Als wir frei waren Zu den frühen Filmen des Schweizer Filmemachers Michel Soutter
Michel Soutter (1932-1991), hierzulande so gut wie unbekannt, hat in der Romandie ab 1965 jene Filme gemacht, die den «Neuen Schweizer Film» eingeleitet haben: während in der Deutschschweiz der Dokumentarfilm Siamo Italiani von Alexander J. Seiler 1964 das Datum setzte, waren das in der Welschschweiz Spielfilme wie La Lune avec les dents (1966), Haschich (1967), La Pomme (1968), James ou pas (1970), Les Arpenteurs (1972) von Soutter. In zwei DVD-Veröffentlichungen sind diese frühen Filme, die selbst in der Schweiz kaum je zu sehen waren, nun wieder zugänglich gemacht worden: Die ersten vier Langfilme werden in einer Edition auf vier DVDs deutsch und englisch untertitelt mit vielen Zusatzmaterialien vorgestellt (darunter auch der halbstündige Kurzfilm Mick et Arthur von 1965, Dokumentationen über René Char und Les Metiers de la Banque), während Les Arpenteurs zusammen mit Signé Renart (von 1985) deutsch, englisch und spanisch untertitelt auf zwei DVDs (wiederum mit Zusatzmaterialien, etwa Une manière de faire, einer 55minütigen Dokumentation über Soutter von 2003) herausgekommen ist.
Die Produktionsweise der ersten Langfilme von Michel Soutter ist deshalb bemerkenswert, weil es das sonst kaum je in dieser Form gegeben hat: sie beruht nämlich auf einer Vereinbarung mit der Télévision Suisse Romande. Soutter, der bereits seit 1961 Mitarbeiter des kleinen, noch in seinen Anfangsgründen steckenden Senders in Genf war, schlug Direktor René Schenker (einem früheren Violinisten) ganz einfach vor, eine Koproduktion mit einer Gruppe von Leuten einzugehen, die Filme für wenig Geld (50 bis 60 000 Schweizer Franken) herzustellen in der Lage waren und dafür das Recht erhielten, sie zwei Jahre im Kino auszuwerten. Da dieser Vorschlag dem Sender günstig erschien (die Herstellung der im Haus produzierten dramatiques war sehr viel teurer), kam es zu diesen mit leichtem Equipment realisierten Filmen und deren Vorankauf. Damit war zugleich das Produktionskollektiv – Le Groupe 5 – aus der Taufe gehoben, dem neben Michel Soutter Alain Tanner, Claude Goretta, Jean-Louis Roy und Jean-Jacques Lagrange angehörten. Als Les Arpenteurs 1972 in Cannes gezeigt wurde und die Télévision Suisse Romande einen Beitrag über dieses Ereignis drehte (zu sehen in Les Archives de la TSR), hob Soutter nochmal die Nützlichkeit dieses Kontrakts hervor und sprach sogar vom Sender als einer «Filmschule» (im Gegensatz zu Frankreich etwa). Gefragt, ob seine Karriere damit lanciert sei, antwortete er: «Meine Karriere interessiert mich nicht, was ich möchte, ist, mein Metier fortsetzen.»
Es war nun keineswegs so, dass diese Filme damals begeistert aufgenommen worden wären – die Filmkritiker der maßgebenden Tageszeitungen der Romandie machten sie vielmehr runter, sprachen von «Ungeschick», «Langeweile»‚ «Schwarzmalerei» und «Nihilismus». Nur Freddy Buache, der der Cinémathèque suisse vorstand (von 1951 bis 1996) und auch Journalist bei der Tribune de Lausanne war, machte sich zum Supporter der Filme und unterstützte die Filmemacher, wo er nur konnte. Michel Soutter erinnerte sich in einem Text von 1988 an die Atmosphäre beim Festival in Locarno: La Lune avecles dents sei heftig ausgebuht worden, er sei stehend k.o. gewesen, und im darauf folgenden Jahr habe man Haschich mit «eisigem Schweigen» aufgenommen. Dankbar erinnert er sich der wenigen Unterstützer aus der damaligen Zeit, eben an Buache und dessen Frau, die zusammen mit Glauber Rocha im Kino neben ihm saßen, und an Michel Cournot, der über Haschichund die folgenden Filme schrieb und gewissermaßen den Weg nach Paris ebnete. (Cournot, der 1968 mit seinem Film Les Gauloises bleues herauskam, war ab 1964 Kritiker beim Nouvel Observateur, ab 1973 bei Le Monde.)
Alain Tanner war es dann beschieden, dem «Neuen Schweizer Film» zum Durchbruch und zur Anerkennung zu verhelfen: zuerst mit Charles mort ou vif, der 1969 in Locarno den Goldenen Leoparden erhielt (in der Hauptrolle François Simon, der Sohn von Michel Simon), und seinen weiteren, von ’68 imprägnierten Filmen, die auch in Westberliner Off-Kinos liefen und bei der Linken Anklang fanden.
Vielleicht kann man die frühen Soutter- Filme tatsächlich «nihilistisch» nennen – aber nur, wenn man vom quasi «offiziösen» Standpunkt aus redet: sie wenden sich ja wirklich gegen das allzu Gutsituierte der Schweiz, die Fassade der Wohlanständigkeit und das bürgerlich Konservative, die «wattierte» Kommunikation, durch die schon lange kein frischer Windstoß des Widerspruchs mehr gefahren ist. Gegen die «Sauberkeit und Ordnung», die da herrscht und in der sich die Mehrheit anscheinend wohlfühlt, gegen den Beton der Verhältnisse also, hilft nur die manchmal blindwütige Rebellion – wie die von William Wissmer in La Lune avec les dents, der so «wüst» lebt, dass es wohl kaum geschauspielert sein kann. Eine Person, die sozusagen mit jeder Pore ihres Körpers den Abscheu vor der Gesellschaft, in der sie lebt, ausdrückt – mit einer Tendenz des Sich-zugrunde-Richtens. (William Wissmer hat später Selbstmord begangen.)
In Haschich gibt es auch dieses ziellose, banale Vor-sich-hin- Leben, den Wunsch abzuhauen – aber während der eine das Auto für die Abreise herrichtet, verliebt sich der andere in die Schauspielerin, die da aus Paris ankommt und mit der zusammen er Theater spielen soll. Die da ankommt, ist Edith Scob – deren Gesicht und deren Figur ja auf ziemlich mysteriöse Weise durch die europäische Kinogeschichte geistern. Hier also in Szenen, in denen man sie gewiss selten gesehen hat: einer nach Art der Nouvelle Vague behandelten Liebesgeschichte. Dass es also (eben deswegen) dann doch nicht zur Abreise kommt, nimmt ein Thema vorweg, das im welschschweizerischen Kino – vor allem auch bei Tanner (bis hin zu Messidor) – außerordentlich wichtig werden wird: die Landesgrenze nicht überschreiten, am Ort bleiben, es dort aushalten, anders zu leben versuchen.
Dieser Ansatz ist auch in La Pomme vorhanden – und wird gleich am Anfang mit dem Schreckensszenario verbunden, dass es mit dem Leben, so wie es ist, so weitergehe, bis man sechzig sei (vorausgesetzt man erreiche dieses Alter). Was tun? Wie es anstellen, dass man von jetzt auf gleich anders lebt und ein neues Leben beginnt? Der Film im folgenden ist dann allerdings fast ein Dementi dieser Frage, zeigt er doch vor allem Figuren, die im «Alten» drinstecken und nicht so richtig daraus herauskommen. Irgendwie scheint es, als ob diese Verhaftung auf die Haltung des Films selbst abgefärbt habe (auch das Anfangsstatement am Flughafen klingt fast ein bisschen weinerlich), immerhin ist er ja im Jahr 1968 rausgekommen. Die Mutlosigkeit liegt bei den Männern: Simon, der Künstler, der einen Brotjob bei der Zeitung macht, kann sich nicht für Laura entscheiden, obwohl die nur seinetwegen hergereist ist und sich mit ihm (ihrer ersten Liebe) zusammentun will. Durch diese Unentschlossenheit treibt er sie in die Arme eines Journalisten und rastet erst ein bisschen aus, als er vor dem fait accompli steht. Da der Journalist ein Bauernhaus bewohnt, gibt es hier einen interessanten Wechsel von Stadt und Land – wie überhaupt in dieser Zeit und in diesen Filmen die Stadt noch nicht in komplettem Gegensatz zum Land zu stehen schien. Ein bisschen Aufmunterung (durch Komik) erfährt der Film nur durch eine Szene am Anfang, als der Gasmann frühmorgens an der Wohnungstür klingelt, den Zähler abliest und gar nicht mehr gehen will, seine Nase in die ihm fremden Angelegenheiten steckt.
In James ou pas bewegen sich die Protagonisten wie in einem Gespinst aus Lügen und Halbwahrheiten – wollen nicht zu viel preisgeben von sich, hegen ständig irgendwelche Hintergedanken oder hecken etwas aus, was dann nicht so richtig aufgeht. Wieder einer, der irgendwo andockt – Hector ( Jean-Luc Bideau) fährt mit seinem Taxi übers Land, hört einen Schuss, hält an, sieht eine Gestalt im hellen Regenmantel davoneilen, geht hinterher, kommt in eine Ansammlung von Häusern und wird an ein herrschaftliches Haus verwiesen, wo der Hausherr, mit dunkler Brille – der James des Titels –, ihn hereinbittet, weil ihm Gesellschaft anscheinend ganz recht ist. Nachdem eine Dame vom Flughafen abgeholt worden ist, die James, der allein in dem großen Haus lebt, durch das Wochenende begleiten soll, landet Hector mit den beiden bei sich zu Hause an (telefonisch hat er zuvor seinen Freund Narcisse und seine Freundin gebeten, das Feld zu räumen). Man fragt sich nur wozu: es wird Musik aufgelegt und Wein getrunken, und dann muss James nach Hause gefahren werden, weil er plötzlich unpässlich ist und sogar hinfällt. Währenddessen verführt Hectors Freundin Narcisse (Jacques Denis), was der Hector beim ersten Wiedersehen sofort beichtet, ohne dass irgendeine Regung zurückkäme. Am Ende liegt James erschossen in einem Graben zwischen Feld und Wald, ein Polizist steckt Banknoten aus dessen Brieftasche in seine eigene Tasche. Die Aleatorik dieser Handlungsfragmente, die Merkwürdigkeiten und Unklarheiten hervorbringt – oder kommt es vielleicht eher auf die Örtlichkeiten an? –, mag fast ein bisschen verstimmen. Da der Film dies jedoch billigend in Kauf nimmt, sagt man sich: so offen, wie es den Anschein hat, ist James oupas gar nicht, er ist sogar ziemlich hermetisch.
Mit Les Arpenteurs von 1972 nimmt Soutter Elemente aus den voraufgegangenen Filmen auf, schließt sie auf wundersame Weise zusammen und macht daraus ein kleines Juwel. Der Film ist von der Konzeption her durchkomponiert, es konnte da keine Abweichungen geben, das Ganze funktionierte nur, wenn die Dialoge genauso gesprochen wurden, wie sie im Drehbuch standen. Ich bin versucht zu sagen: eben dies ermöglicht – ist eine Art und Weise –, einen bestimmten Ort, bestimmte Menschen, eine bestimmte Zeitstimmung ins Bild zu setzen, mithin all das, worum man sich nicht kümmern kann, von außen her eindringen zu lassen. Michel Soutter hat das selbst angesprochen: «Les Arpenteurs ist ein Film, aber das ist auch eine Epoche – jene, wo wir frei waren, Filme zu fabrizieren nach Art des Hauses. Heute beherrschen die Gespenster (fantoches) der Kunst die Szenerie, was zu inhumanen Filmen führt. Les Arpenteurs ist ein humaner Film. Meine Landvermesser sind Menschen, die mit großen Schritten zwischen Häusern, Menschen und Gefühlen hin und her schreiten.»
Das ist auch eine Epoche, wo – noch – eine bestimmte Vergangenheit aufgehoben war: Soutter hat als Hauptdrehort drei zusammenhängende Landhäuser gewählt, die in ihrem kleinteilig Angelegten und Heimatlichen den Anschein des sehr Alten und Gelebten haben, ein Ort, wo, wie im 19. Jahrhundert, noch Hausmusik gemacht wird. Léon «Löwenherz» ( Jean-Luc Bideau) vermisst in der Umgebung mit einem Assistenten das Land und gerät über Lucien ( Jacques Denis), der ihm in einer Kneipe seine Mütze schenkt und ihn mit abgeernteten Krautstielen zum Haus von Alice Taillefer (Anne Dubois) schickt, in den Bann von zwei Frauen – denn er hält Ann (Germaine Tournier), die ihn da hereinlässt und einlädt (das Missverständnis beim Schopf packend), mit ihr zu schlafen, für Alice. Diese simple Ausgangsposition setzt – nachdem Ann verschwunden ist – einen feingewirkten Mechanismus in Gang, der die Dinge emotional und sinnlich auflädt und eine irgendwie rätselhafte und schöne Komplexität entstehen lässt. (Die vergessenen oder verlegten Gegenstände – der Gemüsekorb, das Feuerzeug, die Brille, der Pelzmantel – wirken darin wie Scharniere.) Das Rätsel scheint mit diesem Ort auf dem Land verbunden zu sein, seiner Aura von etwas Fernem und Frühem – die hier jedoch ganz nah ist und fast greifbar scheint, gegenwärtig wie die Person von Alice Taillefer selbst, die durch den Handlungsverlauf in eine ebensolch unbestimmbare Nähe und Ferne gerückt ist. Das «Missverständnis» hat einen Moment lang wie einen Ausblick auf ein anderes Leben eröffnet, Sehnsüchte und Begehren geweckt – die dann in der «Verkehrung» (im normalisierten Alltag) im Zaum gehalten sind, nur noch unter der Oberfläche wuchern. Zugleich ist aber der «Auslöser» – der Landvermesser – der Vorbote der Zerstörung: er vermisst ja die Gegend (wie er bei seinem Abgang lautstark kundtut), weil hier eine Autobahn vorbeiführen soll, der das Idyll der Landhäuser zum Opfer fallen wird.
Die ersten vier Langfilme von Michel Soutter: La lune avec les dents (1966, 78 Minuten), Haschich (1967, 80 Minuten), La pomme (1968, 98 Minuten), James ou pas (1970, 88 Minuten). Alle Filme schwarz/weiss, 16mm auf 35mm aufgeblasen. Mit vielen Zusatzmaterialien (Doriane Films, Paris; www.dorianefilms.com). Zwei Filme von Michel Soutter: Les Arpenteurs (1972, schwarz/weiß, 16mm auf 35mm aufgeblasen, 90 Minuten), Signé Renart (1985, 35mm, Farbe, 95 Minuten). Mit vielen Zusatzmaterialien (Doriane Films, Paris; erhältlich auch über artfilm.ch)