theorie

Nobody is perfect Stanley Cavells Cities of Words liegt jetzt auch in deutscher Übersetzung vor: «Ein moralisches Register in Philosophie, Film und Literatur»

Von Felix Koch

Stanley Cavell ist als Autor einiger einflußreicher philosophischer Texte einerseits, einer Reihe ausführlicher und eigenwilliger Filmlektüren andererseits bekannt geworden. Cities of Words, im Englischen 2004 erschienen, ist der Versuch einer Synthese. Es beruht auf einem Vorlesungskurs, den der mittlerweile 84-jährige Cavell über Jahrzehnte hinweg in Harvard und Chicago gehalten hat. Exegesen philosophischer Klassiker (und einiger literarischer Texte: Shakespeare, Shaw, Henry James) wechseln sich darin mit Filmlektüren ab. Beide stehen im Zeichen der Rekonstruktion und Rehabilitierung einer philosophischen Tradition, die Cavell mit dem zu ihrem Antipoden erhobenen John Rawls als «Perfektionismus» bezeichnet.

Die Auswahl der Filme wird Cavell-Lesern bekannt vorkommen. Es ist im wesentlichen dieselbe Gruppe von Komödien und Melodramen des klassischen Hollywoodkinos, die bereits in einigen früheren Büchern – insbesondere Pursuits of Happiness und Contesting Tears – verhandelt wurden, von It Happened One Night über The Awful Truth bis zu Gaslight und Adam’s Rib. Was die unmittelbare Lektüre dieser Filme betrifft, ist vieles den älteren Büchern entlehnt; Cavell selbst verweist immer wieder auf sie zurück. Die Vorlesungen rekontextualisieren die Filme, indem sie sie als Medien philosophischer Selbstvergewisserung in Szene setzen.

Trotz der von Cavell behaupteten Vergessenheit des perfektionistischen «Registers» – denn eine Theorie will es nicht sein – decken sich dessen hier aufgerufene Protagonisten ein gutes Stück weit mit dem gängigen Kanon der abendländischen Philosophie, von Platon und Aristoteles bis hin zu Nietzsche und Mill. Allerdings nicht restlos. Erstens sind da die prominenten Gegner in den eigenen Reihen (der Philosophie): die beiden hegemonialen Typen der modernen Moraltheorie, Utilitarismus und kantianische Pflichtethik, die das Ideal einer moralisch anspruchsvollen Praxis angeblich auf ein lebensfernes und unterkomplexes Kalkül reduzieren. Zweitens der von der offiziellen Philosophie verleugnete Sohn, Ralph Waldo Emerson, mit dessen Installation im Kanon die Wiedererschließung des Perfektionismus für Cavell ein Stück weit gleichbedeutend ist.

Werde, der du bist

Worin genau dieser eigentlich besteht, ist nicht ganz leicht zu ermitteln. Das umfassendste Angebot einer Bestimmung, auf den letzten Seiten des Buches, erscheint eher wie eine Kapitulation: es besteht in der Auflistung von achtundzwanzig «perfektionistischen Themen» in Platons Politeia. Perfektionismus, wie er Cavell vorschwebt, ist – vage gesprochen – eine Haltung, die aus einem Moment der Krise oder der Unzufriedenheit mit sich selbst resultiert und die einen Prozess der Selbstveränderung als notwendig erscheinen lässt. Die Krise ist paradigmatisch eine Krise des Sprechens, die Unfähigkeit, sich verständlich zu machen oder sich Ausdruck zu verschaffen, anderen (hier kommen die Komödien ins Spiel) wie sich selbst gegenüber. Für den darauf folgenden Prozess kennt und nennt Cavell verschiedene Bilder, die er durch die Texte seiner philosophischen Gewährsleute hindurch verfolgt: Konversion, Neuerziehung, Wiedergeburt, Befreiung (zum Beispiel aus der platonischen Höhle), sogar Verklärung und Metempsychose, vor allem aber: das «Finden der eigenen Stimme», das heißt: die (Wieder-)Erlangung der Fähigkeit zum Ausdruck und damit auch erst zur gehaltvollen Affirmation von überhaupt irgendetwas.

All das ist zeitweilig nah an der Platitüde, zu der es sich – vielleicht auf nachvollziehbaren Pfaden von Emerson über Nietzsche und Heidegger bis hin zur spätkapitalistischen Verwertung von Existenzialismus und Psychoanalyse – tatsächlich entwickelt hat: «Werde, der Du bist», Selbstfindung, Arbeit an sich, etc. Aber das Platitüdenhafte bereitet Cavell, dem philosophischen Apologeten der «Alltäglichkeit», keine Sorge. Eher ist es umgekehrt die alltägliche Erfahrung des perfektionistischen Imperativs – die ebenfalls klischierte Rilke-Zeile, die ihn einfängt, bleibt dankenswerterweise unerwähnt – deren Artikulation nach Cavell in den von ihm angeführten Filmen exemplarisch stattfindet und sie damit der eingehenden Lektüre würdig macht. In der «remarriage comedy» sind es die beiden Hälften des anfangs zerfallenen Paars, die sich gegenseitig «erziehen» und steigern und damit jeweils über sich selbst – über das, was sie waren – hinauswachsen.

Was sich dort dialogintensiv im Privaten vollzieht, artikuliert die Tradition des Perfektionismus zugleich als politischen Horizont. Der Titel des Buches greift Sokrates’ Beschreibung seines Unterfangens in Platons Politeia auf: Die wohlgeordnete Polis, die er im Gespräch entstehen lässt, ist eine «Stadt aus Worten». Wenn Cavells Vorlesungen ein zentrales Bild haben, dann ist es das des Gesprächs, der Unterhaltung, und zwar als einer «bildenden» Tätigkeit, aus der die Teilnehmer – jeder für sich, aber insbesondere in ihrem Verhältnis zu einander – transformiert hervorgehen. Sprechen, so betonte einer von Cavells philosophischen Helden (und sein Lehrer in Oxford), John Austin, ist eine Art des Handelns. Es berichtet nicht bloß über Tatsachen in der Welt, sondern schafft sie zugleich. Das perfektionistische Gespräch ist eine komplexe gemeinsame Handlung. Es bewährt sich nicht in seinen Gehalten, sondern in seinem Vollzug, indem es seine Teilnehmer in eine öffentliche und verhaltenswirksame Suche nach dem jeweiligen und vor allem dem gemeinsamen Guten hineinzieht.

Mantra und Melodie

Indem sie unter Cavells Händen zu Imaginationen eines solchen gemeinschaftsstiftenden Gesprächs abgemildert werden, verlieren allerdings die normativen und gesellschaftskritischen Entwürfe der Philosophen, die er in diesen Vorlesungen aufgreift, ihre polarisierende Verbindlichkeit und damit ihr Potential, selber als Anstöße perfektionistischer Krisen zu dienen. Als ihr kleinster gemeinsamer Nenner bleibt ein generischer und allzu konsensfähiger Appell gegen diverse Formen von Stillstand, Stagnation, Verknöcherung und Gesprächsverweigerung. Im Vergleich zu Cavells Insistenz auf einer irgendwie gearteten demokratischen Verpflichtung zur gegenseitigen Vervollkommnung auf ihr säkulares Heil bedachter Bürger erscheint der heute vielfach als «unpolitisch» geschmähte liberale Egalitarismus eines John Rawls, der hier für die Rolle des Perfektionismusverächters herhalten muss, schon wieder als eine Form von politischem Radikalismus.

Cavells Buch eröffnet mit nicht weniger als zwanzig Epigraphen. Daraus lässt sich nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Form des Buches schließen. Mehr noch als Cavells frühere Werke ist es trotz seiner scheinbar einfachen Struktur und seiner erklärten thematischen Eingrenzung auf dezidierte Weise ausufernd. Cavell, so hat man den Eindruck, möchte immer möglichst alles zugleich sagen, oder zumindest doch: erwähnt haben. Das schlägt sich auf allen Ebenen seines Schreibens nieder – von den mit Einschüben und Einwürfen durchsetzten, wie gegen den Wind kreuzenden Sätzen über die assoziativ mäandernden Kapitel bis hin zu der ins Enzyklopädische strebenden, am Zwang zur Selektion ostentativ leidenden Zusammenstellung der Autoren.

Weil zu keinem Moment irgendetwas ganz ungesagt bleiben darf, ist nichts jemals ganz gesagt. Daraus ergibt sich ein handfester Wiederholungszwang. Nicht, dass das ein Makel sein müsste. Cavells Anspruch, hier einmal mehr in der Nachfolge Emersons, ist ein unverhohlen «pädagogischer» (so ein Teil des Untertitels, der in der deutschen Ausgabe unerklärlicherweise fehlt) und verlangt daher nach bestimmten rhetorischen Mitteln. Sein Ziel ist nicht einfach eine Darstellung perfektionistischen Denkens, sondern eine Einübung in es, die auf das eine oder andere Mantra nicht verzichten will. Der mündliche Ton der Vorlesungen bleibt im Buch präsent. Cavell zitiert, assoziert, extemporiert und erreicht dabei im besten Fall den Sog einer quasi wagnerianischen unendlichen Melodie von großer gedanklicher Dichte. Im schlechtesten Fall wird der Leser, zwar immer wieder direkt angesprochen, zum Zeugen eines langwierigen, vielstimmigen Selbstgesprächs. So oder so ist dieser Rundumschlag in mancher Hinsicht sein zugänglichstes Buch. Wer mit Cavell bekannt werden möchte, bekommt hier value for money.

 

Stanley Cavell: Cities of Words. Ein moralisches Register in Philosophie, Film und Literatur (Chronos Verlag 2010)