Treibgut Zu Dérives, einer französischen Zeitschrift, der DVDs mit Filmen von Jean-Claude Rousseau und Akram Zaatari beiliegen
Ein Zitat aus einem französischen Schulbuch (ich übersetze):
«Jede Geographiestunde sollte entweder vorbereitet oder ergänzt werden durch ein Studium des Geländes, die Lektion eines Spaziergangs. || Doch kann man ja nie, weder auf der Primarschule noch auf der Elementarstufe, alles sehen oder zeigen, vor allem, wenn es darum geht, die ganze Erde zu entdecken. || Es sind also Bilder nötig.»
Neben das Editorial der ersten Nummer der Zeitschrift Dérives (Mai 2007) gestellt, ist dieses Zitat so etwas wie die Indikation eines cineastischen und cinephilen Wirklichkeitssinns. Auf der Dérives-Internetseite (unter der Rubrik «Tribunes») findet sich denn auch ein Ausschnitt aus Itinéraire d’un ciné-fils (1992), der zur Quelle dieser «Geographiestunde» zurückführt: Serge Daney redet da, befragt von Régis Debray, über seine Kindheit, das Radio, die Kinobesuche im eigenen Viertel – aber das erste Bild, das er vor Augen gehabt habe und das «ihn angeschaut habe», sei eben die noch kindlich zu erforschende Landkarte der Erde gewesen. Die habe, durchaus programmatisch, ein Versprechen enthalten, das später vom Kino übernommen worden sei: sich über diese Erforschung, die Mystik des Zu-Fuß-Gehens, zum Weltbürger zu machen.
Sowohl auf den den Heften beigelegten DVDs wie auch auf der Internetseite gibt es die Rubrik «Vues du monde»: das sind, nach dem Vorbild der von Lumière in die Welt hinausgeschickten Kameraleute, Ansichten oder Bilder der Welt, die von je bestimmten Orten kommen und räumlich und zeitlich singulär sind – eine Art «Gegenschuss» bilden zu den in den Medien verbreiteten Aktualitätsbildern. Vorschläge, heißt es da, seien willkommen.
Im französischen Wort «Dérives» steckt tatsächlich zweierlei: einerseits die Abweichung, das Sich-treiben-lassen, das Driften (man erinnere sich an den Film La Dérive / Treibgut von Paula Delsol, 1964) – und als Verb steht «dériver» wiederum auch für «herleiten», «ableiten», «abstammen». Es ist also, wie wenn das Wort schon mehr wüsste – es sind zwei Bedeutungen darin angelegt, die nur dann, wenn sie zusammengehen, etwas Elementares berühren oder aufscheinen lassen könnten. (Vielleicht hat Ludwig Hohl mit seiner Wortschöpfung aus den 30er Jahren – «Von den hereinbrechenden Rändern» – etwas Ähnliches vorgeschwebt.)
«Wir würden gerne Filme, Texte, Arbeiten mit Ton bekanntmachen, die wenig oder gar nicht verbreitet sind. Mit jedem Heft gehen wir von einem gegebenen Punkt aus und weichen davon ab. Die erste Nummer findet diesen Punkt, ihren Anker, im Werk des Cineasten Jean-Claude Rousseau, welches uns zu einer Reflexion über das Bild und den Ort führt.» In diesem ersten Dérives-Heft gibt es dann auch eine hochinteressante «Abweichung»: nämlich zu dem Pädagogen, Anthropologen, Philosophen und Poeten Fernand Deligny (1913–1996), der mit schwererziehbaren und autistischen Kindern zusammenlebte und auch Filme gemacht hat. (Worin er eine Möglichkeit sah, Kontakt mit den Autisten aufzunehmen: «Irrlinien», so der Titel eines seiner Bücher, aufzuzeichnen, Wege im Gelände, Gesten, Rituale als Sprache vor der Sprache wahrzunehmen und in Landkarten/Zeichnungen und eben auch auf Film festzuhalten.) Truffaut soll sich an ihn gewandt haben als er Lesquatre cent coupsrealisierte, und für Deleuze/Guattari war Deligny eine wichtige Referenz, als es um Anti-Psychiatrie und die Idee des Rhizoms ging.
Auf der einen der zwei DVDs also Filme von Jean-Claude Rousseau (das oben übersetzte Schulbuch-Zitat ist seinem Film La vallée close von 1995 entnommen): Jeune femme à sa fenêtre lisant une lettre (1983, Super8, 45 Minuten), Deux fois le tour du monde (2006, DV, 8 Minuten), Faux départ (2006, DV, 12 Minuten). Und im Heft selbst wären, neben aktuellen Beiträgen (Silvain Maestraggi bringt Rousseau und Blanchot im «Risiko der Leere» zusammen), vor allem die 2003 und 2004 von David Yon mit Jean-Claude Rousseau in Paris geführten Gespräche hervorzuheben, die zu dichten Texten in drei Kapiteln («das Bild»/«die Realisation»/«der Film») montiert sind. Dabei muss sofort das Außenstehende und Alleinstehende von Rousseau und die Kohärenz seiner Sichtweise ins Auge fallen – das Empfinden also, es hier mit einem Künstler (ohne Anführungszeichen) zu tun zu haben. (Huillet-Straub haben ihm schon früh ihre Wertschätzung zukommen lassen.) Was Rousseau da sagt, scheint mir anzuschließen an die große französische Tradition der über ihr Metier (und letztlich über die Kunst) sich äußernden Maler – nur ist es hier ein Filmemacher, der spricht.
Dérives Nr. 2 (März 2010) wendet sich dem arabischen Raum zu, stellt die Filmemacher Akram Zaatari (Libanon) und Tariq Teguia (Algerien) in den Mittelpunkt. Zaatari, der von sich sagt, Godards «erneute Lektüre» des Materials von Ici et alleurs sei für ihn entscheidend gewesen, geht es vor allem um die unsichtbare Geschichte seines Landes, um die Frage der Darstellbarkeit, der Bildpolitik und des Archivs. (Er ist als DAAD-Stipendiat im Juli dieses Jahres auch im Berliner Arsenal vorgestellt worden.) Von Teguia, der wie Zaatari mit einem längeren Gespräch im Heft präsent ist, gibt es auf der DVD nur einen einzigen Film – La Clôture / Haçlà (2004, 24 Minuten) –, der es aber in sich hat. Jedenfalls habe ich kaum je junge Männer, oder auch schon etwas ältere, in Hauseingängen und dunklen Ecken so wutvoll und doch nicht unreflektiert reden hören: Einer, nachdem er sich vorgestellt hat, fügt hinzu «unglücklicherweise Algerier», um dann wie die andern seinem Überdruss, seiner Frustration und seiner Hoffnungslosigkeit Luft zu machen. «Reißt uns das Wort ‹Freiheit› aus den Köpfen!», schleudert ein anderer am Ende seiner emotional aufgeladenen Rede heraus, aufgebracht darüber, dass sein Leben kein Leben ist. Was sie beschreiben, ist die Falle, in der sie sich ausweglos gefangen fühlen – der «Einschluss» des Titels –, womit gemeint ist: die Stagnation und Starre der Regierungspolitik (die abgebrochene Öffnung des Landes) auf der einen Seite – der islamistische Terror auf der anderen. (Unter den Liedern im Film gibt es sogar eines, das den Mut aufbringt, die Islamisten zu verspotten.) Szenen aus dem Stadtleben – mit Ansammlungen junger Männer vor bestimmten Lokalen – machen klar, dass die, die im Film zu Wort gekommen sind, nicht nur für sich gesprochen haben.
Dazu verhält sich der Film Soliloque 3 (1992, 37 Minuten) der in Genf lebenden Filmemacherin Véronique Goël komplementär: sie hat in Oran gefilmt (eine Stadt, von der sie sich durch ihr Licht und ihre Eleganz, auch durch die euphorische politische Atmosphäre bei früheren Aufenthalten angezogen fühlte) – nur um festzustellen, welch tiefer Graben (wie sie im Dérives-Interview sagt) Frauen und Männer trennt. Der Film, ein «Selbstgespräch» mit filmischen Mitteln, ist aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt: statische Einstellungen aus und Fahrten durch Oran – einzelne Schwarz-weiß-Fotos – dann eine Montage von Fotos, die Freude und Überschwang zeigen, die Beteiligung von Frauen auch am politischen Leben – Texte von Kateb Yacine aus zweien seiner Bücher – ein kabylischer Frauengesang zu Bildern des nächtlichen Oran – am Ende das Siegerfoto der algerischen Mittelstrecklerin Hassiba Boulmerka, die als erste muslimische Frau 1991 in Tokio einen Weltmeistertitel holte und im Jahr darauf in Barcelona Olympiasiegerin wurde. (Als persönliche Erinnerung kann ich hier anfügen: ich habe diesen Weltmeisterlauf damals am TV gesehen – ein denkwürdiger Sportmoment. Man wusste ja um Boulmerkas Situation als Frau in Algerien, fieberte schon mit ihr mit – sah sie mit Vorsprung in die Zielgerade des 1500 Meterlaufs einbiegen und plötzlich wie vor Schreck zögern, den Bruchteil einer Sekunde lang, um dann doch weiterzulaufen und noch zu gewinnen. Sie schien einen Augenblick lang wie vor der Leere dieser letzten 100 Meter und dem Sieg zu erstarren … aber wahrscheinlich haben selbst die Islamisten, die sie später angefeindet und bedroht haben, ihr in diesem Moment innerlich zugerufen: «Lauf, Mädchen, lauf!»)
Die Dérives-Internetseite wartet mit zusätzlichen Materialien zu den jeweiligen Themenheften auf (Dérives Nummer drei soll 2012 Stephen Dwoskin gewidmet sein) und stellt natürlich auch darüberhinaus eine Menge an Filmen, Texten, Bildern und Tönen zur Verfügung. Ich hebe hervor: die «Dossiers» zu ausgewählten Regisseuren (so ist hier, bei Huillet-Straub, in französischer Retranskription, das Gespräch nachzulesen, das Pierre Clémenti, Miklos Janscó, Glauber Rocha und Jean-Marie Straub 1970 in Rom geführt haben), die «Bibliothek», mit Texten von Fernand Deligny, dann von Yves Klein, Guy Debord, Gilles Deleuze, Roland Barthes, Antonin Artaud, Henri Matisse bis hin zu Nietzsche und Kafka. Bemerkenswert finde ich auch die «Documents pratiques»: das sind Texte zur Praxis des Filmemachens – denn es handelt sich ja hier um einen Umkreis von Leuten, die Projekte initiieren und Veranstaltungen machen: einen «Resonanzraum» herstellen wollen für sonst wenig sichtbare/hörbare Texte, Bilder, Filme und Töne.