theorie

Yabadabadioo! Als Cinephilen hatte man ihn bislang nicht auf der Rechnung: Zu Alain Badious Kinobuch

Von Ekkehard Knörer

In Henri Langlois’ Cinémathèque in der Rue d’Ulm waren in den 50ern die üblichen Verdächtigen nicht unter sich – jene also, die als «Nouvelle Vague» das Kino und das Schreiben darüber neu erfanden, aus dem Geist der Cinephilie. Es war auch ein anderer da, «eigentlich jeden Abend», einer, den man als Cinephilen bislang nicht unbedingt auf der Rechnung hatte: der Philosoph Alain Badiou. Im ersten Satz des Interviews, das Antoine de Baecque mit ihm führt, zum Auftakt eines Bandes mit Badious gesammelten Schriften zum Kino, stellt er so einfach wie nachdrücklich fest: «Das Kino ist essenziell für meine Existenz und für das, was ich über das Leben und die Ideen gelernt habe.» Badiou war in den 50ern «ein eingefleischter», dabei ein «isolierter Cinephiler», er schrieb früh und kontinuierlich über das Kino, und obwohl es sicher nie im Zentrum seiner Veröffentlichungen stand, entwirft er in den Texten, die nun – von 1957 bis 2010 sich erstreckend – in einem Band vorliegen, etwas wie eine Philosophie des Kinos als siebter Kunst.

Es gibt kein Werk, keine Monografie, keinen Wurf, keinen großen Aufriss, nichts, das mit Gilles Deleuzes zwei Bänden zum Film im Ansatz vergleichbar wäre. Alain Badious Theorie des Kinos ist verstreut, über die Jahrzehnte, die Politiken, die Gelegenheiten, die Erscheinungsorte. Letztere sind besonders interessant, weil sie Badious exzentrische Stellung zu den herrschenden Diskursen französischer Cinephilie (nicht nur freilich zu diesen) anschaulich machen. Den ersten abgedruckten Text, «Die kinematografische Kultur», veröffentlichte er in der (auch für Linke wie Badiou offenen) katholischen Zeitschrift Vin nouveau; La feuille foudre hieß das maoistische Blatt, in dem 1977 die Kampfschrift «Das revisionistische Kino» gegen Bertrand Tavernier, Louis Malle et.al. erschien. Gegen die sozialistische «Linke», die mit Mitterand an die Macht kam, gründete Badiou mit Freunden die Kulturzeitschrift Le perroquet, und seit den 90ern schreibt er vorzugsweise im vom Kinotheoretiker Denis Lévy hauptsächlich verantworteten Blatt L’art du cinéma.

Das Kino als «siebte Kunst» – das ist nicht nur eine Floskel. Badiou sieht das Wesen des Kinos als Kunst genau darin: dass es nach den anderen Künsten kommt. Aus dem einzigartigen historischen Umstand seines Spät-Dran-Seins resultiert der Charakter des Kinos. Nicht jedoch als Kunst, die die anderen Künste als Meta-Kunst reflektiert, sondern als eine Kunst, die die anderen Künste, die Musik und die Malerei, die Literatur und das Theater in sich aufnimmt. Fast geht Badiou so weit zu sagen: in Gestalt und Form einer Synthese. «Es ist sogar möglich, dass das Kino die anderen Künste rekapituliert und – mit Hegel gesagt – ihren Abschluss verkündet.»

Mit dem politischen und philosophischen Zentralbegriff von Alain Badious Denken verträgt sich eine solche Hegelianische Perspektive auf den ersten Blick wenig. Dieser Zentralbegriff ist der des «Ereignisses», und Ereignis heißt für Badiou: die Möglichkeit eines Bruchs, eines neuen Anfangs unter Voraussetzungen, die im Gegebenen gar nicht zu liegen schienen; das Ziehen radikal neuer Verbindungen aus dem zuvor Unverbundenen heraus, was etwas ganz anderes ist als Erkenntnis und Auflösung eines Widerspruchs in einer Synthese. In einem gegen Ende des Bands abgedruckten Vortrag mit dem Titel «Das Kino als philosophisches Experiment» unternimmt Badiou den Versuch, seine Kinotheorie in seine Ereignisphilosophie zu integrieren – was zwar gelingt, jedoch um den Preis intellektuell etwas grobmotorischer und noch dazu sehr vorhersehbarer Wendungen.

Interessanter und origineller ist die genuin auf das Kino als Kunst gerichtete Theorie Alain Badious. Das Kino ist für ihn, wie gesagt, die Kunst, die dazukommt, die sich nimmt, was ihm die anderen Künste bieten. Konstitutiv für die siebte Kunst ist darum seine «Unreinheit». Darin sieht Badiou alles andere als einen Makel. Ebensowenig darin, dass das Kino von der Musik, der Bildenden Kunst, der Literatur, dem Theater justament das vorzugsweise in sich aufnimmt, was in den anderen Künsten für das große Publikum am zugänglichsten ist: die Narrativierung und Verknüpfung und Spannungserzeugung durch Plots, den auf Identifikation hinarbeitenden Schauspieler, die realistische Darstellung von Figuren in der Welt. Eben darum sei das Kino die einzig verbliebene Kunst, die in ihren Meisterwerken den Massen zugänglich ist. Es gibt keinen noch so bedeutenden Film, so Badiou ganz ausdrücklich, in dem nicht die Spur und ein Rest von Klischee und Kitsch und Trivialem noch anwesend wäre. Das Kino ist, als Paradox formuliert, die Kunst der Ununterscheidbarkeit von Kunst und Nicht-Kunst, die Kunst, in der die Nicht-Kunst nie einfach so bei der Kunst ankommt und in ihr aufgeht und darin liegt für Badiou genau seine Größe. (Eine Konstruktion, die allerdings nur mit einem von Anfang an etwas altmodischen Prä-Pop- Kunstbegriff funktioniert. Keine sensationelle Entdeckung: Badiou ist ein Veteran der Moderne.)

Unter solchen Voraussetzungen, sollte man meinen, zieht es einen Theoretiker Richtung Hollywood. Obwohl jedoch Namen wie Ford oder Hawks durchaus fallen, ist Badiou im Grund seines Herzens und Denkens in Richtung Europa orientiert und da dann auch noch vorzugsweise an den radikalsten Ausfällungen des Autorenfilms interessiert. Er leugnet nicht seine Faszination für Guy Debord, Straub/Huillet, den frühen Wenders oder – bzw. schon gar nicht – Jean-Luc Godard. Allerdings kritisiert er alle zugleich ihres allzu strengen Begriffs vom Kino als Kunst wegen. In Godards Histoire(s) du Cinéma-Geißelung der Geschichte des Kinos, das im Angesicht der Shoah versagt habe, erkennt er einen übertrieben, ja, bei Lichte besehen falschen Anspruch.

Ins Zentrum seiner Beobachtungen rückt Badiou – der dabei komplizierterweise immer formbewusster Modernist bleibt – nicht die avantgardistischen Züge im Werk der Genannten (bei Debord, den er sehr bewundert, reißt es ihn sichtlich beinah entzwei), sondern die Aspekte der «Zeitgenossenschaft» und des steten Bezugs zum Realen. Was für ihn das Größte des Kinos als siebter und demokratischster Kunst ausmacht, ist die Hinwendung zur Gegenwart, ist die prinzipielle Offenheit und Aufnahmefähigkeit für die Bilder, die anderen Künste, die Nicht-Kunst, die Wirklichkeiten, die Tendenzen der eigenen Zeit.

Sehr wohl ist das Kino für Badiou Auftrittsort der Idee; ein Ort und eine Form des Denkens, da ist er – im Prinzip, nicht im Detail – bei Deleuze, aber eben (mit einem Wort, das man bei Badiou nicht lesen wird) in medienspezifischer Weise: Die Idee erscheint – als «Heimsuchung» («visitation») – da, wo das Reale «en situation» auf die Bewegtbildkunst Kino trifft. Im Kino widersetzt sich die Idee jedoch der Verfestigung, passiert, ist passageförmig, tritt momentweise auf, an den Stellen, an denen Elemente anderer Künste und die Wirklichkeit in die Kunst- Nichtkunst Kino übergehen. Das Aufeinander-Treffen, die Passage, die Heimsuchung: das sind die Schlüsselbegriffe von Badious Kinotheorie. Und diese Heimsuchung durch das Reale produziert konsequent flüchtige Präsenzen. Genau darum beklagt sich Badiou auch nicht über die Art, in der ihn Godard in Film Socialisme flüchtig, sehr flüchtig auftreteten lässt. Exemplarisch sieht Badiou da, wo er persönlich das Kino heimsucht, dessen passageres Wesen vielmehr erscheinen: «Ich existiere für mich, durch mich, auch wenn ich kaum existiere, da er nach drei Drehwochen nur zweimal ein paar Sekunden meiner Präsenz bewahrt hat… Und doch, da ist mein Ort, da existiere ich, da ist meine Wahrheit.»

Alain Badiou: Cinéma. Nova editions 2010