theorie

Unsichtbare Macht Mit Blick auf die Gegenwart des Bildes begibt sich die Kunsthistorikerin Marie-José Mondzain auf die Suche nach der «Ökonomie» der spätbyzantinischen Ikonenlehre

Von Lotte Everts

Um es vorweg zu sagen: Mir ist nicht immer klar gewesen, worum es in diesem Buch geht. Marie-José Mondzain hat es als Antwort inszeniert, doch nimmt die zugrundeliegende Frage erst gegen Ende eine greifbare Form an. Mondzains Arbeit ist multidisziplinär, das macht es nicht einfacher: Für Bild, Ikone, Ökonomie legt sie Quellen und Schriften der spätbyzantinischen Ikonenlehre aus und bedient sich dabei, gern ohne Erläuterung, theologischer Termini. Philologisch rekonstruiert und rehabilitiert die Kunsthistorikerin einen Begriff von «Ökonomie», der zugleich Ewigkeit und Wirklichkeit eines Gesetzes meint, ohne dass der Begriff für den Fortgang der Arbeit notwendig würde.

Bildhistorisch zeigt Mondzain, warum die Ikone in den Jahrzehnten um 800 das Universalinstrument kirchlicher Macht werden konnte. Dies wird außerordentlich deutlich, und auch die eigentlich bildtheoretische Pointe Mondzains lässt sich daraus ableiten. Unklar bleibt aber, warum die Autorin ihrem Text die lose Form einer «Rechenschaft» über den gedanklichen Weg lassen musste, den sie «selbst zurückgelegt» hat. Auch die vielversprechende Ankündigung, «die moderne Frage des Bildes überhaupt» berühren zu wollen, bietet wenig Orientierung, weil Mondzain es zunächst vermeidet, sie zu nennen. Erst wenn sich diese Frage am Ende «manifestiert» hat, zieht das die bildpolitische Klammer um Mondzains Buch etwas enger.

Listenreiche Kirche

Bild, Ikone, Ökonomie hat zwei Höhepunkte: Die Auslegung des spätbyzantinischen Ökonomiebegriffs und die Erläuterung der Ikone als ideales Werkzeug einer listenreichen Kirche. Beide führen tief in die Geschichte des Bildes zurück.

Das alttestamentarische Bilderverbot («Du sollst Dir kein Bildnis machen») stand der byzantinischen Kirche während der zweiten ikonoklastischen Krise im Weg, als sie sich mit der kaiserlichen Krone im Streit darum befand, wer Gottes Willen auf Erden repräsentieren durfte. Die weltlichen Herrscher beanspruchten das Recht auf Abbildung für sich und waren damit im alleinigen Besitz eines mächtigen Instruments der Selbstverherrlichung, das sich überallhin verbreiten ließ. Um da mitzuhalten, war die Kirche gezwungen, das biblische Verbot zu brechen und dies theologisch zu legitimieren: die Christus-Ikone (als Prototyp jeder Heiligen-Ikone) musste mit einer Lehre bedacht werden, welche die geheiligte Verbindung zwischen dem sichtbaren Bild und seinem unsichtbaren Modell anschaulich machte und zugleich verhindern konnte, dass die Ikone an Christi Stelle verehrt wurde. Denn das Göttliche, so das Dogma, kann durch den Menschen nicht hergestellt werden, es ist unteilbar und immateriell.

Laut Mondzain war es ein ökonomisches Denken, das es der Kirche schließlich gestattete, ihre Ikonen durch die theologische Autorität der frühen Kirchenväter zu legitimieren. Fast fünfhundert Jahre zuvor hatten die älteren Patriarchen bestimmt, wie die paradoxe Einheit der Trinität zu denken sei. Vor allem um die Inkarnation und das Verhältnis zwischen Vater und Sohn zu bestimmen, bedienten sich die frühbyzantinischen Patriarchen des Bildes als Beispiel. Mal analog zu diesen Bestimmungen, mal in deren subtiler Verzerrung, konnten die ikonophilen Kirchenväter nun ihrerseits das Verhältnis zwischen Christus (dem Bilde des Vaters) und dessen Bild, der Ikone, erläutern.

Mondzain zeigt anhand einer akribischen Quellenauslegung, dass es der Begriff der Ökonomie war, in dem in Byzanz ein ideales Gesetz (Trinität) mit dessen Wirksamkeit in der realen Welt (Inkarnation) zusammengedacht wurde. Historisch ist diese Begriffsherleitung erhellend, zum Beispiel stellt Mondzain heraus, wie die Kirche ihre Lehre an die Wirklichkeit anpasste und damit selbst den Anstoß zur Emanzipation von eben dieser Lehre gab. Auch wird später im zweiten Buchteil deutlich, dass und warum die Ikone geeignet war, die Dogmen der christlichen Lehre in der Realität manifest zu machen. Aber ist deswegen die Ikone ökonomisch? Handelt sie ökonomisch? Funktioniert sie im Sinne ökonomischen Handelns – oder ähnelt sie der Ökonomie? Mondzains fortan inflationäre Verwendung des eben noch scharfen Begriffs klärt diese Fragen nicht – bis irgendwann der Eindruck entsteht, dass die Lehre der Ikone analog zur Inkarnationslehre auch einfach ohne die Ökonomie zu verstehen sein könnte.

Strukturelle Ähnlichkeit

Eines der schönsten Argumente Mondzains für die substanzielle Einheit der Trinität lautet: Wenn Christus als das Fleisch gewordene Wort ein Bild des Vaters ist, dann sei dieses Bild nicht abgespalten von seinem Modell, da ein Bild von etwas nicht einfach eine zweite Sache sei, sondern in Relation zur ersten existiere. In den ikonophilen Schriften heißt es: Während allein für Gottvater und Christus die (paradoxe) Relation der Konsubstanzialität

oder Wesensgleichheit gelten dürfe, da trotz der Einheit einer Bild des anderen sei, so gelte für das Bildverhältnis zwischen Christus als dem «natürlichen Bild» und der Ikone als dem «künstlichen Bild», dass sie zwar in vergleichbar intimer Relation zueinander stünden, ohne jedoch Teil an derselben Substanz zu haben. Diese Relation bestehe in einem «Bezogensein auf», in einem «Sein zu etwas hin», welche angesichts der formalen Übereinstimmung kenntlich werde.

«Formale Übereinstimmung» ist dabei eine durchaus schwierige Bestimmung. Denn wie etwa der Patriarch Nikephoros schreibt, macht die Ikone zwar «durch die Ähnlichkeit und die Erinnerung an die Form das Abwesende sichtbar […] als ob es anwesend wäre». Allerdings dürfe man dem (abwesenden) Christus «nicht das Geringste von den Attributen beilegen» die der Ikone zukommen, eine Ähnlichkeit zur sinnlichen Erscheinung sei also ausgeschlossen.

Mondzains größte Mühe besteht deswegen darin, den Begriff der Ähnlichkeit oder formalen Übereinstimmung im Sinne der ikonischen Lehre positiv zu füllen. Im Fortgang des Textes umkreist sie in oft nervenaufreibend glitzernden Metaphern die geschickten kirchenväterlichen Wendungen. Das ist zwar auch den Aporien der rationalen Begründung religiöser Dogmen selbst geschuldet, die allerdings zu denken Mondzain insgesamt verhelfen möchte. Ausgerechnet ihre zierlichsten Wendungen stehen dem Verständnis aber eher im Weg.

So kann es dauern, bis die formale Übereinstimmung zwischen der Ikone und der Inkarnation als strukturelle Ähnlichkeit (ein Begriff, den Mondzain in diesem Zusammenhang unbegreiflicherweise vermeidet) plastisch wird: Wie der Körper der Jungfrau Christus umgab, wie ihr Uterus ihn als Kontur umschrieb, ohne seine Unendlichkeit zu begrenzen, begrenzt auch die Linie auf der Ikone keinen Gegenstand, sondern eigentlich nichts. Das Strahlen aus dem Inneren der Linie heraus, das auch Maria umgab, entspricht keiner materiellen Präsenz, sondern dem Druck einer Abwesenheit, deren Saum Uterus und Kontur bilden. Wie durch Christus nicht das Fleisch göttlich wurde, sondern sich durch seine Gestalt der Blick Gottes auf Erden manifestierte, so geht Christus nicht in seine Ikone ein. Die Ikone ist vielmehr sein Denkmal – das ihm jedoch nicht konventionell zugeordnet ist, sondern in intimer Beziehung zustrebt, so dass sich sein Blick in der Ikone manifestiert. Und wie Maria schwanger wurde durch das Wort in der Stimme des heiligen Geistes, so gibt die obligatorische Inschrift der Ikone ihren Namen, welcher der Name Christi ist. Auf diese Weise wird deutlich, wie weder das Innere der Linie Christus sinnlich ähnlich ist, noch ihre Peripherie der Jungfrau. Und auch die Inschrift ähnelt nicht dem Wort Gottes. Vielmehr ähneln die Beziehungen zwischen den Elementen der Ikone einander strukturell.

Diesem Gedankengang zufolge wird die Ikone unter den ikonophilen Bestimmungen ein abstraktes Denkmal der Inkarnation. Dass es als solches dem, dessen es gedenkt, nicht konventionell, sondern in intimer Weise zustrebt, bleibt zwar eine dogmatische Bestimmung: das soll so sein. Die besondere Plausibilität des Bildes aber, mit der es eine ihm zugeschriebene Bedeutung anschaulich machen kann, nutzten die Patriarchen für ihre Sache: Das Dogma der Inkarnation als unsichtbarer Sinn wird analog zur Konstitution der Ikone ästhetisch manifest. So verstanden ist in der Ikone niemand zu sehen. Eher liegt die Autorität ihrer Wahrheit wie ein Druck oder Blick auf ihrem Betrachter – und macht sie zu dem universalen Instrument, um die Botschaft der Kirche überall zu verkünden.

Moderne Frage des Bildes

Bildhistorisch und -theoretisch wirklich erhellend führt Mondzain hier vor, worin die byzantinische Lehre der Ikone grundlegend für das heutige Bildverständnis ist. Aus ihr lässt sich plötzlich sehr einfach ableiten, dass das berühmte Unsichtbare im sichtbaren Bild nicht notwendig in der ebenso berühmten Abwesenheit des figurativ Dargestellten besteht. Auch wenn das Fleisch des Bildes, die Farbe und die Linie nicht als Figurationen, sondern z.B. als Analoga eines abstrakten Sinns zu begreifen sind, als strukturell ähnlich in der Bestimmung, die sie als Relativa einander zukommen lassen, kann im nichtfigurativen Bild unsichtbare Bedeutung anschaulich manifest werden. Das ist ein originelles Argument im bildtheoretischen Streit darüber, ob abstrakte Bilder überhaupt Bilder seien, ob sie Abwesendes ästhetisch vergegenwärtigen können. Figuration, so zeigt sich, ist nur eine Variante des Bildlichen.

Mondzains «moderne Frage des Bildes» resultiert nun vor allem aus diesem bildtheoretischen Zusammenhang. Weder bedarf sie unbedingt der noch lose angefügten Essays über Fotografie (eher anekdotisch) und antisemitische Ikonografie (erhellend!). Noch braucht es chiffrierte Ansprachen an die Leserin («Welches Bild wird, wenn die steigende Flut der zu sehenden Dinge sich zurückzieht, am Strand zurückbleiben? Wo ist der Rebell, der die Figur unserer gegenwärtigen Freiheit sein wird?»), um sie zu reformulieren. Die byzantinische Lehre der Ikone hat ohne es zu wollen gezeigt, dass die jeweilige Macht eines Bildes in eben jener besteht, die sein Betrachter dem Unsichtbaren hinter dem Bild zugesteht. Die Botschaft des Bildes ist mächtig, zeigt Mondzain, aber was sie verkünden soll, obliegt nicht dem Bild selbst. Und deswegen lautet die «moderne Frage des Bildes» nicht nur Worin besteht die Macht des Bildes?, sondern eigentlich: Worin soll sie bestehen?

Marie-José Mondzain, Bild, Ikone, Ökonomie. Die byzantinischen Quellen des zeitgenössischen Imaginären, Diaphanes 2011 (erscheint im Frühjahr)