische und mehrschichtige Erzählformen, intertextuelle und selbstreflexive Bezüge, komplizierte, zur Entwicklung fähige Charaktere und eine «operationale Ästhetik» (Jason Mittell), die ihre eigenen Erzählstrategien mitkommuniziert, miteinander verknüpft. Die Wahrnehmung des Fernsehens in Feuilleton und Wissenschaft wird seit einigen Jahren nicht nur von fiktionalen Serienformaten dominiert, die Perspektive ist auch auf qualitative Spitzenproduktionen beschränkt, die einseitig am Kriterium erzählerischer Komplexität gemessen werden. Auf diese Weise hat sich ein Kanon etabliert, der sich aus einem zahlenmäßig überschaubaren Höhenkamm serieller Produktionen zusammensetzt, der auf einem eng gezogenen Rahmen ästhetischer Exzellenz beruht und damit das populäre Medium ein Stück weit sich selbst entfremdet.

Allzu umstandslos bezieht die gegenwärtige Diskussion nämlich ihr zentrales Distinktionsmerkmal aus dem Kriterienkatalog der Hochkultur und verfehlt damit wesentliche Aspekte nicht nur des Mediums im Ganzen, sondern auch der Serienproduktion. Die vorherrschende Tendenz, die Spitzenproduktionen der Fernsehserie entlang von Vorstellungen zu sondieren, die an der künstlerischen Moderne geschult sind, ermöglicht es nicht nur, dass die Serie im Feuilleton zum «Roman des 21. Jahrhunderts» avanciert, sie verhindert zugleich, dass viele televisuelle Formen des Ausdrucks, der Adressierung und des Vergnügens noch in den Blick genommen werden. Der bekannte Werbeslogan von HBO, «It’s not TV … It’s HBO», mit dem sich der Sender zu seinem eigenen Medium in Distanz setzt, nimmt den herrschenden Diskurs des Qualitätsfernsehens insofern bereits vorweg, als dass auch ihm das Fernsehen nur dort wirklich interessant erscheint, wo das Massenmedium seine eigene Antithese hervorbringt und sich der Sphäre der Kunst assimilieren lässt.

Es ist evident, dass durch diese Perspektive in der Beobachtung des Mediums auch blinde Flecken erzeugt werden. Weder Kultserien wie Buffy The Vampire Slayer oder The X-Files, die Ende der 90er Jahre allererst eine verstärkte akademische und publizistische Beschäftigung mit dem Serienphänomen ausgelöst und bis heute sehr viel steilere und aufregendere Interpretationen auf sich gezogen haben als der HBO-Kanon, noch das Genre der Sitcom, das zwar einige anerkannte Klassiker hervorgebracht hat, dessen standardisierte und hochgradig arbeitsteilige Produktionsweise aber nicht so recht durch das Nadelöhr virulenter ästhetischer Kriterien passen will, finden unter dem Schirm des Qualitätsfernsehens bequem Platz.

Auch aus anderen Gründen scheint es zum gegenwärtigen Zeitpunkt notwendig, sowohl die elitäre Fixierung auf «Qualität», wie auch das Kriterium narrativer Komplexität zu hinterfragen. Dass dieses den Weg zu einer – mit Kant gesprochen – «heteronomen» Vereinnahmung ebnet, hat vor einigen Jahren Steven Johnsons Buch Everything Bad Is Good ForYou (2005) gezeigt, das nicht nur in übersichtlichen Diagrammen die strukturelle Überlegenheit der Sopranosgegenüber Starsky and Hutch nachweist (und damit einer direkten Messung des IQs einer Serie schon recht nahe kommt), sondern die gefeierten Serien mit ihren barocken Verästelungen, ihrer polyrhythmischen Dramaturgie und ihren vielfädrigen Erzählungen gleich als kognitives Trainingslager und Verkörperungen einer – so der Titel der deutschen Übersetzung – «neuen Intelligenz» versteht.

Ambivalenzen des Populären

Man muss das Fernsehen nicht als Medium einer karnevalistischen Gegenkultur instrumentalisieren wollen, um zu monieren, dass sich aus der intellektuellen Anforderung, die eine Serie stellt, noch keine ästhetische Qualität ableiten lässt. Komplexität stellt an sich schon deshalb noch kein überzeugendes Qualitätsmerkmal dar, weil sich auch mit komplexen formalen Mitteln allerlei Konservatives und Einfältiges erzählen lässt. Gleichzeitig bleibt in der Affirmation einer seriellen Spitzenproduktion die Frage ausgeblendet, wie und in welchen Fällen aus der narrativen auch eine repräsentationale Komplexität erwächst, wo also aus den formalen Strategien auch eine entsprechend komplexe Perspektive auf Themen und Sachverhalte resultiert. Die Orientierung an erzählerischer Komplexität als Garant für Qualität hat nicht nur die dezidiert einfachen Formen des Fernsehens aus dem Fokus der Aufmerksamkeit gedrängt und das Medium damit zugleich ein wenig gezähmt; es handelt sich auch um ein recht reduziertes Verständnis von Komplexität, das damit verabsolutiert wurde.

Die Cultural Studies, denen man zu Recht eine mangelnde Aufmerksamkeit für die ästhetische Dimension ihrer Untersuchungsgegenstände vorgeworfen hat und denen (mit der Ausnahme von Simon Frith, der in seinem Buch Performing Rites explizit die Frage ästhetischer Werte im Kontext der Popmusik zum Thema gemacht hat) Wertfragen immer verdächtig gewesen sind, haben ebenso zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass populäre Texte ganz unabhängig von ihrem ästhetischen Anspruch eine Komplexität besitzen, die sich aus ihrer multiplen Anschlussfähigkeit und ihrer offenen, widersprüchlichen Gestalt ableiten. Die kulturelle Komplexität, die von John Fiske und anderen in der Heterogenität von Sendungen wie beispielsweise Wrestling-Shows, Minipops oder Cagney and Lacey nachgewiesen wurde, hat wenig mit narrativer Innovation, viel aber mit der grundlegenden ambivalenten Strukturierung des Populären zu tun. Ein solches Bild seines Gegenstandes ist dem Qualitätsdiskurs fremd: Die Revitalisierung einer starken auktorialen Instanz, eines Autors, bei dem alle ästhetischen Fäden zusammen laufen und der als Aufseher über den «writer’s room» das Gesamtbild der Serie bestimmt und ihre «Homogenität» garantiert, lässt die Idee eines durch widerstreitende Intentionen, Ambivalenzen und Widersprüche charakterisierten, heterogenen Textes obsolet erscheinen. Nirgendwo deutlicher als hier zeigt sich das repressive Moment, das der Autorenfunktion und einer mit ihr verknüpften Exzellenzbehauptung inne wohnt.

Übersehen wurde aus diesem Grund in den vergangenen Jahren eine herausragende Serie wie Nip/Tuck (Ryan Murphys Projekt vor Glee), die eher optisch als narrativ in komplexer Weise über sieben Jahre hinweg eine nie homogene und stets ethisch riskante Geschichte zweier Schönheitschirurgen erzählt. Ebenfalls übersehen wurde die Serie Boston Legal, in der David E. Kelley unter dem Deckmantel eines ebenso verqueren wie unapologetischen Machismo und einer mit Whiskeygläsern und Zigarren ausstaffierten Männerfreundschaft die brisanten Themen der Politik der letzten Jahre auf das Parkett juristischer Rhetorik gezerrt hat. Diese im besten Sinne unausgewogenen Serien taugen ebenso wenig für den etablierten Kanon wie das Formelhafte und Schematische, das unsichtbar im Windschatten der Spitzenproduktionen mitläuft.

Solche Versäumnisse drängen darauf, den Serienkanon ebenso wie das mit ihm verbundene Kriterium narrativer Komplexität zur Disposition zu stellen. Liegt nicht doch, so möchte man angesichts von Serien wie Smallville, Ugly Betty und Burn Notice fragen, eine wesentliche Qualität des Fernsehens gerade in seiner mangelnden Sophistizierung?