Die Patriotin Der chinesische Regisseur Jia Zhangke trifft in Toronto und Vancouver auf Landsleute in der Diaspora, die sehr um das Bild von ihrer Nation besorgt sind – ein Festivalbericht der besonderen Art, mit einer historischen Traumsequenz
Im September war ich in Toronto, um die Nordamerika-Premiere von I WishI Knew zu besuchen.
Ich bin oft zuvor in Toronto gewesen, bin aber mit der Stadt selbst wenig vertraut. Manchmal muss ich stehenbleiben und mich der Richtung vergewissern, indem ich den CNTower orte, hoch in den Wolken, weit in der Ferne. Mit der Unsicherheit ist es schlagartig vorbei, sobald ich in Torontos Chinatown bin. Hier kenne ich jedes Restaurant, jedes Teehaus. Ich kann sogar ein bisschen auf Kantonesisch mit den Kellnern plaudern.
Kaum etwas wird man schwerer los als seine Ess- und Trinkgewohnheiten. Als erstes suche ich mir, wenn ich in einer unbekannten Stadt in Europa oder Nordamerika ankomme, immer ein chinesisches Restaurant, das mir gefällt. Ich liebe sehr kantonesische Dim Sum, deshalb gehe ich jeden Morgen in Toronto zum Restaurant Golden Country. Im Erdgeschoss kaufe ich einen Packen chinesischer Zeitungen, dann setze ich mich und lese darin, während ich Jasmintee trinke und gedämpfte Teigtaschen esse. Die Besucher des Restaurants werden mit jedem Jahr älter, aber wenn ich mit diesen alten kantonesischen Damen und Herren mit ihren hohen Wangenknochen und dunkler Haut zusammensitze und die politischen Essays in Min Pao und Sing Tao Daily lese, könnte ich glücklicher kaum sein. Die nordamerikanischen Ausgaben der Tageszeitungen aus Hongkong sind dasselbe Durcheinander von Themen, das sie immer schon waren. Die Hintergrundgeschichten darüber, mit welchem Politiker es gerade aufwärts geht, mit welchem bergab, wer vor Gericht verurteilt wird, wer davonkommt, wer ins Exil muss und wer deportiert wird: all das steht da zu lesen, schwarz auf weiß. Das Aroma von Druckertinte, das diesen dünnen weißen Seiten entströmt, ist der Beleg für die Freiheit der Presse, nach der wir uns sehnen.
Dieses Stück altes Chinatown ist inzwischen wirklich etwas wie eine Welt der Senioren. Ihre Gesichter zeigen die Spuren der Planwirtschaftsära, man liest ihrem Ausdruck den materiellen Mangel noch ab. Ihre Kinder andererseits, diese großartigen jungen Chinesen, sprechen selbstverständlich Englisch, wenn sie in ihre IT-Firmen oder Forschungsinstitute eintreten mit dem Traum, der nächste Li Kaifu [Gründungspräsident von Google China] oder Robin Li [CEOdes chinesischen Google-Pendants Baidu] zu werden. Ihre Eltern sind über die Weltmeere gesegelt. Jetzt, im Ruhestand, ist es ihnen noch immer ein Vergnügen, ihre Energien ins Wohl der Nachkommen zu investieren. Diese Sorte chinesischer Familie ist in Nordamerika sehr weit verbreitet. In der Chinatown von Toronto sieht man – und die in letzter Zeit wachsende Zahl vereinfachter chinesischer Schriftzeichen vom Festland passt dazu – immer mehr Neuankömmlinge mit diesen Planwirtschaftsgesichtern. Aber wohin sind all die jungen Menschen verschwunden?
Die jungen Menschen sind dabei, aktiv mit der Gesellschaft vor Ort zu verschmelzen. Im neu eröffneten Bell-Lightbox-Gebäude des Toronto International Film Festivals waren fast alle Chinesen, die ich dort traf, Mitglieder der «neuen Jugendgeneration». Sie kamen aus allen Ecken der Stadt und strömten in dieses Kino. Ginge man nach der Wahl ihrer Kleidung, könnte man diese jungen Chinesen kaum von der zweiten Generation japan- und koreastämmiger Kanadier unterscheiden. Man kann sich kaum sicher sein, dass sie wirklich von diesen alten Herrschaften abstammen, die mit ihren Einkaufstüten in Chinatown unterwegs sind.
Ich machte mich weit vor Beginn der Vorstellung von I WishI Knewin Richtung Kino auf. Am Eingang traf ich auf auf ein paar Landsleute mit Kameras auf ihren Schultern. Es handelte sich um Journalisten der Xinhua News [der staatlichen chinesischen Nachrichtenagentur]. Aus dem Gespräch mit ihnen erfuhr ich, dass Xinhua gerade dabei ist, Büros in vielen Städten der Welt zu eröffnen und die Nachrichtenformate im Fernsehen auszuweiten, mit dem Ziel, eine Art chinesisches CNNaufzubauen. Sanfte Macht braucht ausländische Angestellte: Man sieht inzwischen oft Ausländer als Teil der Nachrichtenteams von Xinhua. Es zeigt sich, dass die ökonomische Entwicklung in China auch Ausländer zur tiefen Verneigung veranlassen kann. Diese ausländischen Angestellten scheinen sogar ganz genau zu wissen, welche Fragen man stellen darf und welche nicht. Vielleicht nehmen sie sogar an den wöchentlichen offiziellen Nachrichtenkonferenzen teil. Ihre Fragen drehen sich fast ausnahmslos um den Einfluss Chinas in der Welt: Wie sehen Sie den Einfluss des chinesischen Kinos in der Welt? Warum, glauben Sie, begeistert sich der Westen so sehr für die chinesische Kultur? Um die Wahrheit zu sagen: Diese Sorte Fragen ist eine subtile und implizite Einladung, zu einem «harmonisierten» Gesamtbild seinen Beitrag zu leisten, in dessen Rahmen deine eigenen Filme als Beleg für den rasanten Aufstieg einer großen Nation dienen. Das ist mir in Wahrheit außerordentlich peinlich. Ich weiß, dass die einzige Antwort auf die Frage zu Chinas in Wirklichkeit eher geringem Einfluss auf andere Kulturen eigentlich die Finanzierung eines chinesischen Filmfests in Hollywood sein müsste oder die Veranstaltung einer «China-Nacht» mit großem Begleitfeuerwerk auf einem der bedeutenden westlichen Filmfestivals.
Dann war es endlich soweit, dass ich auf die Bühne musste, um vor der Vorführung ein paar Worte über I WishI Knew zu sagen. Ich war ziemlich stolz, als ich sah, dass das Theater voll war. Etwa zur Hälfte sah ich asiatische, zur anderen westliche Gesichter: so präsentiert sich die Einwandererkultur von Toronto. Ich sagte das Folgende: Dieser Film ist die Erinnerung an eine Stadt, aus privaten Erzählungen erbaut. Er enthält viele Interviews: Ich musste Menschen finden, die an diesen historischen Ereignissen tatsächlich teilgenommen haben, und ihnen dann bei ihren detaillierten Lebensberichten aufmerksam zuhören. Nur auf diese Weise kann man Geschichte verstehen. Für mich jedenfalls bleibt eine Geschichte ohne Details nur abstrakt.
Die vom Festival gestellte Übersetzerin stammte ursprünglich aus Tianjin, China. Sie war mit acht Jahren nach Kanada ausgewandert und dort aufgewachsen. Das umgangssprachliche Chinesisch der Übersetzerin war exzellent. Allerdings hat man mir in der Schule sehr früh einen formelleren Sprechstil im Chinesischen beigebracht. Das machte der Übersetzerin ein paar Probleme. Als ich sagte, «eine Geschichte ohne Details ist nur abstrakt», fand sie nicht gleich die ganz adäquate Übersetzung und sagte, «eine Geschichte ohne Details ist unklar». Darauf kam es zu einem völlig unerwarteten Eklat. Im Publikum saß eine junge Chinesin, sicher nicht älter als Mitte zwanzig. Sie sprang auf, unterbrach mich und erklärte mit lauter Stimme: «Diese Übersetzerin verdreht die Worte des Regisseurs!» Auf einen Schlag wurde es sehr still im Saal: alle waren verblüfft und starrten in Richtung der Frau. Sie wechselte plötzlich ins Englische, übersetzte, was sie gesagt hatte, dann ins Chinesische: «Der Regisseur hat gesagt, dass Geschichte abstrakt ist, aber die Übersetzerin hat daraus absichtlich ‹Geschichte ist unklar› gemacht. Das westliche Publikum muss dann denken, dass China die Geschichte nicht schätzt, dass da alles konfus ist. Ich erkenne ein ganz eindeutiges Motiv: Es geht darum, China herabzuwürdigen!» Nun starrte ich meinerseits sprachlos in ihre Richtung und fühlte mich plötzlich völlig unfähig, zwischen den Bedeutungen von «abstrakt» und «unklar» zu unterscheiden. Das lag daran, dass mich zugleich eine andere Frage bewegte: Ist es wirklich notwendig, einen Übersetzungsfehler als absichtliche Herabwürdigung Chinas zu kritisieren?
Als ich kurz darauf von der Bühne ging, packte mich diese Frau plötzlich und sagte in erregtem Ton: «Die Übersetzerin kommt aus Taiwan, nicht wahr? Sie muss eine Taiwanesin sein, sonst hätte sie nicht absichtlich verdreht, was Sie sagten. Wer China so schmäht, muss ein Anhänger der Unabhängigkeit Taiwans sein.» Ich antwortete: «Keineswegs. Die Übersetzerin kommt aus Tianjin.» Sie blickte starr, wie betäubt und rannte nach diesem kurzen Innehalten hinüber zum in der Nähe herumstehenden Reporter der Xinhua-Nachrichtenagentur. Den Blick direkt in die Kamera gerichtet, sagte sie: «Die Übersetzerin hat gerade die Rede des Regisseurs verfälscht. Vor westlichem Publikum behauptete sie, dass das chinesische Volk die Geschichte nicht achtet und dass die chinesische Geschichte unklar ist. Sie müssen diesen Vorfall publik machen.»
Ich kam mir vor wie ein unfreiwilliger Zeuge eines Verbrechens. Wenn jemand die Mindestregeln menschlichen Anstands verletzt, gegen den fundamentalen Respekt für die Wirklichkeit verstößt und alle Realitäten im Namen einer nicht existierenden «Würde» ausblendet, handelt es sich dann wirklich um Patriotismus chinesischen Stils? Ich war auch schockiert über die Jugend der Frau. Wie gelangt eine in Nordamerika lebende Chinesin zu einem solch tiefen Glauben an den Nationalismus und einem dermaßen schwachen Glauben ans eigene Land?
Ausgerechnet in Nordamerika, nicht in Peking, habe ich das Pech, an eine junge «Patriotin» zu geraten.
Anfang Oktober flog ich von Hongkong nach Vancouver, wo ich in die Jury des Dragons-and-Tigers-Wettbewerbs eingeladen war. Ich war zwölf Jahre lang nicht in Vancouver gewesen. Gelegentlich hörte ich in den Nachrichten etwas über die Stadt, meistens über Lai Changxing [den flüchtigen chinesischen Geschäftsmann, dessen Auslieferung aus Kanada die chinesische Regierung fordert]. Ich weiß nicht, ob Herr Lai, der in dieser Einwandererstadt zu überleben versucht, hier genauso gut schläft wie in Xiamen, China. Vancouver ist zum ständigen Aufenthaltsort chinesischer Flüchtlinge geworden, ein Paradies der Reichen – ein ferner Ort, auf den sich die Fluchtpläne gieriger und korrupter Beamter richten.
Im Flugzeug lese ich Apple Daily [das Boulevardblatt aus Hongkong], in dem sich ein ganzseitiger Bericht über das Diaoyu-Insel- Problem findet: China rächt sich an Japan durch die Verweigerung knapper Metalle; die Jugend protestiert in Chengdu. Japan ist der gewissenlose Bandit, der sich dem chinesischen Volk auf dem Weg in Richtung Modernisierung in den Weg stellt. Die Kontroverse um die Diaoyu-Inseln macht die Erinnerung an Chinas Demütigung seit der letzten Qing-Dynastie wieder lebendig. Ich lese auch Einschätzungen zur relativen Stärke der chinesischen im Verhältnis zur amerikanischen und japanischen Marine. Im selben Blatt gleich zwei Artikel zum selben Thema: der eine meint, dass die Volksbefreiungsarmee einen Krieg bestehen könnte; im anderen heißt es, dass sie, basierend auf der Einschätzung ihrer aktuellen Stärke, ihre Einsatzfähigkeit eher verbirgt und auf den richtigen Moment wartet. Die Lektüre verwirrte mich, also schlief ich, ganz wirr im Kopf, ein.
Wir landeten in Vancouver, und ich hörte eine Ansage auf Kantonesisch in der Ankunftshalle. Da wurde mir warm ums Herz. Abgesehen von Hongkong scheint Vancouver der einzige Ort auf der Welt, dessen Flughafen diesen Service bietet. Viele Menschen aus Hongkong sind hierher emigriert, insbesondere vor 1997. Es gibt ein berühmtes Restaurant hier mit dem Namen «Tsui Hang Village». Sun Yat-Sen führte ein unstetes Leben; es scheint, als hätte sich der Name seiner Heimatstadt, Tsui Hang Village, in alle Ecken der Erde verbreitet. Die Winterspiele hatten offenbar gewaltige Auswirkungen auf Vancouver: Es gibt so viele Neubauten. Aber das Hotel, in dem das Festival seine Gäste empfängt, ist so komfortabel wie eh und je. Kaum hatte ich mein Zimmer betreten, schlief ich schon ein, in voller Montur.
In der Nacht hatte ich dann einen Traum. Ich träumte vom Wukesong-Stadion: eine riesige Versammlung fand darin statt. Hat Peking ein Wukesong-Stadion? Ich weiß es nicht, in meinem Traum jedenfalls schon. Leider handelte es sich um eine Versammlung japanischer Besatzungsstreitkräfte. In meinem Traum war Peking aufs Neue von der japanischen Armee besetzt. Eine Gruppe chinesischer Prominenter war draußen vor dem Stadioneingang versammelt. Die Truppen im Innern waren sehr still: nichts zu merken von der gewöhnlichen Lebendigkeit eines Stadions. Ich blickte vom Eingang aus ins Innere. Viele Sitzreihen waren gefüllt mit japanischen Soldaten, die mit fremdartigen Messern in der Luft herumfuhrwerkten. Auf den leeren Sitzen neben ihnen sah man Namensschilder, ich konnte die Namen von [Nachrichtensprecher] Bai Yansong, [der Fernsehmoderatoren] Shui Junyi und Liang Wendao, [des Malers] Chen Danqing, von Zhang Yimou, Zhang Ziyi, [des Komikers] Guo Degang erkennen … Und als ich näher hinsah, erkannte ich, verdammt, meinen eigenen Namen. Das Stadioninnere war voller holzgeschnitzter Kirschblüten und ich hörte unvertraute Militärmusik. Wir waren hier gemeinsam zusammengedrängt: zu Tode erschreckte sogenannte Intellektuelle in einem besetzten Land. In diesem Moment blies ein Soldat in eine Trillerpfeife und befahl uns, das Stadion zu betreten. Eine Gruppe am Eingang litt entsetzliche Qualen. Der Traum-Jia-Zhangke sagte zum realen Jia Zhangke: «Wenn du auch nur einen Schritt ins Innere tust, wirst du dich in den [infamen Kollaborateur mit den Japanern im Zweiten Weltkrieg] Zhou Zuoren, in den [Schriftsteller und Kollaborateur] Hu Lancheng verwandeln. Du wirst ganz genauso werden wie diese Verräter einer älteren Generation. Willst du diesen Schritt wirklich tun?» Eine solche Beklemmung wie in diesem Moment habe ich noch niemals erlebt. Ich erwachte sehr plötzlich und stellte fest, dass mir die Tränen die Wangen hinunterliefen.
Obwohl ich natürlich wusste, dass das nicht mehr als ein Traum war, fühlte ich mich dennoch äußerst beschämt. Sich gezwungen zu fühlen, auf Befehl eines Fremden eine solche Entscheidung zu treffen, ist eine kaum erträgliche Demütigung. Ist das die Beklemmung, die uns die chinesische Geschichte vererbt?
Draußen wird es hell; ein neuer Tag beginnt. Ein Freund berichtet mir, dass die chinesischen Festivalgäste einen gemeinsamen Sightseeing-Ausflug unternehmen. Ich stieg in den Bus, erkannte jedoch niemanden. Waren diese Menschen alle Filmemacher? Es sah nicht so aus. Es schien sich um einen Ausflug zu handeln, den das Festival gemeinsam mit dem örtlichen Reisebüro veranstaltete. Der Bus war voll mit «Filmproduzenten». Er fuhr direkten Wegs in Villenviertel in den Hügeln von West-Vancouver, und die Filmproduzenten verwandelten sich auf der Stelle in Immobilienkäufer vom chinesischen Festland. Sie stellten sehr detaillierte Fragen zu Preisen und rechtlichen Formalitäten. Es war ihnen ernst, sie hatten Cash in der Hand, bereit, die Gelegenheit auf der Stelle zu nutzen. Ich bin nicht ganz sicher, ob dies das perfekte Beispiel für den plötzlichen Aufstieg einer großen Nation ist. Wenn du genug Geld hast, kannst du, wie es scheint, alles auf der Welt kaufen. Der Markt ist zum einzigen Beurteilungsmaßstab in China geworden. China hat als Volk nur noch eine einzige Identität: die des Käufers. Wir sind nichts weiter als die Kunden der Welt: was freilich beweist, dass wir in Sachen Kultur noch sehr weit davon entfernt sind, ihre Herren zu sein.
An diesem Abend zeigte das Festival I WishI Knew. Vor dem Beginn der Vorführung betrat eine 90jährige Dame aus Shanghai den Saal. Ich erfuhr, dass sie Shanghai nach 1949 nie wiedergesehen hatte. Nach Ende des Films beobachtete ich, wie sie von ihren Verwandten im Rollstuhl aus dem Kino gebracht wurde. Ich wagte es nicht, sie anzusprechen. Ich wäre unfähig gewesen, ihre Reaktion auf Shanghai und den Film anzuhören. Sie verließ ihre Heimatstadt vor sechzig Jahren, und heute sah sie endlich das Shanghai unserer Tage: Was hätte sie mir gesagt? Die Wiederbegegnung nach so langer Trennung muss außerordentlich schwierig gewesen sein.
In der Lobby sprach mich dann eine rund zwanzigjährige, recht schüchtern wirkende Frau an: «Herr Regisseur, ich möchte Ihnen eine Frage stellen, die Sie nicht glücklich machen wird. Warum zeigen Sie in ihrem Film dem Westen ein so schmutziges Shanghai und so politisierte Figuren?» Ich antwortete: «Ich filme das reale Shanghai. Jenseits der Pudong- und Huaihai-Straße gibt es in Shanghai auf beiden Seiten des Suzhou-Flusses Industriezonen: Es finden sich da im Südteil der Stadt kleine, enge Gassen. So sieht das Leben dort aus. Und so sieht Shanghai wirklich aus.» Unvermittelt wurde die Frau wütend: «Aber haben Sie denn nicht bedacht, wie Ihr Film für Ausländer aussieht? Wie es ihren Eindruck von Shanghai und von China beeinflussen wird? Welche Auswirkungen wird das auf jene haben, die gerne in China investieren wollen?» Jetzt wurde auch ich wütend: «Was sollen denn diese ganzen Sorgen um Ausländer? Sollen wir das, was existiert, aus Sorge um schlechte Eindrücke und ein paar möglichen Investitionen zuliebe ignorieren? Die riesige Mehrzahl der 1,3 Milliarden Chinesen lebt noch immer in derselben Armut, in der sie immer gelebt haben. Wie können wir das denn ignorieren?»
Nach einem kurzen Moment des Schweigens lächelte die Frau verächtlich und antwortete: «Natürlich sollten wir das ignorieren. Um der Würde unseres Vaterlandes willen sollten wir auf gar keinen Fall die Lage dieser Menschen beschreiben.»
Das brachte mich zum Schweigen. Mir war auf einen Schlag die Logik dieser «Patrioten» klar geworden.
Dieser sogenannte Patriotismus beruht auf nichts weiter als einem auf Illusionen gebauten Nationalbewusstsein. Er kümmert sich nicht um das Schicksal der wirklichen Menschen. Genau daraus besteht dieser von wem auch immer geförderte, deformierte Patriotismus. Ein vom Humanismus abgetrennter Patriotismus ist etwas Furchterregendes. Ein Patriotismus, der die Rechte des Individuums nicht achtet, ist autokratisch. Diese Sorte «Patriot» ist in Wahrheit ein «patriotischer Verräter». Wenn die chinesische Zivilisation kollektiv unsere sozialen Probleme ignoriert, wenn unsere Kultur nicht in der Lage ist, die genuinen und innersten Probleme zu reflektieren, was ist für unser Land denn dann zu erwarten? Wenn das «Patriotismus» ist, dann ist es gut möglich, dass wir zu Sklaven dieses «Patriotismus» werden.
Heute nutzen wir das Kino, um das zu beschreiben, was nicht zu ertragen ist. Das könnte tatsächlich ein möglicher Weg für das Kino sein: eine Art Transformation der Gesellschaft zu fordern. Wenn jeder nur ein simuliertes Bild von Frieden und Wohlstand präsentiert, dann werden wir vielleicht eines Tages unter Waffengewalt gezwungen, ins Wukesong-Stadion zu marschieren und uns vor die Wahl, die unerträgliche, aber seltsam vertraute Entscheidung gestellt sehen, vor die ich mich in meinem Traum gestellt sah.
Übersetzung von Ekkehard Knörer (nach der ins Englische übertragenen Fassung, die Shelly Kraicer für die Zeitschrift Cinema Scope (Issue 45) angefertigt hat).